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Was lange währt, wird endlich…

Am Vorabend der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum BKA-Gesetz

SÖNKE HILBRANS

War da noch was? Wir erinnern uns: Auf einmal waren die Straßen voll mit tiefroten Aufklebern im Stile düsterer Pop-Art. Davon schaute streng, wenn auch irgendwie etwas abwesend, Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble. ›Stasi 2.0‹ war das Ganze betitelt. Das verstanden alle, denn die Sicherheitsgesetzgebung, die nach dem 11. September 2001 mächtig an Fahrt gewonnen hatte, strebte gerade einem neuen Höhepunkt zu: Die Jahre 2007 und 2008 brachten die umstrittene Aufrüstung des Bundeskriminalamts (BKA) mit Eingriffsbefugnissen vom Allerfeinsten: Angefangen von Klassikern wie Durchsuchung, Platzverweis und Identitätskontrolle über Observation, Telekommunikationsüberwachung und Rasterfahndung bis hin zu brandneuen kunstvollen Eingriffen wie Quellen-Telekommunikationsüberwachung und Online-Durchsuchung. Dieses ganze Arsenal wurde mit den §§ 20a bis 20x in das Bundeskriminalamtgesetz gequetscht und trat am 1. Januar 2009 in Kraft. Nicht dass das alles so neu gewesen wäre, hatte das BKA doch schon althergebrachte Zuständigkeiten bei der Strafverfolgung. Das neu ausgerüstete Amt sollte sich zu neuen Aufgaben aufschwingen, in Gefilde, die bis dahin noch kein Kriminalbeamter von Rechts wegen hatte betreten dürfen: die Gefahrenabwehr. 

NEUE GEFILDE DES BKA 

Begleitmusik und Vorlage für dieses neue Betätigungsfeld des Bundeskriminalamts war die Aufdeckung der sog. Sauerland-Gruppe; ein kleiner Haufen von offenbar zu allem entschlossenen jungen Männern aus Deutschland, die, entflammt für den globalen Djihad, mit größeren Mengen Wasserstoffperoxyd zum Bombenbau ein Ferienhaus im Sauerland bezogen hatten, um im Auftrag einer sunnitischen Untergrundorganisation aus dem Mittleren Osten Sprengstoffanschläge in der Bundesrepublik durchzuführen. Die Gruppe war in einer gemeinsamen Aktion von Verfassungsschutz, Länderpolizei und Bundeskriminalamt hochgenommen worden; Schlimmstes soll dadurch verhindert worden sein. Dass unterschiedliche Zuständigkeitszuschnitte und -schranken von Inlandsgeheimdienst, Strafverfolgern und Polizei die Ermittlungen gegen die Sauerland-Gruppe wesentlich behindert hätten, hatte niemand ernsthaft behauptet. Frühzeitig war klar gewesen, dass die vierköpfige Bande auch als Vereinigung im Sinne von § 129a StGB gelten konnte, und ihrer Verfolgung durch das Bundeskriminalamt im Auftrag des Generalbundesanwalts stand nichts entgegen. Trotzdem aber rührten Politiker der inneren Sicherheit die Werbetrommel für eine Verhinderung von Terroranschlägen in Bundeszuständigkeit. BürgerrechtlerInnen und DatenschützerInnen waren angemessen entsetzt: Eine Art ›Super-Bundespolizei‹ mit Befugnissen à la CIA und FBI stand vor der Tür. Es drohte die Selbstermächtigung des Bundes auf Kosten der Länder im Bereich allgemeiner Polizeiaufgaben. Eine weitere Bundes-Sicherheitsbehörde wurde geschaffen, wo die Vernetzung aller in Betracht kommender Stellen durch ein gemeinsames Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ) doch gerade den Föderalismus und seine informationsrechtliche Schwester, die informationelle Gewaltenteilung, aufzuheben drohte. Der konkrete Gesetzentwurf bot Anlass zu weiterer Sorge: Das Ganze sollte zusammengehalten werden von einer Befugnis zur Bekämpfung von ›internationalem Terrorismus‹, ohne dass es auch diesmal dem Gesetzgeber gelingen würde, damit mehr als nur einen politischen Kampfbegriff ins Gesetz zu schreiben. Ganz zu schweigen von den Befugnisnormen, die der bekannten Gesetzgebungsmaxime treu blieben, den Behörden immer ein bisschen mehr Macht einzuräumen, als das Bundesverfassungsgericht bis dahin noch hingenommen hatte. Im Frühjahr 2009 erhoben daher eine ganze Anzahl von Zusammenschlüssen von BürgerInnen Verfassungsbeschwerden gegen die neuen Befugnisse. So streiten beispielsweise drei (zum Teil frühere) Vorstandsmitglieder des RAV – Andrea Würdinger, Wolf-Dieter Reinhard und Martin Lemke – seitdem in dem Verfahren 1 BvR 1141/09 insbesondere dagegen, dass Lausch- und Spähangriffe auf Wohnungen, Telefon- und E-Mail-Überwachungen und Telekommunikationsbestandsdatenabfragen nunmehr auch zur Abwehr von Gefahren durch terroristische Anschläge eingesetzt werden sollen. Auch der Schutz der Rechtsanwältinnen und Rechtanwälte als Berufsgeheimnisträger, einschließlich der Mandantengeheimnisse, der Kanzleiräume und der anwaltlichen Kommunikationsmittel werden von den KollegInnen vor dem Bundesverfassungsgericht verteidigt.

