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›Gute Opfer‹, ›Schlechte Opfer‹

MOGELPACKUNG ›BLEIBERECHT‹ IN BERLIN UND BRANDENBURG

Franziska Nedelmann 

Im Jahr 2017 hat es im Zeitraum vom 1. Januar bis zum 30. September in Deutschland 211 Angriffe auf Asylbewerberheime gegeben, also durchschnittlich fast jeden Tag einen.(1) Hinzu kommen im gleichen Zeitraum 1.067 Angriffe auf Geflüchtete außerhalb der Unterkünfte, wobei 230 Menschen verletzt wurden; Tendenz nach 2015 wieder steigend.(2) In den meisten Fällen haben die Angriffe einen rassistischen Hintergrund.
Wie hoch die Dunkelziffer der Angriffe ist, kann nur erahnt werden. Aus der Erfahrung in der anwaltlichen Arbeit mit Geflüchteten handelt es sich vermutlich nur um einen geringen Anteil, der überhaupt statistisch erfasst wird. Denn die meisten Geflüchteten erstatten trotz fast täglich erlebter rassistischer Beleidigungen und Angriffe nur dann Anzeige, wenn dies nicht zu vermeiden ist. Der Kontakt mit der Polizei wird häufig aus Angst vor negativen Konsequenzen für den Asylantrag oder den Aufenthalt gescheut. Vielmals ist auch die Angst vor weiteren Angriffen vorherrschend, weil ein Umzug aufgrund des Aufenthaltsstatus rechtlich nicht möglich ist. Schlussendlich bedeutet es für die Betroffenen oftmals erheblichen Stress, als Zeug*innen in den Strafverfahren aussagen zu müssen, ohne zu wissen, ob sie überhaupt in Deutschland bleiben und den Ausgang des Verfahrens miterleben können. Kurz: Die Sorge über den unsicheren Aufenthaltsstatus und die beschränkten Möglichkeiten, sich vor weiteren Angriffen zu schützen, führen dazu, dass sich die Rassisten in Sicherheit wiegen und ihre Angriffe ohne Angst vor Verfolgung fortsetzen können.
Der Bundesgesetzgeber weigert sich seit Jahrzehnten mit trauriger Regelmäßigkeit, diesen Zustand durch die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für ein Aufenthaltsrecht der von rechter und rassistischer Gewalt betroffenen Menschen zu beenden. Die Länder Brandenburg und Berlin haben sich nun dieser Problematik angenommen.(3) So heißt es in dem entsprechenden Beschluss des Brandenburgischen Landtags vom 28. April 2016: »Die Zielsetzung liegt dabei vor allem darin, vollziehbar Ausreisepflichtigen, die Opfer einer rechten Gewaltstraftat geworden sind, zu einem Bleiberecht zu verhelfen, indem auf der Grundlage des geltenden Rechts alle Ermessensspielräume genutzt werden«.(4) Mit Erlass des Brandenburger Innenministeriums vom 21. Dezember 20165 und Weisung des Berliner Innensenates vom 22. Mai 20176 wurde sodann verkündet, es sei ein »Bleiberecht für Opfer von Gewaltstraftaten« geschaffen worden, wenn die Straftaten aus rechter Motivation begangen wurden oder aber der Hasskriminalität zuzuordnen sind.

VOM KLANG TÖNERNER RIESEN

Klingt erstmal nicht schlecht. Es ist aber nicht das drin, was draufsteht. Denn ein Bleiberecht – also eine gesetzliche Grundlage für einen rechtmäßigen Aufenthalt – wird gerade nicht geregelt. Es geht lediglich um einen zeitlich begrenzten Abschiebestopp, der nur bei besonderen weiteren Voraussetzungen die Möglichkeit eröffnen kann, eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen zu beantragen. Hinter diesen fälschlich als ›Bleiberecht‹ verkauften und als ›Kampf gegen Rassismus‹ gefeierten Erlassen und Weisungen versteckt sich vielmehr ein Regelungssystem, das im Endeffekt die rechtlichen Schutzmöglichkeiten für Betroffene rechter und rassistischer Gewalt mit unsicherem Aufenthaltsstatus noch verschlechtern kann. Ganz nach der gesetzgeberischen Mode im Bereich des Asylrechts wird ein Zwei-Klassen-System im Opferschutzrecht geschaffen: Die ›guten Opfer‹ sollen während des laufenden Strafverfahrens gegen jeweilige Beschuldigte geduldet werden (was kein rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne des Gesetzes ist) und unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit haben, nach Abschluss des Verfahrens eine Aufenthaltserlaubnis zu beantragen. Die ›schlechten Opfer‹ allerdings müssen in diesen Fällen eher mit einer unmittelbaren Abschiebung rechnen. Warum?
Die Regelungen betreffen ausschließlich Menschen, die unmittelbar von Abschiebung bedroht sind. Statt jedoch »auf der Grundlage des geltenden Rechts« den Ausländerbehörden zu erläutern, dass auch den sog. ›vollziehbar Ausreisepflichtigen‹ die Rechte zustehen müssen, die jede/r hat, wenn sie/er durch eine Gewaltstraftat verletzt wird (Teilnahme an der Hauptverhandlung, Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen, Nebenklage gem. §§ 395 ff. StPO etc.) und sie damit ohnehin für die Durchführung eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens zu dulden sind, wird die Messlatte noch höher gehängt:
Nach der Berliner Weisung sollen beispielsweise(7) nur diejenigen Verletzten durch eine Gewalttat aus Hasskriminalität eine Duldung für die Dauer des Strafverfahrens erhalten,

