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Nach einem Jahr Hauptverhandlung

EIN KURZES ZWISCHENRESÜMEE IM NSU-PROZESS

STEPHAN KUHN & PEER STOLLE

In dem nunmehr ein Jahr andauernden Prozess zum ›Nationalsozialistischen Untergrund‹ (NSU) dürften wesentliche Teile der Beweisaufnahme abgeschlossen sein. Die erhobenen Beweise hinsichtlich der rassistischen Morde, des Anschlags auf die Polizeibeamten in Heilbronn sowie der Brandstiftung in der Frühlingsstraße bestätigen die Anklage im Großen und Ganzen. Angesichts der Aktenlage ist auch davon auszugehen, dass die noch nicht verhandelten Sprengstoffanschläge in Köln sowie die diversen Banküberfälle dem NSU nachgewiesen werden können.
  Das Ziel, Struktur und Taten des NSU umfassend aufzuklären, verfehlt der Prozess demgegenüber bislang. Insbesondere bleiben die Kriterien der konkreten Opferauswahl genauso im Dunklen wie das Unterstützerumfeld des NSU und der Kenntnisstand in den Behörden. Dies liegt einerseits an den bisher gehörten Zeugen aus der rechten Szene, die in dem Prozess Erinnerungslücken vortäuschten oder schlicht die Unwahrheit sagten, andererseits an dem Verhalten der Bundesanwaltschaft, das einer notwendigen Aufklärung entgegenwirkt.

DIE EINLASSUNGEN DER ANGEKLAGTEN

Es war nicht viel zu erwarten, aber zumindest ein Anfang wurde gemacht. Die Angeklagten Carsten Schultze und Holger Gerlach, die sich bereits im Ermittlungsverfahren eingelassen hatten und dafür mit der Aufhebung der Haftbefehle und Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm des BKA1 belohnt worden waren, haben auch in der Hauptverhandlung Angaben zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen gemacht. Beide spielen dabei ihre Rolle völlig herunter. Schultze ist dennoch der wichtigste Zeuge für die Tatbeteiligung des Angeklagten Wohlleben. Er hat angegeben, eine Pistole mit Schalldämpfer in dessen Auftrag gekauft und später an das Trio weitergegeben zu haben. Diese Waffe, eine Ceska, wurde im Brandschutt der Frühlingsstraße gefunden. Mittlerweile haben Waffensachverständige nachgewiesen, dass aus dieser die Hülsen und Geschosse abgefeuert wurden, die an den Tatorten sichergestellt werden konnten.
  Damit steht fest, dass die Angeklagten Wohlleben und Schultze dem Trio die Tatwaffe, mit der die neun rassistischen Morde begangen worden sind, verschafft haben. Da eine Waffe, die extra mit Schalldämpfer bestellt wird, regelmäßig nicht nur zum Drohen eingesetzt werden soll, dürfte Schultze und Wohlleben nachweisbar sein, dass sie die Tötung von Menschen durch das Trio bei der Übergabe der Waffe zumindest billigend in Kauf nahmen.
  Darüber hinaus hat Schultze auch Angaben zu einem weiteren Sprengstoffanschlag gemacht, der bisher nicht dem NSU zugerechnet worden ist. Im Jahr 2000 kam es zu einem so genannten Taschenlampen-Sprengstoffanschlag in einer von einem Migranten betriebenen Gaststätte in Nürnberg, wobei ein Mitarbeiter des Betreibers verletzt worden war. Gegenüber Carsten Schultze haben sich Mundlos und Böhnhardt damals zu dieser Tat bekannt. Schultze hat auch gesagt, dass einer der beiden Uwes dem Angeklagten Wohlleben gegenüber im Rahmen eines Telefongespräches mitgeteilt hat, dass die Abgetauchten jemanden angeschossen hätten. Diese Aussage belegt nicht nur, dass Schultze und Wohlleben wussten, was die Drei vorhatten, sondern auch, dass zumindest Böhnhardt und Mundlos relativ offen über die von ihnen begangenen Anschläge geplaudert haben. Es ist daher davon auszugehen, dass noch weitere Personen aus ihrem Umfeld Kenntnis von den Straftaten des Trios hatten.
  Holger Gerlach hat zwar zugegeben, den ›Dreien‹ Ausweispapiere zur Verfügung gestellt und eine Waffe überbracht zu haben. Seine Aussage, er habe dabei aber nicht damit gerechnet, dass diese erhebliche Straftaten begingen, ist jedoch in sich widersprüchlich und unglaubhaft. In der Hauptverhandlung hat Gerlach bislang zur Sache geschwiegen und lediglich eine schriftliche Erklärung über seine Verteidiger abgegeben. Nachfragen der Prozessbeteiligten sind daher nicht möglich. Insofern muss auf anderen Wegen versucht werden, den Sachverhalt aufzuklären. Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben und André Eminger verweigern erwartungsgemäß die Aussage.

