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Verfassungsrechtliche Pflichten zur Beobachtung von Überwachungsmaßnahmen

LEGISLATIVE UND JUDIKATIVE UNZULÄNGLICHKEITEN AM BEISPIEL VON ÜBERWACHTEN VERTEIDIGERGESPRÄCHEN

FREDRIK ROGGAN

I. PROBLEMAUFRISS

Es entspricht gewiss keinem Betriebsgeheimnis des Bundesverfassungsgerichts, dass bestimmte Kommunikationsbeziehungen des besonderen Schutzes bedürfen. In unmissverständlicher Klarheit heißt es etwa in der Entscheidung zum Lauschangriff, dass unter anderem auch dem Gespräch mit dem Strafverteidiger die zur Wahrung der Menschenwürde wichtige Funktion zukomme, dass der Beschuldigte nicht zum bloßen Objekt im Strafverfahren wird.(2)
  In der Praxis der Strafverfolgung spielt die akustische Wohnraumüberwachung freilich eine untergeordnete Rolle. Umso mehr stellte sich in der Vergangenheit und stellt sich auch aktuell die Frage, welche Folgerungen aus diesem Ausspruch für andere Beweiserhebungsmethoden zu ziehen sind. Denn wenn also der Kontakt zwischen Verdächtigem und seinem Verteidiger (abwägungsfest!) tabu sein soll und folglich im Grundsatz ein Überwachungsverbot zu gelten hat, so muss das Recht eine Antwort auf die Frage geben, wie mit dem an sich bereits im Ansatz zu vermeidenden Fall der Verletzung dieses Vertrauensverhältnisses umzugehen ist.

II. VERMEINTLICHE KLARHEITEN IN DER STRAFPROZESSORDNUNG

Ein erster Blick könnte den Eindruck vermitteln, dass sich die Strafprozessordnung in vorbildlicher Weise um den Schutz des Beschuldigten-Verteidiger-Kontakts kümmert. Beispielsweise auf allgemeine Ermittlungsmaßnahmen bezogen statuiert sie ein Verbot in § 160a Abs. 1 S. 1, indem entsprechende Maßnahmen schlicht als »unzulässig« bezeichnet werden. Für den ›Fall der Fälle‹ richtet sie im folgenden Satz einen ›Reparaturbetrieb‹ ein und versieht dennoch erlangte Erkenntnisse mit einem Verwendungsverbot. Das genannte Verbot gilt im Hinblick auf die Menschenwürderelevanz des hier interessierenden Vertrauensverhältnisses absolut.(3) In wiederum vermeintlicher Klarheit folgt hierauf ein Gebot unverzüglicher Löschung. Damit, so wohl die gesetzgeberische Vorstellung, wäre der Tabubruch zwar nicht ungeschehen, wohl aber unschädlich gemacht. Tatsächlich kann aber der status quo ante nicht wieder hergestellt werden.(4)
  Ein vergleichbares Verfahren gilt auch bei der Telekommunikationsüberwachung: Auf der ersten Stufe gilt ein untauglicher, wenngleich verfassungsgerichtlich unbeanstandeter(5) Versuch der Vermeidung von Verletzungen des Kernbereichs privater Lebensgestaltung, auf der darauf folgenden Reparaturstufe ein (absolutes) Verwertungsverbot sowie ein Gebot unverzüglicher Löschung. Das Gebot der unverzüglichen Löschung von Erkenntnissen hat seinen Ursprung wiederum in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Lauschangriff, in dem es heißt, dass jede weitere Aufbewahrung von höchstpersönlichen Daten, die nicht hätten erhoben werden dürfen, zu dem Risiko einer Vertiefung der Persönlichkeitsverletzung (»Perpetuierung«) führt.(6) Und eben dieses Risiko, das sich beispielsweise in einer abermaligen Kenntnisnahme durch einen Angehörigen der Strafverfolgungsorgane, in einer Übermittlung der Daten an andere Stellen o. ä. realisieren kann, ist aus verfassungsrechtlichen Gründen zu vermeiden. Überhaupt nicht in den Griff zu bekommen ist damit freilich das »psychologische Akrobatenstück einer Auslöschung« des Wissens der die Überwachung durchführenden Polizeibeamten.(7)
  Unabhängig von letztgenanntem Phänomen gilt: Jeder Augenblick der weiteren Speicherung von unzulässig erhobenen Daten ist verfassungswidrig. Aus diesem Grundsatz folgt das Gebot der Unverzüglichkeit der Datenlöschung. Die Unklarheiten beginnen indessen bereits beim Begriff der Unverzüglichkeit, der seinerseits in der Strafprozessordnung nicht legaldefiniert wird. In der Kommentarliteratur ist diesbezüglich – wohl in Anlehnung an die Wendung in § 121 Abs. 1 S. 1 BGB – verbreitet zu lesen, dass die Löschung »ohne schuldhaftes Zögern« zu erfolgen habe.(8) ›Schuld‹ aber meint eine individuelle Vorwerfbarkeit, womit es bei der Frage der Umsetzung des genannten verfassungsrechtlichen obligo in zeitlicher Hinsicht auf eine höchstpersönliche Verhaltensweise des jeweiligen Amtswalters ankäme. Sie stellte sich dann als höchstpersönliche Verpflichtung dar, nicht als eine solche der Strafverfolgungsbehörde. Letztere aber kann weder schuldhaft oder schuldlos handeln, sondern nur rechtmäßig oder rechtswidrig.
  Richtigerweise wird man deshalb anzunehmen haben, dass sich Verzögerungen bei der Löschung nur aus sachlichen Gründen ergeben können.(9) Wenn erlangte Erkenntnisse also beispielsweise aus sprachlichen Gründen nicht sofort als Verletzung eines Erhebungsverbots erkannt werden (etwa, weil ein Verteidiger in fremder Sprache mit seinem Mandanten kommuniziert), kann sich der Augenblick, ab dem die Löschungsverpflichtung greift, wegen der zu organisierenden Übersetzungsleistungen zeitlich verschieben.
  Vor allem aber ergibt sich aus dem zuvor Gesagten, dass es eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zum zeitnahen Erkennen von Verletzungen des Verteidiger-Verdächtigen-Kontakts gibt. Dies wiederum setzt logisch eine Verpflichtung zur unverzüglichen Auswertung von Beweiserhebungen voraus, die damit gleichsam verfassungsrechtlichen Ursprung besitzt. Es steht den Strafverfolgungsbehörden hiernach nicht frei, Beweise zum Zwecke der Auswertung in unbestimmter Zukunft zu erheben. Als nähere Konkretisierung lässt sich hieraus ableiten, dass an die Verpflichtung zur Gewährleistung einer unverzüglichen Auswertung umso höhere Anforderungen zu stellen sind, je wahrscheinlicher bei einer abstrakten Betrachtung sowie nach den konkreten Umständen das Betroffensein von unantastbaren Sphären ist.