  • deren Verhalten für die Gewalttat nicht mitursächlich gewesen ist (was ausschließlich durch die Strafverfolgungsbehörden beurteilt wird),
  • die selbst in Deutschland nicht zu einer Geldstrafe von mehr als 90 Tagessätzen oder einer Jugendstrafe von mehr als sechs Monaten verurteilt wurden (ausgenommen sind Verurteilungen nach dem AufenthG und AsylG) und
  • die von der Polizei nicht als besonders gefährlich eingestuft und deswegen nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ausgewiesen werden können.(8)
     

Wenn also beispielsweise Beschuldigte behaupten, sich ›lediglich gegen einen Angriff durch einen Geflüchteten verteidigt und deshalb beispielsweise zugeschlagen, getreten und beleidigt zu haben‹ (was gerade Neonazis standardmäßig als Verteidigungsverhalten an den Tag legen), dann kann allein diese Behauptung zur Folge haben, dass eine Schutzgewährung wegen angeblichen Mitverschuldens gerade nicht stattfindet. Denn im Umkehrschluss bedeutet das Aufstellen dieser Ausschließungsgründe, dass die Ausländerbehörde eine Abschiebung vollziehen wird, wenn diese Voraussetzungen nicht vorliegen.(9) Damit werden die Verletzten zu Verdächtigen, das versprochene Bleiberecht kann sich als Abschiebung entpuppen. Ein solcher ›Kampf gegen Rassismus‹ jedenfalls kann sich schnell als tönerner Riese erweisen.
Zudem soll es mit der Weisung einen Datenaustausch zwischen den Strafverfolgungs- und Aus- länderbehörden geben. Es werden sich also zukünftig in den Ermittlungsakten auch Hinweise auf den aufenthaltsrechtlichen Status der Verletzten finden und Stellungnahmen der Strafverfolgungs- behörden dazu, ob ein Angriff rassistisch motiviert war (bzw. einen Fall von Hasskriminalität dar- stellt) und ob die Folgen der Tat für die verletzte Person erheblich waren. Die Definitionshoheit über eine mögliche Duldungserteilung wird damit schwerpunktmäßig auf die Strafverfolgungsbehörden verlagert, die Ausländerbehörden wiederum werden zum verlängerten Arm polizeilicher (Fehl-) Einschätzungen. Da auf Seiten der Polizeibehörden und Staatsschutzabteilungen der Landeskrimi- nalämter die Sensibilisierung für rassistische Straftaten gegenüber Geflüchteten nicht gerade ganz oben auf der Tages- und Kompetenzordnung steht,10 ist nichts Gutes zu erwarten. Gerade die Ver- letzten, die nicht dem gesetzten Raster der ›weißen Weste‹ entsprechen und damit zum ›schlechten Opfer‹ werden, sind allerdings häufig besonders schutzbedürftig. Gerade sie fallen jedoch durch beim regierungsamtlichen ›Kampf gegen Rassismus‹.

Franziska Nedelmann ist Rechtsanwältin in Berlin und Stellvertretende Vorsitzende des RAV.

Fußnoten

(1) http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-11/bundeskriminalamt-anschlag-asylbewerberheime-fluechtlinge [05.12.2017].
(2) http://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-12/fremdenfeindlichlkeit-angriffe-fluechtlinge [05.12.2017].
(3) In Thüringen soll in Kürze ebenfalls eine Regelung getroffen werden.
(4) http://bravors.brandenburg.de/verwaltungsvorschriften/erl_nr_8_2016.
(5) http://bravors.brandenburg.de/verwaltungsvorschriften/erl_nr_8_2016.
(6) Der eigentliche Weisungstext ist nicht veröffentlicht; der Regelungsinhalt ist zu finden in den Verfahrenshinweisen der Ausländerbehörde Berlin [Stand: 23.10.2017], VAB A 60.a.2.2, unter: http://www.berlin.de/labo/willkommen-in-berlin/service/downloads/artikel.274377.php.
(7) Hier werden nur einige der Voraussetzungen beispielhaft aufgezählt.
(8) In dem Brandenburger Erlass wird die erste Bedingung zur Voraussetzung für die Erteilung einer Duldung, die Erfüllung der weiteren Bedingungen normiert ausschließlich die Möglichkeit der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
(9) So ist auch bereits 2017 in einem Fall in Berlin ein Verletzter (Hasskriminalität) am Folgetag seiner entsprechenden Mitteilung an die Ausländerbehörde abgeschoben worden, obwohl andere Duldungsgründe bestanden hätten.
(10) Zu den Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses sagte MdB Ströbele in der BT-Sitzung am 20.02.2014:
»Wenn ich mich mit den Vorgängen um den NSU beschäftige, bin ich noch immer empört und fassungslos. Ich habe versucht, Erklärungen dafür zu finden, warum die Sicherheitsbehörden in Deutschland - Verfassungsschutz und Polizei - bundesweit mehr als zehn Jahre lang, so unendlich lange, so dramatisch versagt haben«. Dies kommentierte Volker Kauder (Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion) mit den Worten: »Das stimmt leider!«. Ströbele weiter: »Wir haben auch in Teilen der Sicherheitsbehörden [...] institutionellen Rassismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gefunden.« Vgl. unter: https://www.gruene-bundestag.de/parlament/bundestagsreden/2014/februar/hans-christian-stroebele-empfehlungen-des-nsu-untersuchungsausschusses.html [05.12.2017].