DIE RASSISTISCHE MORDSERIE

Im Wesentlichen abgeschlossen ist die Beweisaufnahme zu der rassistischen Mordserie des NSU, der insgesamt neun Kleingewerbetreibende mit Migrationshintergrund zum Opfer gefallen sind. Die Beweise zu den einzelnen Morden und der dabei verwendeten Tatwaffe der Marke Ceska wurden bereits erhoben. Mehrere Zeugen konnten sich an zwei auffällige Radfahrer erinnern, die an den jeweiligen Tatorten gesehen wurden und auf die die Beschreibung von Mundlos und Böhnhardt passten. Die Beweisaufnahme machte deutlich, dass die Morde kaltblütige Hinrichtungen waren: Die Mörder betraten die Tatorte und schossen sofort mehrfach jeweils auf den Kopf ihrer Opfer.
  Die Zurechnung der Taten zum NSU erfolgt aber vor allem durch das verschickte NSU-Bekennervideo und die in der Brandruine des Hauses in der Frühlingsstraße in Zwickau gesicherten Funde. Hier wurden u.a. ein Computer mit dem fertigen Bekennervideo des NSU sowie Vorversionen sichergestellt. Gefunden wurden auch Ausspähnotizen zu den Tatorten, zahlreiche Waffen und Sprengstoff, die Handschellen, die der ermordeten Polizistin Kiesewetter und ihrem Kollegen abgenommen wurden, sowie Bekleidung mit Spuren von Tatorten. Es wurde deutlich, dass sich Beate Zschäpe im Alltagsleben zwischen all diesen Beweismitteln bewegt hat und diese gesehen haben muss. Sie hat den Computer benutzt, auf dem das Bekennervideo bearbeitet wurde und Fingerabdrücke auf Zeitungsausschnitten hinterlassen, die die Anschläge betrafen.

DIE ANSCHLÄGE IN HEILBRONN UND IN DER FRÜHLINGSSTRAßE

Weitgehend abgeschlossen ist wohl nach Ansicht des Senates auch die Beweisaufnahme zu Heilbronn. Auch dort wurden in Tatortnähe zwei Radfahrer gesichtet. Ein auf den Namen von Holger Gerlach angemietetes Wohnmobil wurde im Rahmen der Ringfahndung wenige Minuten nach der Tat auf einer Ausfahrtsstraße aus Heilbronn festgestellt. Offen bleiben aber weiterhin das Motiv und die Opferauswahl. Warum fand nach den Morden in Dortmund und in Kassel im April 2006 die rassistische Mordserie ihr Ende, warum wurden jetzt Polizeibeamte zur Zielscheibe, und warum blieb es bei dem singulären Anschlag? Warum Heilbronn, warum Kiesewetter und Arnold? Auf diese Fragen konnten bisher noch keine Antworten gefunden werden.
  Die Beweisaufnahme hat auch ergeben, dass Beate Zschäpe in der Wohnung des Trios Feuer gelegt hat. Sie verließ das Haus, als der Brand ausbrach, und es fanden sich Benzinspuren an ihren Socken. In der Hauptverhandlung gehörte Brandgutachter haben bestätigt, dass aufgrund der durch die Inbrandsetzung verursachten Explosion sowohl für die Nachbarin und weitere sich in dem Haus aufhaltende Personen als auch für etwaige Passanten Lebensgefahr bestand.

DURCHGEHEND RASSISTISCHE ERMITTLUNGEN

Der Prozess hat auch den durchgehend rassistischen Charakter der bisherigen Ermittlungen bestätigt. Die Polizeibehörden ermittelten fast ausschließlich im Opferumfeld und suchten nach Spuren in die Organisierte Kriminalität, zur Mafia, zum Drogenhandel. Selbst Beziehungsprobleme wurden als Tatmotiv nicht ausgeschlossen; als ob jemand aus Eifersucht eine Mordserie begehen würde. Spuren in Richtung rechter Szene und rassistischer Motive wurden geflissentlich ignoriert. Rassistische Vorurteile wurden allerdings nicht nur im Zusammenhang mit der Ceska-Mordserie offenbar, sondern auch bei dem Anschlag in Heilbronn. Auch dort gerieten schnell MigrantInnen ins Visier der Ermittlungen. In den Polizeiberichten werden jahrelang »Neger« und »Zigeuner«, die sozialisationsbedingt zum Lügen neigen würden, erwähnt, ohne dass jemand Anstoß an dieser rassistischen Wortwahl genommen hätte.

