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Jegliches Vertrauen verloren

TÄTER-OPFER-UMKEHR IN DER STRAFJUSTIZ

Katharina Schoenes und Maruta Sperling

Dass die Strafjustiz mit rassistisch motivierten Taten nicht angemessen umgehen kann, zeigt sich nicht nur darin, dass Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte rassistische Tatmotive verneinen oder verharmlosen. Vielmehr kommt es regelmäßig zu Strafverfahren gegen die Opfer rassistisch motivierter Übergriffe. Für diese Form der Täter-Opfer-Umkehr gibt es jedoch kaum Problembewusstsein.
 Unter dem Motto »Kein Schlussstrich« mobilisierte ein bundesweites Bündnis am Tag der Urteilsverkündung im NSU-Prozess nach München. Tausende folgten dem Aufruf und forderten, dass das Ende des NSU-Prozesses nicht das Ende der Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex bedeuten darf. Denn die Bedingungen, die den NSU möglich machten, bestehen bis heute fort: Rassismus durchzieht die Gesellschaft und prägt das Handeln staatlicher Institutionen. Das zeigt etwa ein Blick in die Strafjustiz, die nach wie vor mit rassistisch motivierter Gewalt nicht adäquat umgehen kann oder will: Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte verharmlosen und entpolitisieren Taten, indem sie rassistische Motive nicht erkennen bzw. sie als Tatursache verschweigen.(1) Und häufig kommt es gar nicht erst zu einem Strafverfahren: Weil Taten aus Angst vor den Täter*innen oder aufgrund schlechter Erfahrungen mit der Polizei nicht angezeigt, Anzeigen durch die Polizei nicht verfolgt, Strafverfahren durch die Staatsanwaltschaft eingestellt werden.

WENN GEGEN OPFER ERMITTELT WIRD, …

Noch gravierender ist es, wenn Vorfälle zwar polizeibekannt werden, in der Folge aber nicht gegen die mutmaßlichen Täter*innen, sondern gegen die Opfer ermittelt wird. Während es mittlerweile für die Nichtbenennung rassistischer Tatmotive durch Gerichte und Staatsanwaltschaften innerhalb einer kritischen Öffentlichkeit ein gewisses Problembewusstsein gibt, wird Täter-Opfer-Umkehr seltener öffentlich thematisiert und problematisiert. Dabei ist auch dieses Phänomen gut bekannt aus dem NSU-Komplex: Jahrelang verdächtigten die Ermittler*innen die Angehörigen der Mordopfer und die Geschädigten der Bombenanschläge, mit den Taten etwas zu tun zu haben. Angaben aus der migrantischen Community, es könne sich bei den Täter*innen um Neonazis handeln, ignorierten sie indes konsequent. Dass dieses Muster kein Einzelfall, sondern Alltag in deutschen Strafverfolgungsbehörden ist, belegen viele Verfahren, die Justizwatch in den letzten Jahren kritisch begleitet hat.(2)
 Momentan beobachten wir einen solchen Täter-Opfer-Umkehr-Prozess vor einem Amtsgericht in Brandenburg. Verhandelt wird ein Vorfall aus dem Jahr 2015, der sich in einer kleinen Stadt in Brandenburg(3) zugetragen hat: Herr  Schmidt terrorisiert dort seit Jahren migrantische Geschäftstreibende. Er pöbelt – mal allein, mal unterstützt durch andere – in ihren Gaststätten, brüllt rassistische Beleidigungen, weigert sich, seine Speisen und Getränke zu bezahlen und wird handgreiflich, sobald er darauf angesprochen wird. Immer wieder übt er körperliche Gewalt aus. In vielen Imbissen hat er deshalb Hausverbot. Herr Schmidt wird für sein Verhalten kaum je zur Rechenschaft gezogen. Schon gar nicht von der Strafjustiz: Selten kommen die Vorfälle überhaupt zur Anzeige, da die Betroffenen zu eingeschüchtert sind. Den Anzeigen, die es gibt, geht die örtliche Polizei nur halbherzig nach, viele von ihnen verlaufen schließlich im Sande.
Auch Herr Kahveci und Herr Doğan, zwei kurdische Imbissbetreiber in der Kleinstadt, haben seit Jahren Probleme mit Schmidt. Über das Hausverbot in ihrem Laden hat er sich wiederholt hinweggesetzt. Die Lage ist so bedrohlich, dass ihre Kund*innen wegbleiben und sie Schwierigkeiten haben, Mitarbeiter*innen zu finden. An einem Abend im Frühjahr 2015 eskaliert die Situation erneut. Herr Schmidt und zwei Begleiterinnen provozieren volltrunken vor dem Geschäft. Was danach genau vorfällt, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren, zu widersprüchlich und verworren sind die Aussagen der Beteiligten, zu lückenhaft die Ermittlungen der Polizei. Fest steht: Es kommt zu einer Auseinandersetzung zwischen Kahveci und Doğan auf der einen, Schmidt und seinen Begleiterinnen auf der anderen Seite. Die Polizei wird gerufen, beide Seiten erstatten Anzeige wegen Körperverletzung. Bei Beteiligten beider Seiten sind Verletzungen dokumentiert. Doch im Prozess, der im Juni 2018 beginnt, sind nur Kahveci und Doğan wegen gefährlicher Körperverletzung angeklagt, Schmidt tritt hingegen als Geschädigter und Nebenkläger auf. Das Verfahren gegen ihn wurde bereits eingestellt, ebenso wie ein weiteres, in dem ihm vorgeworfen wurde, dass er im Imbiss von Kahveci und Doğan den Hitlergruß gezeigt haben soll.

