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Gegen ein Sonderrecht des Stärkeren

KAMPAGNE GEGEN DIE NEUEN PARAGRAPHEN 113 BIS 115 STGB IM KLIMA POLIZEILICHER (SELBST-)ERMÄCHTIGUNG

›Nein zum Polizeistaat‹ - Eine Initiative von ›FICKO – Magazin für gute Sachen. Und gegen Schlechte‹

Die 2017 anlässlich der Verschärfung der Widerstandsparagraphen gegründete Initiative ›Nein zum Polizeistaat‹ versteht sich als Vernetzungsstruktur für unterschiedliche Bürgerrechtsgruppen. Neben dem Austausch zur Bündelung von Ressourcen und Wissen leistet die Gruppe – unter anderem in sozialen Medien – Dokumentations- und Informationsarbeit zu polizeilicher Repression und Rechtsverstößen. Perspektivisch ist zudem eine Verfassungsbeschwerde geplant. Die Gruppe streitet aber nicht nur gegen die verschärften Strafrechtsnormen, sondern auch für eine flächendeckende individuelle Kennzeichnung von Polizist*innen im Einsatz sowie die Schaffung unabhängiger Ermittlungs- und Kontrollinstanzen zur Kontrolle der Polizei. Wir dokumentieren nachfolgend einen ersten Beitrag aus dem im Entstehen begriffenen Bündnis (die Red.).

Die Nachricht dürfte in manchem bundesdeutschen Innenministerium eingeschlagen sein wie ein Molotow-Cocktail: ›Europäischer Menschengerichtshof rügt Deutschland wegen fehlender Kennzeichnung von Polizisten‹ und ähnliche Überschriften liefen am 9. November 2017 über die Ticker. Zwei Männer waren vor Jahren nach einem Fußballspiel von zwei Mitgliedern eines Bayerischen Unterstützungskommandos (USK) angegangen und verletzt worden. Doch Sturmhaube, Helm und Uniform verhinderten die Identifizierung der Beamten. Eine bindende Wirkung hat das Urteil allerdings leider nur für den konkreten Fall. Bayerische, sächsische und die meisten anderen Polizist*innen werden also weiterhin keine individuellen Kennzeichen tragen, solange die zuständigen Ministerien es nicht für nötig halten.
Bei aller Freude über den konsequenten Spruch aus Straßburg: Es herrscht weiterhin ein politisches Klima, in dem ein angebliches ›Grundrecht auf Sicherheit‹ diversen Gesetzesverschärfungen den Weg ebnet. Die verschärften §§ 113 bis 115 StGB, die den Angriff auf und den Widerstand gegen Polizist*innen unter deutlich schärfere Bestrafung stellen, oder die Einführung von Online-Durchsuchungen sind hier nur zwei prominente Beispiele. Gleichzeitig werden Missstände bei der Polizei ignoriert und Kontrollmechanismen, wie etwa unabhängige Ermittlungsstellen für Polizeigewalt, abgelehnt oder abgebaut. »Wir brauchen keine Kennzeichnungspflicht«, informierte das Münchner Innenministerium nach der Entscheidung des EGMR.(1) »Völlig überflüssig« sei die Kennzeichnung, findet auch der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU). Und mehr noch: Die Beamt*innen hätten »das Misstrauen (durch die zwischenzeitlich umgesetzte Kennzeichnung, d. Red.) gespürt«.(2)