DIE ROLLE DES VERFASSUNGSSCHUTZES

Unterbelichtet blieb in dem Verfahren bisher die Rolle des Verfassungsschutzes. Mehrere Dutzend V-Männer bewegten sich im weiteren und engeren Umfeld des Trios. Die Informationslage nach dem Abtauchen war relativ gut, insbesondere durch die Mitteilungen des vom Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz geführten V-Mannes und Anführers des Thüringer Heimatschutzes, Tino Brandt. Dass diese Informationen nicht zu einem Fahndungserfolg führten, verwundert. Die Gründe hierfür konnten bisher noch nicht geklärt werden; dazu stehen noch einige Zeugenaussagen aus. Deutlich wurde aber, dass die Nazi-Szene von dem Verfassungsschutz wohl weitaus stärker profitierte als die Nachrichtendienste von ihren rechten Spitzeln. Es scheint, dass es eher Selbstschutz denn Naivität der V-Mann-Führer ist, wenn diese selbst heute noch davon ausgehen, dass sie Tino Brandt geführt hätten; obwohl die Aktenlage eher dafür spricht, dass es sich umgekehrt verhielt.
  Einen zentralen Beitrag zur Nichtaufklärung der rassistischen Mordserie hat auch das Hessische Landesamt für Verfassungsschutz geleistet. Dessen ehemaliger Mitarbeiter, Andreas T., war offensichtlich Tatzeuge des Mordes an Halit Yozgat in dessen Internetcafe in Kassel. Trotzdem streitet er auch in der Hauptverhandlung ab, irgendetwas gesehen zu haben. Obwohl aus den Ermittlungsakten deutlich wurde, dass er über Tatwissen verfügte, wurde und wird sein Aussageverhalten von seinen ehemaligen Kollegen gedeckt, die ebenfalls Aussagen quer zur Aktenlage und Logik abgegeben haben. Dass sie die Unwahrheit gesagt haben, ist allen ZuhörerInnen klar geworden; warum hier vertuscht worden ist, blieb dagegen bisher im Dunkeln.

SCHWEIGENDES UND LÜGENDES UMFELD – FEHLENDER AUFKLÄRUNGSWILLE

Kaum Fortschritte konnten bisher in Bezug auf die Aufklärung des Umfelds des Trios gemacht werden. In den letzten Monaten wurden zahlreiche Nazizeugen geladen. Sie sollten insbesondere zum Werdegang der drei Haupttäter, zum Aufenthalt des Trios nach dessen Abtauchen, zum Aufbau der terroristischen Vereinigung und zur Persönlichkeit der Täter befragt werden. Einige von ihnen haben ganz geschwiegen, andere Erinnerungslücken vorgeschoben, die rechte Szene und ihre Gewaltaffinität beschönigt und/oder schlicht gelogen. Leider sind die meisten ZeugInnen damit durchgekommen. Zwangsmaßnahmen wurden bisher nicht angeordnet.
  Der fehlende Aufklärungswille der Bundesanwaltschaft manifestiert sich in dem gesamten Verfahren. Ihr Erkenntnisinteresse reduziert sich scheinbar auf die fünf Angeklagten und den in der Anklageschrift behaupteten Sachverhalt. Beweisanträgen oder Fragen der NebenklägervertreterInnen zu dem Umfeld des Trios und rechten Strukturen in Tatortnähe tritt die Bundesanwaltschaft entgegen. Auch gegen die Beiziehung von für die Aufklärung notwendigen weiteren Akten sperrt sie sich massiv. Dies betrifft u.a. sämtliche Aktenordner aus dem Verfahren gegen den damaligen Mitarbeiter des Hessischen Verfassungsschutzes, Andreas T., der sich zur Tatzeit am Kasseler Tatort aufgehalten hat, den Ermittlungsbericht der EG ›Umfeld‹ zu den persönlichen und beruflichen Beziehungen von Kiesewetter und Arnold, die Listen über weitere Beschuldigte und Kontaktpersonen in dem NSU-Komplex und die Art und Weise der Gewährung von Einsicht in die Asservate. Auch wird seitens der Bundesanwaltschaft (BAW) immer wieder versucht, kritische Nachfragen der Nebenklage, insbesondere zu der politischen Einstellung der ZeugInnen und ihrer möglichen Einbindung in die rechte Szene, zu unterbinden, wobei sich bezeichnenderweise regelmäßig Allianzen mit der Verteidigung Zschäpe bilden. Aufklärung sieht anders aus. Beim Senat ist dagegen zu beobachten, dass er vermehrt Anregungen und Anträgen der Nebenklage nachkommt und Fragen, die seitens der Nebenklage an Nazizeugen zu dem Umfeld und dem Werdegang der Angeklagten gestellt werden, interessiert folgt.

(BISHERIGER) SCHLUSS

Der mangelnde Aufklärungswille der BAW verwundert nicht weiter, da man dieses Verhalten auch von den anderen beteiligten Behörden kennt. Die Vehemenz, mit der sie neuen Erkenntnisansätzen entgegentritt, überrascht aber doch. Deutlich wird leider, dass die an den Prozess gestellte Erwartung, dieser werde die Öffentlichkeit umfassend über den NSU aufklären, nicht ansatzweise erfüllt wird. Umso wichtiger ist es, dass es andere Orte gibt, an denen um weitere Aufklärung gerungen werden kann. Ein neuer Untersuchungsausschuss des Bundestages wäre dafür ein notwendiger Baustein.

Stephan Kuhn ist Rechtsanwalt in Frankfurt/M. und vertritt als Nebenklägervertreter einen der Verletzten des Nagelbombenanschlages in der Kölner Keupstraße.
Peer Stolle ist Rechtsanwalt in Berlin, Vorstandsmitglied im RAV und vertritt einen der Söhne des Dortmunder Mordopfers Mehmet Kubașık.

(1) Holger Gerlach hat das Zeugenschutzprogramm mittlerweile verlassen.