›PROBELAUSCHEN‹ DURCH DIE HINTERTÜR 

Denn das Gesetz folgt auch insoweit gleich zwei hässlichen Modeerscheinungen der Gesetzgebung: Es will den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung, welcher vielfach mit dem Mandatsgeheimnis verbunden ist, dann polizeilichen Eingriffen aussetzen, wenn lediglich nicht ausgeschlossen werden kann, dass ›allein‹ kernbereichsrelevante Daten erhoben werden – die Einführung des ›Probelauschens‹ durch die Hintertür. Und es bekennt sich zu einem absoluten anwaltlichen Geheimnisbereich nur für die StrafverteidigerInnen, nicht aber für alle anderen RechtsanwältInnen. Der Schutz des Berufsgeheimnisses liegt danach im Ermessen des Bundeskriminalamts: Besonders negative Auswirkungen auf die Anwaltschaft drohen von den Vorschriften über die Vertraulichkeit der Kommunikationssphäre von Berufsgeheimnisträgern auszugehen. Denn gerade dort, wo noch kein Strafverteidigungsmandat erteilt werden kann – zum Beispiel im sog. Vorfeld von Straftaten –, überlässt das Gesetz (§ 20u BKAG) dem Amt, ob die Vertraulichkeit des Verhältnisses von anwaltlicher Rechtsvertretung und Betroffenem seinen polizeilichen Preis wert ist. So würde die Überwachung von Anwältinnen und Anwälten gerade dann, wenn Maßnahmen des Bundeskriminalamtes zur Abwehr terroristischer Gefahren ergriffen werden, nicht vor dem behördlichen Zugriff geschützt bleiben.
Auch andere Zwischenergebnisse der rechtspolitischen Debatten nach dem 11. September 2001 stehen mit den Verfassungsbeschwerden auf dem Prüfstand: Der Einsatz von V-Leuten, Datenerhebungen über Kontakt- und Begleitpersonen und die Frage, wie weit überhaupt die Verhütung von Straftaten in das Vorfeld von konkreten Gefahrenlagen reichen darf, stechen in dem Fragenkatalog an die Gesetzesnovelle hervor. Die Beschwerdeführenden reklamieren mit Blick auf das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot zudem, dass gerade in dem durch Heimlichkeit geprägten Vorfeld des polizeilichen Zugriffs der Rechtsschutz nicht gesucht werden könnte. Je unwahrscheinlicher aber eine gerichtliche Überprüfung polizeilicher Maßnahmen ist, desto konkreter muss das Gesetz diese auch programmieren, da mit einer ausgefeilten Kasuistik, welche unbestimmten Rechtsbegriffen in jahrzehntelanger forensischer Auseinandersetzung hinreichende Konturen verleihen könnte, von vornherein nicht gerechnet werden darf.
Neben den Kolleginnen und Kollegen aus dem (früheren) Vorstand streiten auch neun (zum Teil inzwischen ehemalige) Abgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag, (frühere) Vorsitzende u.a. des Deutschen Anwaltsvereins und der Bundesärztekammer (Verfahrensbevollmächtigte: Burkhard Hirsch und Gerhard Baum) und eine Journalistin (Verfahrensbevollmächtigter: Frederik Roggan) mit eigenen Verfassungsbeschwerden gegen das Gesetz.
In den nächsten mehr als sechs Jahren blieben die angegriffenen Vorschriften, gegen die sich eine Vielzahl durchaus prominenter Stimmen auch aus den Reihen der freien Berufe und dem Deutschen Bundestag gewandt hatten, verfassungsgerichtlich unbehelligt. Immerhin, in der Sicherheitsgesetzgebung musste der Gesetzgeber weiter Federn lassen: Mit Beschluss vom 2. März 2010 hatte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts bereits zur Vorratsdatenspeicherung und in diesem Zusammenhang auch zur Verhältnismäßigkeit von Informationseingriffen noch einmal Stellung genommen. Mit Beschluss vom 12. Oktober 2011 verwarf der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts im Wesentlichen Verfassungsbeschwerden gegen eine StPO-Novelle und bestätigte die Regelung, dass Eingriffe in den Kernbereich privater Lebensgestaltung bei vielen Überwachungsmaßnahmen hingenommen werden müssen, solange sie nicht sicher Kernbereichsverletzungen nach sich ziehen. Die sich unverändert bei dem Bundeskriminalamtgesetz stellende Problematik der Unterscheidung zwischen StrafverteidigerInnen und andere RechtsanwältInnen war hingegen inzwischen durch eine Änderung der Strafprozessordnung überholt worden. Auch die Entscheidung zum Antiterrordatei-Gesetz vom 24. April 2013 hatte noch einmal die verfassungsgerichtlichen Aussagen zur informationellen Kooperation von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten, zur Verwendung von Daten aus besonders eingriffsintensiven Maßnahmen und zur Qualität und Berechenbarkeit von Eingriffstatbeständen geliefert.