  Als Zwischenfazit ist zu konstatieren, dass die Strafprozessordnung die genannten verfassungsrechtlichen Anforderungen im Ansatz durchaus erfüllt, sie jedoch im Detail keine Maßgaben enthält, wie das Kriterium der Unverzüglichkeit zu verstehen ist und – daraus resultierend – welche Kautelen bei der Auswertung gerade auch bei überwachter (Tele)Kommunikation zu beachten sind.

III. DIE (UNBEABSICHTIGTE) OFFENBARUNG DER UNZULÄNGLICHKEITEN DURCH DEN BGH

Das Dilemma fehlender Regelungstiefe im Bereich des Schutzes der Verteidigerkommunikation lässt sich vortrefflich an einer jüngeren Entscheidung des Dritten Senats des BGH10 veranschaulichen: Hintergrund des Beschlusses vom 18. Februar 2014 ist ein Verfahren wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland (§ 129b StGB). Im Zuge der Überwachung der Telekommunikationsanschlüsse des Beschuldigten wurden Mitte Dezember 2011 u.a. auch zwei Gespräche mit seinem im Folgenden beauftragten Verteidiger aufgezeichnet. Eines dieser Gespräche war mit einer dritten Person geführt worden. Gegenstand war aber jeweils die Anbahnung des Mandatsverhältnisses. Über die Ergebnisse der Ende Dezember 2011 beendeten Überwachung erstellte das Bundeskriminalamt unter dem Datum 28. Februar 2012 einen Zwischenbericht. Nachdem die Betroffenen im Spätsommer 2012 von den Maßnahmen benachrichtigt wurden, beantragte der Rechtsanwalt für sich selber sowie seinen Mandanten die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Überwachung ihrer Gespräche von Mitte Dezember 2011.
  In begrüßenswerter Klarheit wiederholt der BGH zunächst die Schutzbedürftigkeit des berufsbezogenen Vertrauensverhältnisses auch bereits zum Zeitpunkt von Anbahnungsgesprächen. Damit unterfällt die entsprechende Kommunikation dem Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 StPO, womit u.a. auch das Ermittlungsverbot nach § 160a Abs. 1 StPO ausgelöst wird. Der Reparaturbetrieb (s.o.) bei dennoch erfolgter Verletzung dieses Vertrauensverhältnisses richtet sich demnach nach § 160a Abs. 1 S. 3 StPO – nicht nach § 101 Abs. 8 StPO, wonach die Sperrung der Daten ausreichend gewesen wäre. Im Übrigen hätte sich die Löschungsverpflichtung auch aus § 100a Abs. 4 S. 3 StPO herleiten lassen – der Verteidiger ist insoweit »doppelt geschützt«.(11)
  Das Problem der Entscheidung ist dann eine unmittelbare Folge fehlender gesetzlicher Fixierung der Pflichten der die Überwachung durchführenden Strafverfolgungsorgane: Während sich die Pressemitteilung des BGH noch damit rühmt, die Pflicht zur unverzüglichen Löschung aufgezeichneter Telefonate zwischen Verteidigern und Beschuldigten bestätigt zu haben,(12) verhält sich die Entscheidung selber zur zeitlichen Dimension dieser Verpflichtung mit keinem Wort. Immerhin war ja auch (!) die Frage zu beantworten, ab welchem Zeitpunkt eine Verpflichtung zur Löschung dieser Kommunikation bestanden hat. Ohne nähere Begründung datiert der BGH diesen Zeitpunkt der Mitte Dezember 2011 aufgezeichneten Gespräche auf den Tag der Erstellung des genannten Zwischenberichts des BKA am 28. Februar 2012. Folglich soll ein Zeitraum von gut zweieinhalb Monaten zwischen Aufzeichnung und Löschung dem Unverzüglichkeitskriterium des § 160a Abs. 1 S. 3 StPO genügen. Indessen hat dies wenig zu tun mit den verfassungsgerichtlichen Vorstellungen davon, dass jede weitere Speicherung von Daten zu einem zu vermeidenden Risiko der Vertiefung von Persönlichkeitsverletzungen führt.
