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Laudatio zur Verleihung des Hans-Litten-Preises der VDJ

DER ANWALTLICHE NOTDIENST ZUM G20-GIPFEL IN HAMBURG

Marcus Mollnau

Für die große Ehre, bei der heutigen Verleihung des Hans-Litten-Preises an den Anwaltlichen Notdienst zum G20-Gipfel in Hamburg die Laudation halten zu dürfen, danke ich der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen.
 Die heutige Preisverleihung erfolgt wenige Wochen vor dem 10. Dezember 2018. An diesem Tage jährt sich zum 70. Mal die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen. Die Anerkennung der Menschenrechte – so heißt es in der Präambel – ist die Grundlage der »Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt«. Und zu einem der Menschenrechte erklärt Artikel 20 die Versammlungsfreiheit: »Jeder Mensch hat das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit zu friedlichen Zwecken«.
In der Presseerklärung der VDJ zur heutigen Preisverleihung heißt es zur Begründung unter anderem, dass die VDJ mit der Preisverleihung die Verdienste des Anwaltlichen Notdienstes für die offensive Verteidigung des Versammlungsrechts und das konsequente Eintreten für das Recht auf angemessene Verteidigung würdigen wolle.
 Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer Rechtsstaat; er entstand – wie es in der Präambel zum Grundgesetz heißt – »in Verantwortung vor Gott und den Menschen« gerade auch infolge der durch den deutschen Faschismus verübten Barbarei und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Einen ›besseren‹ Rechtsstaat gab es bisher auf deutschem Boden nicht, auch im internationalen Maßstab kann das deutsche Modell als Blaupause und Vorbild für die Statuierung und Stärkung von Menschen- und Bürgerrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit genutzt werden. Warum ist es dann in einem solchen rechtsstaatlichen Gefüge notwendig und richtig, öffentlich die Verteidigung der Versammlungsfreiheit zu würdigen? Warum war es notwendig und richtig, anlässlich des G20-Gipfels einen ›Anwaltlichen Notdienst‹ zur Sicherung des Zugangs zum Recht einzurichten?
 Der Zugang zum Recht, gerade auch bei Verletzung von Menschen- und Bürgerrechten, hat für einen Rechtsstaat höchste Bedeutung. Nur wenn er diesen Zugang gewährt, wenn er verbindliche und dauerhafte Garantien schafft, die es jedermann ermöglichen, bei einer tatsächlichen oder auch nur behaupteten Verletzung seiner Rechte effektiven Rechtsschutz wahrzunehmen und zu erhalten, erfüllt er seine Aufgaben; nur dann wird er seinem hohen Anspruch gerecht.
 Unsere Verfassung bindet deshalb jede rechtsprechende Gewalt in Deutschland ausdrücklich an die Menschenrechte und erklärt diese für unmittelbar anwendbar (Art. 1 Abs. 3 GG). Und dennoch, trotz dieser hohen Dichte an Rechten und Rechtsweggarantien, ist unser Rechtsstaat nicht frei von temporären oder strukturellen Defiziten bei der Umsetzung und Durchsetzung der Menschenrechte sowie beim Zugang zum Recht.
 Zu einem effektiven Zugang zum Recht gehört die Wahrung und Achtung, die Unterstützung und die Förderung der anwaltlichen Tätigkeit als wesensimmanenter Bestandteil untrennbar dazu. Denn der Rechtsanwalt ist ein unabhängiges Organ der Rechtspflege. Er streitet berufsmäßig für die Interessen seines Mandanten, der seinerseits die Freiheit haben muss, den ihm zusagenden Rechtsvertreter auszuwählen und zu mandatieren. Im Kampf um das Recht übt der Rechtsanwalt als Teil der Rechtspflege und nicht etwa als Teil der Justiz eine eigenständige Funktion zur Rechtsdurchsetzung aus.
 Der Anwaltliche Notdienst, die in ihm vereinten Kolleginnen und Kollegen haben diese Aufgabe und Funktionen mit großem Engagement wahrgenommen und sich damit um die Stärkung und Verteidigung der Menschenrechte besonders verdient gemacht. Ihr besonderes Wirken hat den Zugang zum Recht für Bürgerinnen und Bürger durchgesetzt und damit verteidigt.
 Der Anwaltliche Notdienst zum G20-Gipfel in Hamburg war eine Initiative des Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein. Anfragen und Hilferufe wurden an nach Schichtplänen bereitstehende Kolleginnen und Kollegen verteilt und bearbeitet. Die anwaltlichen Tätigkeiten waren vielfältig und umfangreich, sie waren anstrengend und belastend. Inhaftierte wurden in der Gefangenensammelstelle aufgesucht, zu Anhörungen über eine Gewahrsamnahme oder bei Haftbefehlsanträgen begleitet, juristisch beraten und unterstützt. Die nachhaltige Bereitschaft, das große Engagement sowie die Unterstützung durch die Anwältinnen und Anwälte stärkten die Betroffenen auch in psychischen Ausnahmesituationen und wahrten – soweit möglich – deren Rechte.
 Zusätzlich hatte der Notdienst gemeinsam mit dem Ermittlungsausschuss ein Legal Team zusammengestellt, das Demonstrationsbeobachtungen durchführte. Die dabei gemachten Erfahrungen waren nicht selten belastend und sogar mit körperlichen Angriffen verbunden.
 Wer sich wie die Kolleginnen und Kollegen des Anwaltlichen Notdienstes für einen ungehinderten Zugang zum Recht einsetzt, stößt nicht selten auf Widerspruch oder Widerstände. Das beginnt bereits im Kleinen, wenn z. B. eine ›unangemessene Verrechtlichung‹ unserer Gesellschaft beklagt wird oder wenn der Staat sich aus der allein ihm obliegenden Justizhoheit zurückzieht, z.B. durch andauernde Unterbesetzung von Gerichten oder Staatsanwaltschaften oder durch den Rückzug aus der Fläche insgesamt, wie z.B. durch die umfangreichen Schließungen ganzer Gerichtsstandorte vor Kurzem in Mecklenburg- Vorpommern. Damit wird nicht nur der privaten Schiedsgerichtsbarkeit und somit einer Privatisierung der Justiz Vorschub geleistet, zugleich verliert der Bürger das Vertrauen auf und in einen effizient in seiner Nähe arbeitenden Rechtsstaat.

