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Den AnkER am Hals…

DIE VEREINBARUNGEN DER GROKO ZUR FLÜCHTLINGSPOLITIK

Berenice Böhlo

CDU, CSU und SPD haben sich im Koalitionsvertrag ausführlich mit dem schon im Wahlkampf omnipräsenten Thema ›Flüchtlinge‹ und ›Migration‹ beschäftigt und ihre Pläne und Ideen am 7. Februar 2018 entsprechend schriftlich geregelt. Der vorliegende Beitrag erläutert einige wesentliche geplante Regelungen.

Der 179 Seiten starke Vertrag(1) beschäftigt sich in Kapitel VIII unter dem Titel ›Zuwanderung steuern – Integration fördern und unterstützen‹ auf den Seiten 104 bis 108 mit dem Thema Flüchtlinge und Integration.(2) Das Kapitel zur ›Sozialen Sicherheit‹ bringt es auf vier Seiten, ›Erfolg der Wirtschaft‹ dagegen immerhin auf 29 Seiten und das Kapitel ›Bildungsoffensive‹ immerhin noch auf 9 Seiten. Als erstes Fazit lässt sich somit festhalten: Seitenumfang und Relevanz sowie Präsenz in der politischen Debatte korrelieren offensichtlich nicht.
Die hier interessierenden vier Seiten haben es allerdings in sich. Zur Einstimmung seien die einleitenden Worte des hier relevanten Kapitels zitiert. So können sie, für sich selbst sprechend, einen ersten Eindruck davon vermitteln, wie der frontale Angriff auf das Fundament eines menschenrechtlichen und auf internationalem Flüchtlingsrecht basierenden Schutzsystems rhetorisch gerahmt wird.

TREUESCHWUR AUF GG, FLÜCHTLINGSKONVENTION UND EU

»Deutschland bekennt sich zu seinen bestehenden rechtlichen und humanitären Verpflichtungen. Wir werden das Grundrecht auf Asyl nicht antasten: Wir bekennen uns strikt zum Recht auf Asyl und zum Grundwertekatalog im Grundgesetz, zur Genfer Flüchtlingskonvention, zu den aus dem Recht der EU resultierenden Verpflichtungen zur Bearbeitung jedes Asylantrags sowie zur UN- Kinderrechtskonvention und zur Europäischen Menschenrechtskonvention«.
Was sollte an diesen Ausführungen schon bedenklich sein? Ist es nicht sogar schön, dass diese Selbstverständlichkeiten an den Anfang gestellt werden? Allerdings: Materiell-rechtliche Schutzpositionen sind annähernd wertlos, wenn ihnen nicht erstens ein entsprechend ›hartes‹ Verfahrensrecht zur Seite gestellt und zweitens dessen Einhaltung von unabhängiger Seite (Justiz?) tatsächlich und ernsthaft überwacht wird. Besonders im Asyl- und Migrationsrecht ist Verfahrensrecht und materielles Recht – vielleicht vergleichbar dem Strafrecht – auf besonders enge Weise miteinander verknüpft.
Dem Schwur auf das Grundgesetz, die Genfer Flüchtlingskonvention und das EU-Recht schließen sich im Koalitionsvertrag die folgenden Ausführungen an:
»Deswegen setzen wir unsere Anstrengungen fort, die Migrationsbewegungen nach Deutschland und Europa angemessen mit Blick auf die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft zu steuern und zu begrenzen, damit sich eine Situation wie 2015 nicht wiederholt«. Zwecks ›Vermeidung der Wiederholung von 2015‹ heißt es sodann, »stellen wir fest, dass die Zuwanderungszahlen (inklusive Kriegsflüchtlinge, vorübergehend Schutzberechtigte, Familiennachzügler, Relocation, Resettlement, abzüglich Rückführungen und freiwilligen Ausreisen künftiger Flüchtlinge und ohne Erwerbsmigration) die Spanne von jährlich 180.000 bis 220.000 nicht übersteigen werden. Dem dient auch das nachfolgende Maßnahmenpaket«.
Kurzer Einschub: Es gibt den Rechtsbegriff ›vorübergehend Schutzberechtigte‹ nicht. Es gibt anerkannte Flüchtlinge und Flüchtlinge mit subsidiären Schutzstatus. Dieser hat aber nichts mit ›vorübergehend‹ zu tun. Es gibt unterschiedliche Gründe, die die Schutzbedürftigkeit und den Schutzanspruch von anerkannten Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten auslösen, eine zeitliche Komponente, die beide Schutzkonzepte unterscheiden würde, gibt es nicht. Aber natürlich ist es eher vermittelbar – sich selbst ebenso, wie Parteigenossinnen und Parteigenossen in der Sozialdemokratie bzw. Parteimitgliedern in der CDU/CSU –, die Rechte von Personen einzuschränken, die angeblich nur ›vorübergehend‹ schutzberechtigt sind.