KEIN RECHT AUF DEN SCHUTZ VOR VERDRUSS

Man kann sicherlich darüber streiten, wie sehr sich Innenminister*innen als Dienstherr*innen um das Wohlbefinden Ihrer Einsatzkräfte sorgen müssen. Doch was Beamt*innen dabei spüren, sich öffentlicher Kontrollierbarkeit auszusetzen, kann in einem Rechtsstaat allenfalls in der psychologischen Supervision eine Rolle spielen. Dennoch wird im medialen und politischen Diskurs immer wieder auf Gefühle zurückgegriffen. Andere Behörden und die Presse verlassen sich allzu oft auf einseitige Einschätzungen und Lageberichte der Polizei, die eine wachsende Bedrohungslage für Beamt*innen konstruieren. So argumentierte etwa Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) bei der ersten Lesung des ›Gesetzentwurfes zum besseren Schutz von Polizisten und Rettungskräften‹ – der erneuten Verschärfung nach 2011: »Permanent« nähmen tätliche Angriffe gegen Polizeibeamt*innen zu. »Wir haben mittlerweile jedes Jahr über 60.000 Angriffe«.(3) Stützen konnte er sich dabei allenfalls auf die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), die überhaupt erst seit 2011 die Kategorie ›Polizeibeamtinnen/-beamte als Opfer‹ ausweist.
Mit einer allein von den Polizeibehörden gespeisten Statistik eine verlässliche Datengrundlage zu besitzen, glaubt vermutlich nicht einmal Herr Maas.(4) Denn aus der Zahl der Anzeigen lässt sich kaum auf die tatsächlichen Fälle schließen, zumal ein ›tätlicher Angriff‹ strafrechtlich unterhalb der (versuchten) einfachen Körperverletzung angesiedelt ist. Prof. Henning Ernst Müller, Inhaber des Strafrechtslehrstuhls an der Universität Regensburg und einer von sieben Sachverständigen des Rechtsausschusses zu dieser Gesetzesänderung, kam zu dem Ergebnis, dass „die Anzeigebereitschaft von Polizeibeamten bei eigener Betroffenheit von der allgemeinen Bevölkerung erheblich abweicht“, was die erfassten Fallzahlen erhöhe. Die Kriminalstatistik erscheine »weder in der Fallzählung noch in der Opferzählung geeignet, einen Anstieg der Delinquenz gegen Polizeibeamte in den vergangenen fünf Jahren objektiv zu belegen«.(5) Überhaupt schien der Koalition nicht sonderlich an wissenschaftlicher Expertise gelegen. Von den zitierten sieben Sachverständigen waren drei Polizist*innen, zwei davon wiederum polizeiliche Gewerkschaftsvertreter. Die Empfehlungen der juristischen Gutachter fanden bei der Gesetzesänderung keine Beachtung. So verzichtete man etwa auf die Regelung eines ›minderschweren Falles‹. Wenigstens drei Monate Freiheitsentzug drohen mittlerweile allen, von denen sich ein Polizist tätlich angegriffen sieht.
Zusammengefasst wurde somit der Polizei auf Drängen eines Interessenverbandes ein wirksames passives Recht verliehen, das nicht nur eine Sonderbehandlung darstellt – und damit dem Gleichbehandlungsgrundsatz widersprechen könnte –, sondern vermittels der Gegenanzeige auch wirksame Waffe gegen Bürger*innen sein kann, die Opfer von Rechtsverstößen durch Beamt*innen werden.(6) Obendrein mangelt es dem Straftatbestand des ›tätlichen Angriffs‹ notorisch an einer klaren Abgrenzung. So ist nicht ersichtlich, weshalb die Normen der Beleidigung, des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte sowie der gefährlichen oder einfachen Körperverletzung nicht ausgereicht hätten, um Angriffe auf Polizist*innen zu ahnden.
Während die sukzessive in Richtung paramilitärischer Schlagfähigkeit aufgerüstete Polizei(7) noch einmal gestärkt wird, drohen Grundrechte wie jenes der Versammlungsfreiheit untergraben zu werden. Damit siegt das persönliche Recht von Polizist*innen auf emotionale Unversehrtheit und öffentliche Anerkennung über das Prinzip der Kontrolle von Exekutivgewalt. Das politische Streben nach Ordnung und Sicherheit hebelt grundgesetzliche Prinzipien aus.