Im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel in Hamburg waren diese Widerstände gegen einen effektiven Zugang zum Recht bei Weitem schwerwiegender und drastischer. Es begann bereits im unmittelbaren Vorfeld. Als die Polizeibehörden der Stadt eine Demonstration verboten und gegen dieses Verbot die zulässigen Rechtsbehelfe eingelegt wurden, begründete die Polizei ihr Demonstrationsverbot unter anderem damit, dass der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein, zu dessen Mitgliedern auch einige anwaltliche Vertreterinnen und Vertreter der Beschwerdeführer gehörten, gefährlich weit links stehe. Daraus, also aus der Zugehörigkeit eines anwaltlichen Vertreters zu einer auf den Boden unserer Verfassung stehenden und agierenden Anwaltsorganisation, die lediglich der Obrigkeit nicht genehm zu sein scheint, könne man – so die Polizeibehörde – auf die Gefährlichkeit derer schließen, die sich da versammeln wollten.
 Meine Damen und Herren, in der UN-Charta von 1990 über die Grundprinzipien betreffend die Rolle der Rechtsanwälte heißt es unter anderem: »Der Rechtsanwalt darf wegen der Wahrnehmung seiner Aufgaben nicht mit seinen Mandanten oder den Angelegenheiten seiner Mandanten identifiziert werden«. Eine Gleichsetzung des anwaltlichen Vertreters mit seinen Mandanten soll ausgeschlossen und damit die ungehinderte Berufsausübung des Anwalts gewährleistet werden. Aber auf die umgekehrte Variante, dass also ein Rechtssuchender mit seinem anwaltlichen Vertreter nicht nur gleichgesetzt, sondern aus den persönlichen Auffassungen des anwaltlichen Vertreters sogar Rückschlüsse auf die Gefährlichkeit seines Mandanten gezogen werden, darauf ist noch nicht einmal die Hauptversammlung der Vereinten Nationen gekommen! Ein absurder und unverschämter Vortrag der Polizei, über den man dennoch nicht lediglich mit einem Kopfschütteln hinweggehen kann. Denn er ist zugleich Ausdruck eines die anwaltliche Tätigkeit diskreditierenden und die freie Anwaltswahl des Mandanten missachtenden Denkens.
 Hinzu kommt, dass die Freiheit des Rechtsuchenden, einen Vertreter oder eine Vertreterin seiner Wahl mit seiner rechtlichen Interessenvertretung beauftragen zu können, ihr Gegenstück in der freien und unabhängigen Berufsausübung der Anwältinnen und Anwälte findet. Deshalb stellt die Ableitung einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch den Mandanten aus den persönlichen Arbeits- und Lebensumständen seines Rechtsanwaltes zugleich auch einen Angriff auf die Unabhängigkeit des Anwalts und seiner Berufsausübung dar. Wer gegen diese Unabhängigkeit vorgeht oder auch nur dagegen polemisiert, legt die Hand an die Wurzeln unseres Rechtsstaats. Denn die von Drittinteressen unbeeinflusste Wahrnehmung allein der Rechte und Interessen des Mandanten durch seinen Anwalt ist eine nicht nur Rechtsstaatlichkeit garantierende, sondern sie determinierende Kategorie. Die freie und unabhängige Tätigkeit von Anwältinnen und Anwälten ist gerade dort und dann gefragt, wenn Verschärfungen von Polizei- und Strafgesetzen unter dem Banner der inneren Sicherheit die Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen immer intensiver verschatten.