ENZYKLOPÄDIE DES POLIZEIRECHTS IN URTEILSFORM 

Am 7. Juli 2015 fand vor dem Bundesverfassungsgericht die mündliche Verhandlung zweier Beschwerden statt. Die Beschwerde der RAV-KollegInnen war allerdings nicht darunter. Der Erste Senat gab den Beschwerden der Abgeordneten und dem auch nicht-anwaltliche Interessen vertretenden Duo Baum/Hirsch den Vorzug. Zu Beginn der mündlichen Verhandlung streute der Berichterstatter Masing ein, dass das Votum zur Vorbereitung des Senats mit 700 (!) Seiten (die freilich nicht öffentlich bekannt werden) Rekordumfang habe. Das durch das angegriffene Gesetz und die Verfassungsbeschwerden vorgegebene Prüfungsprogramm, welches letztlich in eine Enzyklopädie des Polizeirechts in Urteilsform führen dürfte, mag die lange Verfahrensdauer rechtfertigen sollen, ebenso wie die in der mündlichen Verhandlung letztlich zutage getretene, relativ überschaubare bisherige Anwendungspraxis des Gesetzes. Über diese wurden im Verlaufe des Tages aus dem Vorbringen der Regierungsseite Details sichtbar: So sollen zwischen dem Inkrafttreten der Vorschriften und der mündlichen Verhandlung in 15 Fällen Gefahrenlagen eingetreten sein, welche zum Gebrauch der neuen gesetzlichen Befugnisse Anlass gaben. Betroffen waren jeweils zwischen zwei und 28 Personen, zusammen ca. 80. Insgesamt seien mit Blick auf das Entstehen möglicher Gefahrenlagen ca. 700 ›Gefährder‹ bekannt, zu denen es ca. 1.500 Hinweise gäbe. Hält man die Erkenntnis aus der mündlichen Verhandlung zur Antiterror-Datei daneben, derzufolge zu Gefahren des internationalen Terrorismus im Wesentlichen aus dem Ausland stammende Erkenntnisse gehören, die über den Bundesnachrichtendienst ins Inland gelangen, erscheint das praktische Anwendungsspektrum der Vorschriften bislang überschaubar.

VON SCHÄUBLE ZU SNOWDEN 

Die Bundesregierung nahm für sich in Anspruch, dass im Berichtszeitraum zwölf Anschläge in Deutschland vereitelt wurden oder misslungen seien. Es habe einmal eine Online-Durchsuchung und vier Fälle von Quellen-TKÜ gegeben. Aufschlussreich fiel auch der Bericht des für die richterliche Genehmigung von Maßnahmen des Bundeskriminalamtes zuständigen Ermittlungsrichters beim Amtsgericht Wiesbaden aus, der darstellte, wie er sich mangels Verfahrensordnung im BKA-Gesetz letztlich mit einer aus allgemeinen Verfahrensrechtsgrundsätzen bestehenden Eigenkonstruktion behilft.
Leicht ausfällig erschien das Eingangsstatement von Bundesinnenminister de Maizière, der seinen erschienenen KritikerInnen entgegensetzen musste, dass er die Behauptung, Deutschland sei ein Überwachungsstaat, auf das Schärfste zurückweise. Dabei geht es längst vor dem Bundesverfassungsgericht nicht mehr darum, sondern nur noch um die Frage, wie die ein­griffsintensiven Maßnahmen der Sicherheitsbehörden verfassungsrechtlich einzuhegen sind. Keine der Verfassungsbeschwerden trägt noch vor, dass eine der angegriffenen Eingriffsbefugnisse gänzlich verfassungswidrig sei. Lediglich die praktische Umsetzung von Trojanern und Quellen-Telekommunikationsüberwachung wirft aus technischen Gründen die Frage auf, ob sie überhaupt verfassungskonform möglich sind. So ist aus der Empörung über die Ermächtigung des Bundeskriminalamtes zu einer Art deutschem FBI eine bald ein Jahrzehnt dauernde juristi­sche Debatte geworden, wenn in diesem Jahr die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verkündet wird. Sie wird enzyklopädisch ausfallen. Prof. Christoph Möllers, der die Bundesregierung vertrat, dürfte seiner Mandantschaft wohl korrigierende Eingriffe des Bundesverfassungsgerichts in Aussicht gestellt haben.
Farbintensive Porträts kleben auch heute im ganzen Straßenbild. Wieder ist ein Männerkopf im Popart-Stil abgebildet. Auf den Aufklebern steht heute: ›Asyl für Snowden‹. 

Sönke Hilbrans ist Rechtsanwalt in Berlin, Mitglied des RAV-Vorstandes und vertritt die KollegInnen Würdinger, Reinhard und Lemke sowie andere Beschwerdeführende in den Verfassungsbeschwerdeverfahren
1 BvR 1141/09 und 1 BvR 1140/09. 

Die Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion eingefügt.