… DIE POLIZEI SIE ALLEIN LÄSST

Wie konnte es zu dieser Täter-Opfer-Umkehr kommen? Ein zentrales Problem besteht darin, dass die rassistische Dimension des Konflikts zwischen Schmidt und den Imbissbetreibern sowie dessen lange Vorgeschichte in dem Verfahren völlig aus dem Blick geraten ist. Es ist die Geschichte von migrantischen Geschäftstreibenden, die sich über Jahre mehrmals hilfesuchend an die Polizei wandten, aber mit einer ihre Existenz bedrohenden Situation allein gelassen wurden. Offenbar gehen die Strafverfolgungsbehörden davon aus, dass es zur Tätigkeit eines Imbissbetreibers dazu gehört, sich während der Arbeit beschimpfen und anpöbeln zu lassen. Dafür spricht die jahrelange Untätigkeit der örtlichen Polizei, und das legt auch ein Kommentar des Staatsanwalts am zweiten Verhandlungstag nahe: »Manche Berufe bringen es wohl mit sich, Zielscheibe zu sein«. Dass Schmidt immer wieder rassistische Parolen gerufen und den Hitlergruß gezeigt hat, ignoriert der Staatsanwalt – oder er hält es für unbedeutend.
 Als die Polizei doch tätig wird, arbeitet sie so einseitig und schlecht, dass zumindest der Eindruck entsteht, dass die Beamt*innen Schmidt entlasten und die beiden Imbissbetreiber belasten wollten. Ob dies das Ergebnis bewusster Entscheidungen ist, lässt sich im Nachhinein nicht mit Sicherheit sagen.

… UND BEWEISMITTEL KONSTRUIERT

Das betrifft etwa das Vorgehen der Beamt*innen, die unmittelbar nach der Auseinandersetzung zum Tatort gerufen wurden. Einige der Polizist*innen befragten Schmidt und seine Begleiterinnen, andere sprachen mit Doğan und Kahveci. Einer der Polizeibeamten, die Doğan und Kahveci befragten, bekam von seinen Kolleg*innen, die mit Schmidt befasst waren, die Information, dass Schmidt angegeben habe, mit einem Schlüssel geschlagen worden zu sein. Daraufhin fragte der Polizeibeamte Kahveci, ob er einen Schlüsselbund bei sich trage. Er versäumte es allerdings zu erklären, warum diese Information wichtig sei und belehrte Kahveci auch nicht, dass er sich nicht selbst belasten müsse. In der Annahme, dass der Polizeibeamte seine eigene Anzeige und nicht die von Schmidt bearbeite, zeigte Kahveci seinen Schlüsselbund vor. Der Schlüssel wurde abfotografiert und das Foto wurde – ohne Erläuterung der Umstände, unter denen es entstanden ist – als Beweismittel für ein gefährliches Tatwerkzeug in das Verfahren gegen Doğan und Kahveci eingeführt. Erst nach detaillierter und hartnäckiger Befragung des Polizeibeamten durch die Verteidigung gelingt es, den fragwürdigen Ursprung des Beweismittels aufzuklären – und seiner weiteren Verwendung zu widersprechen.
 Eine solch zweifelhafte Arbeitsweise prägt auch die weiteren Ermittlungen. So stellt sich in der Verhandlung heraus, dass der Beamte, der die Ermittlungen geleitet und sämtliche Zeug*innen vernommen hat, es versäumt hat, offensichtlichen Widersprüchen in den Angaben der Belastungszeug*innen nachzugehen. Diese Widersprüche betreffen u.a. die Frage, von wem welche Schläge ausgegangen sein sollen. Beispielsweise behauptete Schmidt, als er die Anzeige stellte, seine Begleiterin und er seien zunächst von Kahveci ins Gesicht geschlagen worden. In der Vernehmung durch den Ermittlungsbeamten erzählte er hingegen, dass Doğan für diese Schläge verantwortlich gewesen sei. Ganz ähnliche Widersprüche durchziehen die Aussagen der Begleiterinnen von Schmidt. Doch der Ermittlungsbeamte stellte zu diesen und weiteren Ungereimtheiten keine einzige Nachfrage. Und weder die Richterin noch der Staatsanwalt machen den Eindruck, als würden sie sich an der nachlässigen Arbeitsweise des Ermittlungsbeamten stören. Wieder ist es allein den Nachfragen der Verteidigung zu verdanken, dass die Versäumnisse des Ermittlers im Prozess überhaupt zur Sprache kommen.