 Anwältinnen und Anwälte wie jene aus dem Anwaltlichen Notdienst haben deshalb Anspruch auf Unterstützung und Solidarität. Ich war sehr froh, dass sich zu der geschilderten, die Polizeibehörde bloßstellenden und die Anwaltschaft denunzierenden Entgleisung sofort nicht nur viele anwaltliche Organisationen und Vereine, sondern auch öffentlich-rechtliche Körperschaften der anwaltlichen Selbstverwaltung deutlich geäußert haben.
 Die VDJ verleiht heute einen Preis an den Anwaltlichen Notdienst, der den Namen Hans Littens trägt. Den Namen eines Anwalts, der in den Zeiten des aufkommenden Faschismus in Deutschland leidenschaftlich, kompromisslos und auch verzweifelt einen Kampf gegen das Unrecht führte, den er nicht gewinnen konnte. Diejenigen, die er des Unrechts überführte, trieben ihn in den Tod. Vergleiche mit dieser Zeit sind völlig fehl am Platz, zudem – da bin ich mir sicher – wiederholt sich Geschichte nicht. Aber wenn heute, z.B. auch in deutschen Parlamenten, rechtsradikales Gedankengut verbreitet wird, dann heißt es, zu reagieren. Der deutsche Rechtsstaat ist derzeit noch stark genug, dies auszuhalten; unsere Gesellschaft ist derzeit noch verantwortungsbewusst genug, dem entgegenzutreten. Alles zu tun, damit dies so bleibt, ist eine Aufgabe von uns allen, erst recht eine Aufgabe der Anwaltschaft und auch ihrer Selbstverwaltung und Interessenvertretungen.
 Deshalb ist es notwendig, die Erinnerung an Hans Litten aufrecht zu erhalten. An die ihn im Leben und im Beruf prägende und vorantreibende Leidenschaft für eine Herrschaft des Rechts über das Recht des Stärkeren.
 Diese Leidenschaft, diesen Mut und diese Einsatzbereitschaft zeigten auch die Kolleginnen und Kollegen des Anwaltlichen Notdienstes. Die Preisverleihung ist deshalb eine Würdigung von besonderen Anwältinnen und Anwälten, die mit Empathie den Grundgedanken einer freien und unabhängigen Advokatur in Deutschland leben und auch gegen Widerstände durch- und umsetzen. Denn nur wenn die Unabhängigkeit der Anwaltschaft garantiert ist, kann eine uneingeschränkte und unbeeinflussbare Verteidigung der Interessen der Mandantinnen und Mandanten gelingen. Ein Rechtsstaat muss daran ein besonderes Interesse haben. Auch unser Rechtsstaat muss sich dies immer wieder vor Augen führen. Und deshalb war es richtig und notwendig, einen Anwaltlichen Notdienst zum G20-Gipfel einzurichten.
 Verehrte Kolleginnen und Kollegen des Anwaltlichen Notdienstes: Ich danke Ihnen sehr für Ihre besondere Arbeit. Ihr Wirken war im besten Sinn des Wortes ein Dienst am Recht durch den Kampf um das Recht. Herzlichen Glückwunsch zum Hans-Litten-Preis!

Dr. Marcus Mollnau ist Rechtsanwalt und Notar in Berlin sowie Präsident der Rechtsanwaltskammer Berlin und Mitglied im RAV. Die Überschriften wurden von der Redaktion hinzugefügt.