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Angriff auf Rechtsstaat

ZUM SICHERHEITSPOLITISCHEN KONSTRUKT DES ›GEFÄHRDERS‹

Jörg Arnold

Die Überschrift einer Pressemitteilung des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV) vom 14. Juli lautet »Bilanz der G-20-Proteste: ›Feindbild Demonstrant‹«. Beklagt wird darin auch, dass selbst Juristen bei ihrer rechtlichen Unterstützung von Gipfelgegnern mit diesem Feindbild gleichgesetzt wurden. Einigen von ihnen, besonders jenen, die Mitglied im RAV sind, wurde von der Hamburger Polizei unterstellt, Straftaten zu fördern. Jedenfalls gehe von ihnen eine »Gefahr« aus. Die Vermutung einer entsprechenden Grundhaltung der Hamburger Polizei erinnert fatal an das Stigma, mit dem die Arbeit der Anwälte, die als Strafverteidiger in den RAF-Prozessen tätig waren, versehen wurde: als von vornherein staatsfeindlich, mindestens unerlaubt und verdächtig. Der in Hamburg erfolgte Angriff auf die freie Advokatur als einer »Errungenschaft des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates« – so der erste Vorsitzende des RAV, Werner Holtfort, im Jahre 1977 – erscheint aber ›nur‹ als ein Ausdruck des Angriffs auf den demokratischen Rechtsstaat insgesamt. Was in Hamburg an von der Politik geduldeter und geforderter polizeilicher Gewalt zu erleben war, muss demokratisch vorbehaltlos aufklärt werden, statt sie zu verklären oder von vornherein zu verteidigen. Bei notwendiger kritischer Betrachtung könnte sich erweisen, dass hier in einem Ausnahmezustand agiert und dabei das Verfassungsrecht ebenso außer Kraft gesetzt wurde wie gerichtliche Entscheidungen. Erforderlich ist auch die Beantwortung der Frage, inwieweit man sich dabei auf dem Weg in einen partiellen Sicherheits- und Polizeistaat befand.Solches Agieren ist dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben zufolge ein die westlichen Demokratien immer stärker erfassendes Phänomen. Es sei ein Kennzeichen dieser Entwicklung, dass sogenannte Sicherheitsgründe den Platz dessen eingenommen haben, was man früher Staatsräson nannte. Bereits im Jahre 2003 hatte Agamben den Ausnahmezustand beschrieben als jenes Recht, in dem die Rechtsgültigkeit aufgehoben ist, und dabei als historische Mahnung auf die fatale Rechtfertigung bei Carl Schmitt verwiesen, wonach der Souverän den Ausnahmezustand verkünden, mithin den Rechtszustand außer Kraft setzen kann.Zur Aufhebung der Rechtsgültigkeit gehört auch, einen Begriff wie den des ›Gefährders‹ aus dem Hut zu zaubern – der kein Rechtsbegriff ist, sondern, wie kritische wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, ein sicherheitspolitisches Konstrukt zur changierenden Bekämpfung von Risikofaktorenund der ›Feinde‹ der Demokratie. Es ist darin gerade angelegt, dass die Feststellung der Risikofaktoren und der ›Feinderklärung‹ beliebig möglich ist. Von gewaltbereiten ›Gefährdern‹ ausgehende reale und durch nichts zu rechtfertigende Gewalt lässt sich so durchaus auch provozieren, gegen die dann vor den Augen der Weltöffentlichkeit entweder so konsequent die staatliche und öffentliche Ordnung schützend vorgegangen bzw. vor der mit unterschiedlichen Begründungen kapituliert wird, ja möglicherweise kapituliert werden soll. Dies alles erfolgt im Namen eines obersten Prinzips ›Sicherheit‹, dessen Bezug zur realen oder einer produzierten Wirklichkeit nicht mehr klar ist. Auf diese Weise lassen sich demokratische Legalitäts- und Legitimationsprozesse flexibel aushebeln und wesentliche Grundrechte verletzen. Davon zeugt gerade jüngst auch das bayerische ›Gefährdergesetz‹. Was die sicherheitspolitischen Akteure auf diesem Feld übersehen oder bewusst nicht sehen wollen: Im Grunde sind gerade sie es, die damit die Demokratie gefährden. Sie handeln im Glauben, auch den gewaltfreien Widerstand gegen den antidemokratischen Neoliberalismus schon im Keim ersticken zu müssen.Gipfelveranstalter, Polizei und Medien rücken allein die sinnlose Gewalt, Plündereien und Zerstörungen in den Fokus der Öffentlichkeit. Das ist zwar richtig und wichtig für die von dieser Kriminalität unmittelbar Betroffenen, jedoch ist offensichtlich vor allem gewollt, einerseits die Gewaltereignisse politisch zu instrumentalisieren, um die berechtigten Interessen der gewaltfrei protestierenden Gipfelgegner in den Hintergrund zu drängen und andererseits friedliche linke Bewegungen zu diskreditieren. Nichtsdestotrotz entlässt das auch die politische Linke nicht aus der Verantwortung, darüber zu reden, was ihrerseits schief gelaufen ist und welche Konsequenzen zu ziehen sind. Die Forderung Werner Holtforts nach einer streitbaren Anwaltschaft, die sich als Rechtshelfer sozialer Gegenmacht versteht, bedeutet auch, den friedlichen Widerstand gegen den Hamburger Gipfel weiterzutragen in eine gewaltfreie soziale Massenbewegung gegen die tiefen Ungerechtigkeiten »einer kannibalischen Weltordnung« (Jean Ziegler). 

Prof. Dr. Jörg Arnold ist Rechtsanwalt in Freiburg/Brsg. und Mitglied im erweiterten Vorstand des RAV; Nachdruck aus: junge Welt, 27. Juli 2017: 3.

Wir danken den Kolleginnen und Kollegen für die Nachdruckerlaubnis.