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›Der Mensch, der schießt‹

REZENSION ZUM BAND VON ›SLING‹

Ulrich von Klinggräff

Paul Felix Schlesinger, genannt Sling, gilt als der bekannteste Gerichtsreporter der Weimarer Republik. Zunächst als Mitglied des Münchner Kabaretts ›Die elf Scharfrichter‹ und später als Mitarbeiter u.a. der Kulturzeitung ›Die Weltbühne‹ und des Satiremagazins ›Simplicissimus‹ war er ab 1921 bis zu seinem Tod im Jahr 1928 Gerichtsreporter der ›Vossischen Zeitung‹. Aus dieser Zeit erwächst sein Ruf als Begründer der modernen Gerichtsreportage.
Bereits kurz nach seinem Tod erschien unter dem Titel ›Richter und Gerichtete‹ eine Auswahl seiner Texte, herausgegeben von Robert Kempner, den späteren Anklagevertreter im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess. Das Vorwort stammt von Gustav Radbruch. Dieser hat in seinen ›Nachträgen zur Rechtsphilosophie‹ die Bedeutung Slings hervorgehoben:
»Erst der unvergessene Paul Schlesinger hat unter dem Namen Sling den Gerichtsbericht zur Kunstform erhoben und ein bisher unerreichtes Vorbild der Justizreportage nach der Seite kritischer Rechtsbetrachtung sowohl wie menschlicher Einfühlung und sozialen Mitgefühls aufgestellt«.
Lange Jahre sind die Gerichtsreportagen von Paul Schlesinger nicht mehr lieferbar gewesen. Unlängst aber hat der Verlag Lilienfeld wieder eine Sammlung seiner wichtigsten Artikel aus den 1920er Jahren neu verlegt. Der Titel des Buches ist der Anfang eines programmatisch zu nennenden Artikels aus dem Jahre 1926. Hier finden sich diese Sätze, die immer wieder zitiert werden und welche die Berühmtheit begründen, welche Sling mit seinen Berichten aus dem Moabiter Kriminalgericht erlangte:
»Der Mensch, der schießt, ist ebenso unschuldig wie der Kessel, der explodiert, die Eisenbahnschiene, die sich verbiegt, der Blitz, der einschlägt, die Lawine, die verschüttet. Alles tötet den Menschen, auch der Mensch tötet den Menschen. […] Die Erkenntnis von der Nutzlosigkeit der Strafe stellte sich etwa zu derselben Zeit ein wie die andere Erkenntnis von der Unschuld des explodierenden Menschen. Ob Vererbung, Milieu, Not, Schicksalsstellung, eine zu warme Nacht oder ein Glas Kognak zuviel zu der Explosion des Menschen Veranlassung gaben oder mangelhafter Verschluss oder Dünnwandigkeit des Nervenkessels: wir haben für alles unsere Erklärungen durch die nie rastende Arbeit unserer Psychologen und Psychiater bezogen. Nutzlosigkeit der Strafe (im Sinne der Besserung) und die Unschuld des Menschen gäben uns ja eigentlich Veranlassung, dies Strafgesetzbuch zu zerreißen; aber wir tun es nicht, denn noch bleibt ein Strafzweck übrig: die Abschreckung«.
Die Skepsis Slings gegenüber dem Strafprozess und seinen professionellen Akteuren bleibt ein zentrales Motiv seiner Prozessberichte. Mit seinen Artikeln trug er maßgeblich zu Justizreformen bei, etwa im Zusammenhang mit der gängigen Praxis der Zeugenvereidigung und den daraus resultierenden zahllosen Meineidsprozessen. Darüber hinaus ist seine Arbeit als bedeutsam anzusehen für ein neues Verhältnis zwischen Presse und Justiz, welches auf Unabhängigkeit und Selbstbewusstsein der Presse beruht.
In ›Der Mensch, der schießt‹ sind nun Reportagen über ganz unterschiedliche Verfahren versammelt: große, spektakuläre Mordverfahren der Weimarer Republik finden sich neben kleineren, teilweise skurrilen Verfahren, etwa zur Frage, ob die Bezeichnung ›Hosentrompeter‹ nun eine Beleidigung darstellt oder nicht. Das ganze pralle Leben eben. Die Sachverhaltsbeschreibung ist dabei eher knapp gehalten, so bleibt mehr Raum für die wesentlichen Fragen.
»Hinterhaustragödie in Berlin SO. Nach sechs Jahren einer unglücklichen Ehe schlug die Frau mit dem Beil auf den Kopf des Mannes. Er blieb am Leben, sie musste sich nun wegen versuchten Totschlags verantworten«.
Die große Kunst Slings ist es, vielschichtige und empathische Portraits der Angeklagten (oder auch anderer Handelnder) zu entwerfen, welche erstaunlich unabhängig von dem konkreten Anklagevorwurf sind. Die Erniedrigten und Beleidigten, die Gestrandeten und Gescheiterten, die Hochstapler und die Aufschneider – sie alle bekommen in kurzen, skizzenhaften Beschreibungen ein Gesicht.