  Dieses Ergebnis verwundert umso mehr, als der BGH selber die oben skizzierten Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts anführt: Wegen des Risikos einer Vertiefung der Persönlichkeitsverletzung habe jede weitere Aufbewahrung von Daten, die nicht hätten erhoben werden dürfen, zu unterbleiben.(13) Das deckt sich durchaus mit der in der Kommentarliteratur zu findenden Erklärung, dass damit einer Perpetuierung der Verletzung des ex ante festgestellten Erhebungsverbots nach § 160a Abs. 1 S. 1 StPO vorgebeugt und die Einhaltung des (umfassenden) Verwertungsverbots abgesichert werden soll.(14) Damit wäre man dann auch wieder bei einer Verpflichtung zu einer zeitnahen Auswertung der Überwachungsmaßnahme.(15)
  Sodann hätte nach hier vertretener Auffassung zu gelten gehabt, dass sich Verzögerungen bei der Löschung nur noch aus den oben beispielhaft genannten, sachlichen Gründen ergeben konnten. Man kann dann allenfalls noch in einen Streit eintreten, ob die Löschung regelmäßig eigenständig durch die Ermittlungspersonen(16) – und damit schneller – vorzunehmen ist oder aber die Anordnung der Löschung generell der verfahrensleitenden Staatsanwaltschaft obliegt.(17) Jedenfalls in eindeutigen Fällen dürfte erstgenannter Auffassung der Vorzug zu geben sein. Unabhängig davon wird man eine Löschung nur dann als ›unverzüglich‹ anzusehen haben, wenn sie innerhalb einiger Stunden oder – längstens – weniger Tage erfolgt.(18)
  Es wurde ja bereits darauf hingewiesen, dass die Löschung eines Datensatzes logisch die Kenntnis seiner Existenz voraussetzt. Theoretisch vorstellbar wäre mithin, dass im Zuge der Erstellung eines Berichts – zweieinhalb Monate nach einer konkreten Überwachungsmaßnahme – erstmals der Umstand eines gespeicherten Verteidigergesprächs auffiele. Dann könnte dem Erfordernis einer unverzüglichen Löschung durch umgehendes Tätigwerden durchaus noch genügt werden. Indessen erscheint es ausgeschlossen, dass – gerade! – bei einem vom Generalbundesanwalt geführten Verfahren wegen der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung die angefallenen Informationsbestände über einen Zeitraum von mehr als zwei Monaten ein unbeachtetes Dasein fristen würden. Es sind der gegenständlichen Entscheidung auch keinerlei Hinweise darauf zu entnehmen, dass die Ermittler an einer wesentlich zeitnäheren Kenntnisnahme der hier interessierenden Kommunikation gehindert gewesen wären. Ebenso wenig finden sich in ihr Hinweise darauf, dass technische Gründe eine frühere Datenlöschung verhindert hätten. Letzteres ist wohl nicht einmal bei der – de lege lata unzulässigen(19) – Quellen-TKÜ der Fall.(20)

