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Demokratische Rechte verteidigen

VORTRAG NACH DEM G20-GIPFEL IN HAMBURG

Gabriele Heinecke

Wie aus einer entfernten anderen Welt klingen die Worte des Bundesverfassungsgerichts der 1980er Jahre über die grundlegenden Freiheiten in der Demokratie. Im Volkszählungsurteil wurde die staatliche Datensammelwut und im Brokdorf-Beschluss das flächendeckende Demonstrationsverbot mit beeindruckender Klarheit als verfassungswidrig gegeißelt. Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung sei eine Gesellschaftsordnung nicht vereinbar, in der Bürger*innen unsicher seien, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden. Da liest man: 

»Werdamit rechnet, dass etwa die Teilnahme an einer Versammlung […] behördlich registriert wird und dass ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner[…] Grundrechte verzichten. Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl…«.

Die Wahl von Ort, Zeit, Art und Inhalt von Versammlungen und Demonstrationen sind frei. Sie enthalten »ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren«, so bestimmt es der Brokdorf-Beschluss. An beide Entscheidungen ist jede Behörde und jedes Gericht in diesem Land gebunden.
Vergleicht man diese schönen Worte mit der anlässlich des G20-Gipfels erlebten Wirklichkeit, verbleibt ein Trümmerhaufen der Grundrechte. Dabei sollte nach der Ankündigung des Innensenators Andy Grote im Mai 2017 der Gipfel ein »Festival der Demokratie« werden. Regierungschefs mit »problematischem Demokratieverständnis« sollte gezeigt werden, wie eine lebendige, demokratische, weltoffene Stadt mit »moderner Polizeiarbeit« funktioniert. Eigens für die Großen Zwanzig wurde in der Elbphilharmonie ›Freude schöner Götterfunken‹ gespielt, Beethovens Neunte – naja, auch für Diktatoren. Der Text der Sinfonie stammt aus Schillers Gedicht ›An die Freude‹. Für heutige Verhältnisse ganz aktuell beginnt die siebente Strophe mit: »Unser Schuldbuch sei vernichtet, ausgesöhnt die ganze Welt«.
Davon konnte in Hamburg keine Rede sein. Auch das ›Festival der Demokratie‹ fiel aus. Wir alle wissen, was es gab: eine provozierte Eskalation. Entgegen der klaren Vorgaben des Brokdorf-Beschlusses verbot die Hamburger Polizei für die Zeit des G20-Gipfels auf einer Fläche zwischen Hafen und Flughafen in einem Stadtgebiet von 38 Quadratkilometern jede Versammlung und Demonstration. Die Polizei übernahm die Stadt mit über 30.000 Landes- und Bundespolizeikräften, über 3.000 Einsatzfahrzeugen, mit Räumpanzern, Wasserwerfern, Hubschraubergeschwadern, 62 Booten, 153 Polizeihunden, der »größten Ballung von Dienstpferden deutschlandweit«, deutschen und österreichischen Sondereinsatzkommandos. Bei jeder Demonstration fanden sich polizeiliche Beobachtungs- und Dokumentationstrupps mit laufender Videokamera. Der Leiter der Soko ›Schwarzer Block‹ hat jüngst mitgeteilt, die Polizei werte zurzeit 25.000 Videos aus.

›AMTSGERICHT NEULAND‹: EIN NAME WIE EIN OMEN

Dazu schrieb unter der Überschrift »Eine harte Linie gebiert Eskalation« Professor Dr. Alberts am 9. Juli 2017 einen Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung: Man müsse anmerken, vielleicht sogar vorwerfen, dass die Positionen und die Handlungen der polizeilichen Entscheidungsträger in Hamburg nicht dem Erkenntnisstand der Polizei-Wissenschaft entsprochen hätte. Jahrelang hätte man an der Hochschule der Polizei in Münster Versammlungsszenarien durchgespielt und immer wieder festgestellt, dass die harte Linie zur Eskalation führt. Er habe die Hamburger Polizeiführung 20 Jahre im Verfassungsrecht und im Versammlungsgrundrecht ausgebildet. Auch der Gesamteinsatzleiter G20, Hartmut Dudde, sei dabei gewesen. Doch leitende Polizeibeamte seien ergebnisorientiert und setzten sich vorsätzlich über Grundrechtspositionen hinweg. Kann man das Demokratie nennen?
Hamburg, im Juli 2017: Schlachthofstraße, Hamburg-Harburg. Früher war es das Gelände eines Supermarktes, dann einer Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge. Zum G20-Gipfel wurden die 12.000 Quadratmeter zu einer Gefangenensammelstelle für Gipfelgegner. 150 Einzelzellen, weitere Sammelzellen, insgesamt 400 Plätze für Gefangene. Hunderte wurden während der Tage des Gipfels in die Gefangenensammelstelle verbracht, das war verbunden mit entwürdigenden körperlichen Totalkontrollen mit Sicht in alle Körperöffnungen und endlosen Wartezeiten in stickigen Zellen. Auf demselben Gelände war eine Außenstelle des Amtsgerichts Hamburg aus dem Boden gestampft worden, ein Containergericht mit acht Verhandlungsräumen. Nach dem Stadtteil hieß es ›Amtsgericht Neuland‹. Schon der Name erschien wie ein Omen.
Auf dem langen Flur des ›Amtsgerichts Neuland‹ standen Polizeibeamte mit gelben Laibchen und der Aufschrift ›Polizei‹. In den Verhandlungsräumen saßen Staatsanwaltschaft, das Gericht und Protokollführung hinter einer Balustrade, alle mit blauen Laibchen, Aufschrift ›Justiz‹. Wir – Anwäl- tinnen und Anwälte des Anwaltlichen Notdienstes – trugen auch Laibchen, rosa, mit der Aufschrift ›Legal Team‹. Eine allgemeine Uniformierung, der Aufbau einer separaten Haft- und Justizeinheit zur Verfolgung von Gipfelgegnern, die reihenweise bis zum Ende des Gipfels in Polizeigewahrsam und zum Teil in Untersuchungshaft genommen wurden. Als Grund hierfür wurde unter anderem § 114 Strafgesetzbuch angeführt.