DIE GROKO UND DIE FLUCHT

Ziel der GroKo: Weniger Neuankömmlinge und mehr Abschiebungen
Die Obergrenze der CSU findet sich in der Formulierung von 180.000 bis 220.000 Menschen, die jährlich maximal kommen können dürfen. Die totale Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte wurde bis zum 1. August 2018 verlängert. Für die Zeit danach erfolgt ein grundsätzlicher Systemwechsel. Der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigen soll ab 1. August 2018 auf 1.000 Personen pro Monat begrenzt sein. So wird jeder Rechtsanspruch auf Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte ausgeschlossen. Tatsächlich war die Angleichung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten an den Familiennachzug von anerkannten Flüchtlingen nach langem Kampf erst im Sommer 2015 angeglichen worden.

Maßnahmenpaket der GroKo: AnkER-Einrichtungen
Die Große Koalition will alle Neuankömmlinge bis zu 18 Monate in ›AnkER‹ genannte Großlager, die ›Aufnahme-, Entscheidungs- und Rückführungseinrichtungen‹, nach dem Vorbild der bayrischen ›Ankunfts- und Rückführungseinrichtungen‹ unterbringen. Hier sollen auch die Asylverfahren bearbeitet werden. Die Flüchtlinge sollen hier bleiben, bis ihr Antrag entschieden ist – »in der Regel« bis zu 18 Monate, für Familien mit Kindern sollen es nicht mehr als sechs Monate werden. Die Zentren verlassen können sollen nur noch Personen mit einer guten »Bleibeperspektive«.
Das Konzept verbindet in einer Einrichtung die Funktion einer Aufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge, einer Dauerunterkunft und einer Einrichtung für Ausreisepflichtige, die auf die Abschiebung warten sowie einer Einrichtung, in der schnelle Asylverfahren durchgeführt werden. In den ›AnkER‹-Einrichtungen sollen das BAMF, die Bundesagentur, die Justiz und Ausländerbehörden ›Hand in Hand‹ arbeiten. Ankunft, Entscheidung, kommunale Verteilung nur derjenigen mit »positiver Bleibeperspektive« bzw. Rückführung der ›Anderen‹ sollen von dort aus stattfinden. Welche Flüchtlingsgruppen eine positive Bleibeperspektive haben, ist gesetzlich nicht geregelt, sondern wird von der Verwaltung definiert. Einzelfallbetrachtungen spielen dabei keine Rolle. Ein Rollback sondergleichen ist auch, dass mit der Wohnpflicht in den Einrichtungen ein gesetzliches Arbeitsverbot kombiniert wird.

Maßnahmenpaket der GroKo: Sichere Herkunftsländer
Algerien, Marokko und Tunesien sollen neue sichere Herkunftsländer werden, weitere sollen hinzukommen, wenn die Anerkennungsquote für ein bestimmtes Herkunftsland unter fünf Prozent liegt. Der Bundestag muss jeweils beschließen, welches Land als sicheres Herkunftsland einzustufen ist; hier hat eigentlich eine genaue Prüfung mit Sachverständigen zu erfolgen. Eine Regelung, wonach, wenn eine bestimmte Anerkennungsquote vorliegt, quasi ein Automatismus greift, widerspräche diesen Verfahren der Sachverständigenprüfung.

Maßnahmenpaket der GroKo: Überprüfung des Schutzbedarfs nach drei Jahren
Laut Koalitionsvertrag ist eine Überprüfung des gewährten Schutzes spätestens drei Jahre nach einer positiven Entscheidung erforderlich. Die Koalition will zusätzlich Mitwirkungspflichten der Betroffenen einführen. Absehbar wird hier ein riesiger Verwaltungsaufwand produziert werden. Aus genau diesem Grund war eine Prüf-Verpflichtung des BAMF zur Verwaltungseffizienz im August 2015 abgeschafft worden.

Maßnahmenpaket der GroKo: Ausweitung Abschiebehaft
Die GroKo schreibt, »Abschiebehaft und Ausreisegewahrsam, einschließlich des Beschwerdeverfahrens, werden wir praktikabler ausgestalten, die Voraussetzungen absenken und klarer bestimmen. Ziel ist, die Zuführungsquoten zu Rückführungsmaßnahmen deutlich zu erhöhen«. Die Regelungen zur Abschiebehaft und zum Ausreisegewahrsam wurden bereits in den letzten Gesetzespaketen in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise immer weiter verschärft. Konkrete Pläne bleiben abzuwarten, klar ist, dass auch das Ausweisungsrecht weiter verschärft werden soll.