DER ABGRUND IST NAH, LASST UNS SPRINGEN

Die spätestens mit dem Nationalsozialismus offenkundig notwendig gewordene Kultur der Skepsis gegenüber obrigkeitlicher Macht und jedem Legalismus, die den Grund- und Bürgerrechte-Teil des Grundgesetzes durchzieht, verliert massiv an Bedeutung. Wenn sich legislatives Handeln in erster Linie auf die Bedürfnisse jener Verwaltung gründet, deren Kontrolle doch lege artis gerade Kernaufgabe des Gesetzgebers ist, ist auch der autoritäre Law-and-Order-Staat keine hysterische Zukunftsvision. So sehr ein zumindest latenter Vertrauensvorschuss gegenüber Beamt*innen systemimmanent nachvollziehbar ist, so wenig darf sich daraus ein grundsätzlicher Legitimitätsüberhang ergeben.
Obendrein deuten umfassend dokumentierte Beispiele von Polizeigewalt, eine selbst von der verwaltungsnahen Forschung eingeräumte Praxis des Racial Profiling(8) sowie der deutliche Überhang eingestellter Ermittlungsverfahren gegen Beamt*innen auf eine Tendenz zur Selbstermächtigung polizeilichen Handelns bei Personenkontrollen, Demonstrationen und generell im ohnehin heiklen Bereich des präventiven Verwaltungshandelns. An den Bahnhöfen und auf den Autobahnrastplätzen(9) und genereller überall dort, wo Ordnung und Sicherheit nicht erst seit kurzem vor Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gehen, agiert die Polizei faktisch als sich zunehmend verselbstständigende ordnungspolitische Akteurin. Der Vorbehalt des Gesetzes als Grundlage alles Verwaltungshandelns wird dabei mitunter faktisch außer Kraft gesetzt.
Und ein Ende ist nicht in Sicht: Neben der Verschärfung der §§ 113 bis 115 StGB dehnt der Gesetzgeber zuverlässig Kompetenzen aus, wenn andere Maßnahmen populistisch nicht wirkmächtig genug erscheinen oder der ›Schwarzen Null‹ abträglich sind. So wären sozialpolitische Maßnahmen sicherlich das bessere Mittel gegen jene Gewaltbereitschaft, die Polizist*innen entgegenschlagen mag, als die Einführung von Bodycams. Darüber hinaus sind Zeugen nun verpflichtet, auf Ladung bei der Polizei zu erscheinen.(10) Jene Polizei, die ihre eigenen polizeitaktischen Ausführungen im Zweifelsfall nachweislich mit falschen Tatsachenbehauptungen erklärt(11) und womöglich sogar Waffen verwendet, deren Einsatz explizit untersagt ist,(12) wird also besser ausgestattet und gleichzeitig mit umfassenderen passiven Rechten versehen.
Gerade vor diesem Hintergrund müssten die unmittelbaren Möglichkeiten einer Verfolgung von nicht-systematischen Rechtsverstößen durch Einzelne umso konsequenter ausgeschöpft werden. Ohne individuelle Kennzeichnung von Polizist*innen kann eine solche Wieder-Verrechtstaatlichung der Polizeipraxis nicht geschehen. Ausreichend wäre sie indes nicht. Die Einsetzung von Polizeibeauftragten als Ansprechpartner*innen für interne Kritik und Bürger*innen – wie aktuell in Berlin diskutiert und bspw. in Rheinland-Pfalz mit dem Bürgerbeauftragten unzureichend umgesetzt – kann ebenfalls nur ein erster Baustein sein, der eine unabhängige Kontrolle jedoch nicht ersetzt. Für eine ernsthafte strukturelle Analyse jedoch müsste zunächst der sakrosankte Status des ›Schutzmanns‹ aus der preußischen Ordnungsromantik fallen.

Fußnoten

(1) http://www.sueddeutsche.de/muenchen/gerichtserfolg-fuer-pruegelopfer-zahlen-bitte-1.3744773
(2) https://www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/polizei-kennzeichnungspflicht-100.html
(3) http://www.bmjv.de/SharedDocs/Reden/DE/2017/02172017_BT_Schutz_Vollstreckungsbeamte.html
(4) https://www.bundestag.de/blob/499236/16b128a08c.d347480cbe33a15344730d/mueller-data.pdf
(5) Müller, Henning Ernst: Stellungnahme zum Gesetzesvorhaben (https://www.bundestag.de/blob/499236/16b128a08c.d347480cbe33a15344730d/mueller-data.pdf); siehe zu Müllers Auffassung außerdem: https://community.beck.de/2017/02/20/zum-geplanten-ss-114-stgb-taetlicher-angriff-auf-vollstreckungsbeamte
(6) https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/gewalt-gegen-polizisten-102.html
(7) Für eine beispielhafte, aber nicht vollständige Auflistung vgl. http://www.swp.de/ulm/nachrichten/suedwestumschau/ aufruestung-der-polizei-15316952.html; http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/hamburg-polizei-bekommt-panzerwagen-und-sturmgewehre-a-1121268.html
(8) Vgl. etwa das Interview mit dem Polizeiforscher Rafael Behr, https://www.jetzt.de/politik/rassismus-in-der-polizei-interview-mit-dem-polizeiwissenschaftler-rafael-behr
(9) http://www.spiegel.de/politik/deutschland/g20-polizei-setzt-bus-mit-demonstranten-fest-staatsanwaltschaft-ermittelt-a-1160513.html
(10) https://www.heise.de/tp/features/Grosse-Koalition-verschlechtert-Rechtsposition-von-Zeugen-3755739.html
(11) Vgl. exemplarisch: https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2017/10/twitter-polizei-friedelstrasse-berlin-fake-news-kontraste.html
(12) http://www.spiegel.de/panorama/justiz/g20-polizei-soll-rechtswidrig-granatpistole-eingesetzt-haben-a-1176695.html