ABSURD UND GEFÄHRLICH

§ 114 StGB ist eine Vorschrift, die pünktlich zum G20-Gipfel im Juni 2017 in Kraft getreten ist und den ›tätlichen Angriff‹ gegen Vollstreckungsbeamte unter eine Mindeststrafe von drei Monaten Gefängnis stellt. Es ist vor allem ein Angriff auf die Versammlungsfreiheit, mit der in Hamburg wie in einem Feldversuch praktische Erfahrungen gesammelt worden sind. Im Rahmen der Verfolgung von Gipfelgegnern hat die Staatsanwaltschaft ihre Auslegung der Vorschrift offenbart: Schon das gemeinsame Zugehen im Pulk auf Polizeibeamte stelle eine erhebliche Kraftentfaltung dar, die auf einen unmittelbaren körperlichen Zwang gerichtet sei. Einer tatsächlichen Berührung bedürfe es nicht.
Am 7. Juli gegen 6.30 Uhr stellte sich eine Hundertschaft der Bundespolizei am Rondenbarg einer zu dem Zeitpunkt friedlich marschierenden Demonstration in den Weg. Das Zulaufen auf diese Polizeikette wird jetzt als Straftat verfolgt. Was heißt das? Es bedeutet, dass es der Polizei überlassen bleiben soll, durch ihr Verhalten das strafbare Verhalten von Demonstrationsteilnehmenden zu begründen. Es ließe sich in Zukunft jede Studierendendemonstration, jeder Marsch der Gewerkschaften, jeder Streik, der mit einer Demonstration über das Betriebsgelände und aus den Betriebstoren hinaus geht, als kriminell diskreditieren, wenn die Polizei den Weg versperrt. Das ist absurd und gefährlich.
De Maizière in Berlin und Olaf Scholz in Hamburg haben »harte Strafen« für die festgenommenen Gipfelgegner gefordert, ohne klare Informationen über die Vorgänge vor Ort zu haben. Doch die Justiz scheint ihren Ruf gehört zu haben. Drakonische Haftstrafen werden für Sachverhalte verhängt, für die es bisher Arbeitsauflagen bei Jugendlichen, Geldstrafen oder maßvolle Bewährungsstrafen bei Erwachsenen gegeben hätte. Jetzt wird ein deftiger Polit-Malus aufgeschlagen. Die Hamburger Justiz zu G20 ist unverhältnismäßig, sie ist maßlos.
Wem an dem Erhalt der demokratischen Rechte liegt, muss sich gegen diese Entwicklung stellen. In Hamburg herrschte ein Ausnahmezustand mit einer flächendeckenden Aushebelung des Versammlungsrechts und mit einer erschreckenden Rücksichtslosigkeit von Seiten der Polizei gegenüber Leib und Leben der Demonstranten. Mit Geschrei wurde auf die Randale in der Schanze gezeigt und von Olaf Scholz die Lüge verbreitet, dass es keine rechtswidrige Gewalt der Polizei gegeben habe.

GEGENBEWEGUNG GEGEN AUTORITÄRE ENTWICKLUNG

Es darf nicht sein, unter Hinweis auf einzelne Straftaten am Rande von Demonstrationen oder auf – unter den Augen der Polizei erfolgten – nächtliche Riots die Unverbrüchlichkeit von Grundrechten in Frage zu stellen. Und es darf nicht sein, jetzt unter dem Ruf nach hohen Strafen für angebliche Gewalttäter von den massiven Fehlern und Rechtsbrüchen der Polizei abzulenken. Das alles erschüttert Demokratie und höhlt demokratische Rechte aus.
»Die Diktatur hinter der Fassade formaler Demokratie« nannte 1966 Georg Benz von der IG Metall die Notstandsgesetze. Während des G20-Gipfels war nicht einmal mehr die Fassade zu sehen. Wir brauchen eine Gegenbewegung gegen solche autoritäre Entwicklung, und sie sollte bald an Breite gewinnen. Die demokratische Bewegung der 1960er Jahre prägte den Begriff des ›Notstands der Demokratie‹. Er ist aktuell. Lasst uns aufstehen gegen den Notstand der Demokratie, für die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, die Freiheit der Presse und der informationellen Selbstbestimmung! Gegen eine autoritäre Politik, die mit paramilitärischer Macht die Herstellung der Ruhe im Inland probt, während sie nach außen mit militärischer Macht die – wie es im Weißbuch der Bundeswehr heißt – angeblich »politischen und wirtschaftlichen Interessen Deutschlands weltweit« verfolgt.

Gabriele Heinecke ist Rechtsanwältin in Hamburg und Vorstandsmitglied des RAV; sie war Pressesprecherin des Anwaltlichen Notdienst während des G20-Gipfels; die Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion eingefügt.