Maßnahmenpaket der GroKo: Asylverfahren an den Außengrenzen
Auf EU-Ebene will die GroKo den Ausbau von ›FRONTEX‹ zur echten EU-Grenzpolizei. Bis es soweit ist und die Grenzen ›effektiv geschützt‹ sind, seien »Binnengrenzkontrollen vertretbar«, heißt es im Text. Ziel ist also ein Zurück zum Europa der nationalen Grenzen, die der Schengen-Vertrag vor 23 Jahren außer Kraft setzte.
Das Bekenntnis der Koalitionäre zum gemeinsamen europäischen Asylsystem – eine grundlegende ›Reform‹ wird gerade vorbereitet – ist letztlich ein Hinweis darauf, dass Asylverfahren langfristig nicht mehr im eigenen Land stattfinden sollen. Dies heißt dann so: Man setze sich für gleiche europäische Standards bei Verfahren und Versorgung der Schutzsuchenden ein. »Dies gilt auch für eine gemeinsame Durchführung von Asylverfahren überwiegend an den Außengrenzen sowie gemeinsame Rückführungen von dort«. Faktisch bedeutet dies den Ausbau der Hotspot-Zentren, die in den Staaten an den EU-Außengrenzen liegen. Nebenbei wäre so dann auch das ungelöste Verteilsystem von Flüchtlingen in der EU – zumindest auf dem Papier – erledigt.
Bis dieses Ziel erreicht ist, sollen der Standard bei der Versorgung und Unterbringung von Asylsuchenden, die sie sich nicht im zuständigen Land aufhalten, erheblich herabgesenkt werden.

Maßnahmenpaket der GroKo: Kommission Fluchtursachen
Last but not least: Natürlich wird noch eine Kommission mit dem Namen ›Fluchtursachen‹ eingesetzt, die konkrete Vorschläge im Bereich Entwicklungszusammenarbeit, dem Ausbau humanitären Engagements; Ausstattung von UNHCR und World Food Programme (WFP), Engagement für Friedenssicherung sowie Stärkung internationaler Polizeimissionen, eine faire Handels- und Landwirtschaftspolitik (faire Handelsabkommen) und einen verstärkten Klimaschutz sowie eine restriktive Rüstungsexportpolitik ausarbeiten und der Bundesregierung und dem Bundestag unterbreiten soll. Alles klar.

RESÜMEE

Es liegt auf der Hand, dass mit diesem Maßnahmenpaket die Teilhabe eines großen Teils der Geflüchteten am gesellschaftlichen Leben verunmöglicht wird und verunmöglicht werden soll. Im Falle des für die ›AnkER‹-Zentren als Muster fungierenden bayrischen ›Vorbildlagers‹ Manching musste die Erlaubnis zum Besuch einer nahegelegenen Regelschule für Flüchtlingskinder gegen den Direktor und die Behörden gerichtlich durchgesetzt werden.(3) Die Regelung zum Familiennachzug trennt dauerhaft Familien, deren einer Teil im Kriegsgebiet lebt. Die Rechtswidrigkeit dieses Ausschlusses wird auch letztlich festgestellt werden, aber es werden bis dahin noch vermutlich viele Monate ins Land gehen, und die Betroffenen warten bereits seit zwei Jahren. Tatsächlich obsiegt eine große Zahl der subsidiär Schutzberechtigten bereits in erster Instanz vor Gericht.(4) Sie hätten also auch immanent niemals auf die Wartezeit verwiesen werden dürfen. In dieser Wartezeit werden Fakten geschaffen, die nicht wieder gut zu machen sind, Kinder leiden, Erwachsene leiden unter der erzwungen Trennung. Wer kann diese menschlichen Dramen um der reinen politischen Symbolik willen verantworten?
Fragen der unabhängigen Rechtsberatung in den geplanten ›AnkER-‹Zentren werden in keiner Weise nachhaltig thematisiert, das Thema ist schlichtweg nicht präsent. In den bayrischen Vorbildern in Bamberg und Manching findet, wenn überhaupt, nur unzureichende Beratung statt, die dortigen Wohlfahrtsverbände haben sich teilweise zurückgezogen, weil die Verhältnisse untragbar sind.(5)
Die von der GroKo geplanten Widerrufsverfahren lösen vor allem eine unsinnige Bürokratie aus. Bisher wurden z.B. fast 100.000 von der Politik verordnete vorgezogene Widerrufsprüfungen eingeleitet, nach 587 abgeschlossenen Prüfungen gab es 12 Widerrufe (2%), darunter keine einzige Rücknahme wegen falscher Angaben.(6)
Sichere Herkunftsländer ermöglichen in keinem Fall eine schnellere Abschiebung, denn die Asylverfahren aus den betroffenen Ländern werden bereits jetzt beschleunigt bearbeitet und mit ›offensichtlich unbegründet‹ abgelehnt. Auch diese ›Maßnahme‹ stellt also reine Symbolik dar. Entgegen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts will die Koalition die Berechnung des menschenwürdigen Existenzminiums an migrationspolitische Motive koppeln. Dies widerspräche auch der Aufnahmebedingungsrichtlinie, eine Verelendung der Schutzsuchenden, die sich im Dublin-Verfahren befinden, ist vorprogrammiert.