ANHALTEND EINSEITIGE ARBEITSWEISE

Die einseitige Arbeitsweise ist aber nicht auf die Polizei beschränkt, sie setzt sich vielmehr vor Gericht fort. Besonders der Staatsanwalt fällt dadurch auf, dass er sich gegenüber migrantischen Zeug*innen – die zugunsten der Angeklagten aussagen – ungeduldig und herablassend verhält. Darauf, dass für manche Zeuginnen und Zeugen Deutsch nicht die Muttersprache ist, nimmt er keine Rücksicht. Im Gegenteil reagiert er ungehalten, wenn diese seine Fragen nicht so beantworten, wie er sich das wünscht und stellt ihre Aussagen als widersprüchlich und unglaubwürdig dar. Wenn Belastungszeug*innen wie die Begleiterin von Schmidt sich in Widersprüche verstricken, gibt sich der Staatsanwalt im Vergleich nachsichtiger, dann reagiert er stattdessen unwirsch auf Nachfragen der Verteidigung.
Der Ausgang des Verfahrens ist zu dem Zeitpunkt, zu dem wir den Artikel schreiben, noch offen. Trotz der Widersprüche in den Aussagen der Belastungszeug*innen hat die Staatsanwaltschaft bereits deutlich gemacht, dass sie eine Verurteilung beantragen wird. Besonders für Doğan hätte dies schwerwiegende Konsequenzen, da er nicht über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügt und sein Aufenthaltsrecht in Deutschland im Falle einer Verurteilung gefährdet ist. Schon seit Ermittlungen gegen ihn laufen – also seit Mai 2015 – erteilt ihm die Ausländerbehörde lediglich kurzfristige Fiktionsbescheinigungen.4 Neben den anhaltenden Angriffen durch Schmidt belastet ihn dies so stark, dass er sich in psychologischer Behandlung begab. Hier zeigen sich die gravierenden Auswirkungen des Zusammenwirkens einer rassistischen Täter-Opfer-Umkehr in der Strafjustiz mit dem restriktiven Aufenthaltsregime: Während das Handeln des eigentlichen Täters Schmidt ohne Konsequenzen bleibt bzw. er sich sogar im Prozess als Opfer und Nebenkläger inszenieren kann, könnte der Vorfall für die eigentlichen Geschädigten mit einer Verurteilung und für Doğan noch dazu mit dem Verlust seiner Existenz in Deutschland enden.
 Unabhängig vom Urteil hat das Verfahren bereits jetzt zwei Effekte: Schmidt fühlt sich durch das (Nicht-)Handeln der Polizei ermutigt, seine Angriffe fortzusetzen. Und Doğan hat nachvollziehbarerweise jegliches Vertrauen in die Strafverfolgungsbehörden verloren.

Katharina Schoenes und Maruta Sperling sind bei Justizwatch aktiv, einer Gruppe, die Rassismus in der Justiz beobachtet, dokumentiert und analysiert. Die Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion eingefügt.

Fußnoten
(1) Vgl. dazu unseren Beitrag im letzten RAV InfoBrief über einen Prozess, in dem der Richter einen rassistisch motivierten Pfeffersprayangriff in seiner Urteilsbegründung als »dummen Jungenstreich« bezeichnete, vgl. https://www.rav.de/publikationen/infobriefe/infobrief-115-2018/nur-ein-dummer-jungenstreich/.
(2) Vgl. für weitere Beispiele: K. Schoenes, ›Rassistische Behördenkette‹, analyse & kritik Nr. 641 v. 18.09.2018, https://www.akweb.de/ak_s/ak641/11.htm.
(3) Die Situation in dem Ort ist sehr angespannt und das Verfahren noch nicht abgeschlossen. Daher haben wir uns zum Schutz der Angeklagten dafür entschieden, den Namen der Stadt nicht zu nennen sowie sämtliche Namen der Prozessbeteiligten zu ändern.
(4) Eine Fiktionsbescheinigung wird erteilt, wenn die Ausländerbehörde nicht sofort über einen gestellten Antrag auf eine Aufenthalts- oder Niederlassungserlaubnis entscheiden kann oder will. Der Aufenthalt ist damit rechtmäßig, das Aufenthaltsrecht gilt aber nur vorläufig.