IV. FOLGERUNGEN

Das ›Verdienst‹ der besprochenen Entscheidung besteht darin, den Umstand einer fehlenden Verpflichtung zur zeitnahen Auswertung erlangter Erkenntnisse de lege lata (namentlich aus heimlichen Überwachungsmaßnahmen) offen gelegt zu haben. Als Konsequenz aus diesem Manko fehlt es auch an einem Maßstab, der an das Kriterium der Unverzüglichkeit einer Datenlöschung im Sinne der §§ 160a Abs. 1 S. 3 und 100a Abs. 4 S. 3 StPO anzulegen ist. Tatsächlich ist aus dem menschenwürdedefinierten Schutz des Kontakts zwischen Beschuldigtem und Verteidiger das obligo einer unverzüglichen Auswertung erlangter Erkenntnisse abzuleiten. Es handelt sich hierbei um die unabdingbare Voraussetzung für die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Kautelen, insbesondere bei den sog. »verletzungsgeneigten«(21) Beweiserhebungsmethoden. Damit unvereinbar ist eine unbeobachtete Überwachung – zum Beispiel der Telekommunikation.

Fredrik Roggan ist Professor für Strafrecht und Besonderes Verwaltungsrecht an der Fachhochschule der Polizei des Landes Brandenburg und Mitglied der Humanistischen Union.

(1) Der Beitrag ist meiner Doktormutter Prof. Dr. Edda Weßlau gewidmet, die am 12. April 2014 im Alter von 57 Jahren, und damit viel zu früh, verstarb.
(2) BVerfGE 109, 279 (322).
(3) Vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl. 2014, § 160 Rn. 4.
(4) Schwabenbauer, Heimliche Grundrechtseingriffe, 2013, S. 286.
(5) BVerfGE 129, 208 (246 ff.), krit. dazu SSW-StPO/Eschelbach, 2014, § 100a Rn. 29 (»partiell am Problem vorbeigegangen«) sowie Roggan, HRRS 2013, 153 ff.
(6) BVerfGE 109, 279 (332).
(7) Mit Blick auf das Wissen des Richters Jahn, StraFo 2011, 117 (121).
(8) Vgl. etwa Meyer-Goßner/Schmitt (o. Fn. 2), § 100a Rn. 27; KK-StPO/Bruns, 7. Aufl. 2013, § 100a Rn. 39; SSW-StPO/Ziegler/Vordermayer, 2014, § 160a Rn. 4.
(9) BVerwGE 45, 51 [63 f.] – Herbeiführung von richterlichen Entscheidungen.
(10) BGH, NJW 2014, 1314 ff.
(11) SK-StPO/Wolter, 4. Aufl. 2010, § 100a Rn. 56.
(12) Pressemitteilung Nr. 46/14 v. 7.3.2014, abrufbar unter www.bundesgerichtshof.de.
(13) BGH, NJW 2014, 1314 (1315).
(14) KK-StPO/Griesbaum, 7. Aufl. 2013, § 160a Rn. 10.
(15) Vgl. etwa Graf-StPO/Patzak, 2. Aufl. 2012, § 160a Rn. 6.
(16) In diesem Sinne HK-StPO/Zöller, 5. Aufl. 2012, § 160a Rn. 8; vgl. auch SK-StPO/Wolter (o Fn. 10), § 160a Rn. 28.
(17) SSW-StPO/Eschelbach, 2014, § 100a Rn. 31.
(18) Roggan, NJW 2014, 1316.
(19) Statt vieler Buermeyer, StV 2013, 470 ff. sowie den Vermerk des Generalbundesanwalts v. 29.10.2010, StV 2013, 476 ff.
(20) Vgl. zur Möglichkeit, bei der ›normalen‹ TKÜ selbst Teile von Gesprächsaufzeichnungen (nach Zeitabschnitten) zu löschen, Bundesbeauftragter für den Datenschutz, Bericht gemäß § 26 Abs. 2 Bundesdatenschutzgesetz über Maßnahmen der Quellen-Telekommunikationsüberwachung bei den Sicherheitsbehörden des Bundes, 2012, S. 64.
(21) Zum Begriff Roggan, StV 2011, 762 (765).