Zustimmen zur GroKo, um Schlimmeres zu verhindern?
In einem Änderungsantrag von SPD-Mitgliedern zum außerordentlichen Parteitag der SPD am 21. Januar 2018 in Bonn bezüglich des Maßnahmenpaketes der Großen Koalition heißt es: »Der Umgang mit geflüchteten Menschen und ihren Familien ist ein Lackmustest für unsere sozialdemokratischen Grundsätze zu Gerechtigkeit und Humanität«.(7) Der Änderungsantrag fand keine Mehrheit.
Stattdessen lobte einer der entscheidenden Unterhändler auf Seiten der SPD, der Bundestagsabgeordnete Prof. Dr. Lars Castellucci, genau das, was im Änderungsantrag scharf abgelehnt wurde. Er äußerte im Rahmen der ›Hohenheimer Tage zum Migrationsrecht‹ unter anderem zum Thema ›Obergrenze‹ und ›AnkER‹: »Positiv sei, dass die im Sondierungspapier formulierte Zugangsspanne keine Obergrenze darstelle, wie sie vor allem von der CSU gefordert worden war und dass die geplanten AnkER-Zentren (Zentrale Aufnahme-, Entscheidungs- und Rückführungseinrichtungen) für Geflüchtete alle Verwaltungsabläufe an einem Ort bündeln. Allerdings räumte er ein: ›Wenn die Zentren abschrecken sollen, dann werden sie schlecht ausgestattet‹. Und weil die geplante Kasernierung auch zu Isolation führe, müssten die Verfahren auf drei Monate begrenzt werden«.(8)

Politik systematischer Entrechtung
Es bleibt abzuwarten, was wie wann vom Maßnahmenpaket umgesetzt ist. Fakt ist, dass auch auf der europäischen Bühne die Zeichen auf Sturm deuten. Es erscheint in hohem Maße zynisch und auch nicht zufällig, dass die Koalitionäre von ›Anker‹-Zentren sprechen. Im Koalitionsvertrag verwendet man die Schreibweise ›AnKER‹, was kaum eine sinnvolle Abkürzung für die geplante ›Aufnahme-, Entscheidungs- und Rückkehreinrichtung‹ sein kann. Aber vielleicht war die Begeisterung über den gefundenen Begriff ›Anker‹ zu groß, als dass diese unlogische Abkürzung irgendwem aufgefallen wäre. In Zeiten, da viele beim Thema ›Flüchtlinge‹ Boote auf dem Mittelmeer assoziieren und ein Wissen darum vorhanden ist, dass die Existenz und die Notwendigkeit dieser Boote eine unerträgliche Schande für uns alle ist, hat der Begriff ›Anker‹ eine fast beruhigende Wirkung. Er lädt dazu ein, sich vorzustellen, dass Menschen Anker werfen und ankommen, dass sie Ruhe finden und Sicherheit.
Die SPD spielt wie so oft ein gefährliches Spiel, dessen Regeln sie nicht bestimmt. Sie sucht Rettung im Bekenntnis zum Grundgesetz, betreibt aber faktisch eine Politik der großflächigen Kasernierung und damit Isolation sowie systematischen Entrechtung von Flüchtlingen und der Trennung von Familien. Prof. Dr. Lars Castellucci hat in Hohenheim im Januar 2018 in äußerst sympathischer Art und Weise seine Sicht der Dinge dargestellt, und wahrscheinlich meint er es ernst, wenn er Kapitel VIII des Koalitionsvertrags positiv bewertet. Nur ist dies leider kein Trost, sondern alarmierend.

Berenice Böhlo ist Rechtsanwältin in Berlin und Vorstandsmitglied des RAV. Die Überschriften wurden von der Redaktion eingefügt.