»Aus dem Untersuchungsgefängnis wird der Artist Hugo vorgeführt. Gebeugt geht er, mit eigentümlich schlurfenden Schritt, auf die Anklagebank zu. Nun erst sieht man ihn: ein bleicher und eigentümlich schöner Kopf. Wie gut ist die hohe Stirn gebildet, wie fein, sanft gebogen die Nase gezeichnet, wie fein auch der Mund unter dem netten blonden Bärtchen. Aber die kleinen hellen, tiefliegenden Augen sind merkwürdig, jeden Ausdrucks fähig. Bescheidenheit und Frechheit, Sanftmut und Gewalttätigkeit, Liebenswürdigkeit und Zynismus – das wechselt in jedem Blick dieser Augen«.
Einzelne Prozesse, welche Sling beschreibt, haben Geschichte geschrieben. Der ›Mordprozess Krantz‹ etwa, der als ›Steglitzer Schülertragödie‹ in die Geschichte eingegangen ist und maßgebliche Impulse für die Entwicklung des Jugendstrafrechts, u.a. den der Nichtöffentlichkeit der Jugendverfahren, gegeben hat. Dieser Prozess ist aus der Perspektive der Verteidigung von dem damaligen Verteidiger Dr. Erich Frey in seinem Buch ›Ich beantrage Freispruch‹ in seiner ganzen Dramatik dargelegt worden. Sling beschreibt seine Fassungslosigkeit über die Geistlosigkeit und die Brutalität eines Verfahrens, in dem die jugendlichen Zeuginnen öffentlich zu intimen Beziehungen befragt werden und mit dem ihre seelischen Wirrnisse einer kaltschnäuzigen Justiz unterworfen wurden.
»Aber nein, die Routine macht es: gemeinschaftlicher Mord, Verabredung zum Mord. Und die Staatsanwaltschaft im Gerichtssaal – ein vergessenes Requisit der Wilhelminischen Ära, von verzweifelter Überflüssigkeit«.
In seinen Berichten begegnen wir dem Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld als Sachverständigen sowie dem Publizisten Carl von Ossietzky und dem Schriftsteller Erich Weinert als Angeklagte. Letzterer soll – so der Vorwurf – der deutschen Marine den Vorwurf der Völlerei und der Unzucht gemacht haben. Die Verteidigung scheitert mit dem Versuch des Wahrheitsbeweises.
»Es ist aber auch kein Glück für einen Staatsanwalt, das ganze schwere Geschütz nationaler Entrüstung auffahren zu müssen, um ein recht unbeträchtliches Gedichtlein zu treffen«.
Und bei der Beschreibung der Atmosphäre des Kriminalgerichts von Moabit stellt man verwundert fest, dass die Zeit an diesem Ort stehen geblieben ist:
»Lautlosigkeit ist eine der unheimlichen Komponenten der Moabiter Atmosphäre. […] Mal tönt die Stimme eines Wachtmeisters, der eine Sache, einen Zeugen aufruft. Ganz selten, und umso erschreckender, der Schrei eines Nervenkranken, das anhaltende Stöhnen eines Epileptikers, der Wutausbruch eines Verurteilten, das Trompetengezänk von Parteien, die ihren Streit auch außerhalb des Gerichtssaals fortsetzen.
Sonst aber Schweigen, garantiert durch das Vorhandensein von zwei inneren Treppensystemen, deren Existenz eigentlich erst im Gerichtssaal selbst in Erscheinung tritt. Das eine System führt die Zuschauer von der Straße her, das andere die inhaftierten Angeklagten auf verschwiegenen Wegen vom Untersuchungsgefängnis direkt in den Gerichtssaal. Wird im Saal mal eine sofortige Verhaftung verfügt: eine Tür öffnet sich, eine Gestalt ist verschluckt
«.

Paul Schlesinger: Der Mensch, der schießt. Berichte aus dem Gerichtssaal. Düsseldorf: Lilienfeld Verlag 2013

Ulrich von Klinggräff ist Rechtsanwalt in Berlin und Mitglied im erweiterten Vorstand des RAV.