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Das Sachenrecht als Mittel im Kampf der Geflüchteten

Zur juristischen Auseinandersetzung um die Räumung der Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin Kreuzberg 

BENJAMIN HERSCH

Am 29. September 2015 entschied das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, dass die von Geflüchteten bewohnte ehemalige Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin Kreuzberg nicht geräumt werden dürfe – jedenfalls nicht gestützt auf polizeirechtliche Befugnisse. Die Entscheidung des Gerichts stellt den vorläufigen Höhepunkt in der juristischen Auseinandersetzung um diesen Ort, der ebenso wie der Oranienplatz in Kreuzberg zu einem der wichtigsten Symbole der Bewegung der Geflüchteten in Deutschland in ihrem Kampf gegen die Asylgesetze und um fundamentale soziale Rechte geworden ist. Um das Gebäude der ehemaligen Schule und die Frage, ob die zuletzt dort verbliebenen Bewohnerinnen und Bewohner dort wohnen dürfen, war eine kuriose juristische Auseinandersetzung entbrannt, die deutlich macht, dass auch mit dem Einsatz eher ungewöhnlicherer juristischer Mittel große Erfolge zu erzielen sind; zugleich aber auch deren Begrenztheit aufzeigt.

HINTERGRUND 

Ende 2012 zogen erste Geflüchtete in das leerstehende ehemalige Schulgebäude der Gerhart-Hauptmann-Schule, auch, um es ebenso wie den Oranienplatz zu einem öffentlichen Ort ihres Protests zu verwandeln. Die Zahl der Bewohner­innen und Bewohner stieg im Laufe der Zeit, so dass teilweise mehrere hundert Menschen in dem Gebäude lebten. Im Zuge des sogenannten ›Einigungspapiers Oranienplatz‹, in dem den Geflüchteten weitreichende Zusicherungen seitens des Berliner Senates gemacht wurden – ohne diese allerdings einzuhalten –, damit die Besetzungen des Platzes und der Schule aufgeben werden, zog ein großer Teil der Bewohnerinnen und Bewohner in andere Unterkünfte. Dies auch deswegen, weil die frühere Schule kaum über funktionierende Sanitäranlagen für so viele Menschen verfügt. Da das Verlassen des Gebäudes auch den Verlust des eingangs beschriebenen Symbols der Bewegung der Geflüchteten bedeutet hätte, ließen sich einige der Aktivistinnen und Aktivisten nicht auf einen Auszug ein, vielmehr sollte dort ein selbstverwaltetes ›International Refugee Center‹ entstehen.
Nach mehrtägigen Protesten unter Beteiligung tausender Menschen gegen eine nunmehr anvisierte, zwangsweise Räumung des Gebäudes, wurde nach intensiven Verhandlungen zwischen den Geflüchteten und Vertreterinnen und Vertretern des durch Bündnis 90/Die Grünen regierten Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg am 2. Juli 2014 eine Vereinbarung geschlossen. Diese Vereinbarung bestimmt im Wesentlichen ein Wohnrecht der zu diesem Zeitpunkt verblie­benen 45 Bewohnerinnen und Bewohner in einem Teil des Gebäudes und verpflichtet den Bezirk, dort Küchen und Sanitäreinrichtungen zu schaffen. Nur wenige Wochen fühlte sich der Bezirk an die Vereinbarung gebunden und mit der bereits bekannten Willkür gaben die Stadträte bekannt, dass die im Gebäude geplante und vom Land Berlin finanzierte reguläre Flüchtlingsunterkunft nur dann errichtet werden könne, wenn die Schule zunächst geräumt werde. Verlautbarungen der Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann Anfang November 2014 in der Presse, dass man die Polizei zur Räumung aufgefordert habe, leiteten die gerichtliche Auseinandersetzung ein.

DIE ERSTE WELLE: BESITZSCHUTZ 

Mit der Beantragung dreier einstweiliger Verfügungen beim Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg, mit denen der durch die Räumungsandrohung angekündigte Eingriff des Bezirks in den rechtmäßigen Besitz der Bewohnerinnen und Bewohner am Gebäude untersagt werden sollte, wurde ganz bewusst die Strategie verfolgt, von Beginn an klarzustellen, dass der Bezirk als Privater handelt und als solcher auch wirksam die Vereinbarung vom 2. Juli 2014 – einen privatrechtlichen Vertrag – mit den Bewohnerinnen und Bewohnern geschlossen hatte. Die Reaktion der verschiedenen Abteilungen des Amtsgerichts war bemerkenswert: Eines der Verfahren wurde unmittelbar mit Verweis auf den vermeintlich falschen Rechtsweg und ohne größeren Begründungsaufwand an das Verwaltungsgericht Berlin verwiesen. Eine weitere Abteilung reagierte trotz Eilverfahrens überhaupt nicht; im dritten Verfahren hingegen erklärte sich das Gericht für zuständig und terminierte in der Sache. Der Termin, begleitet von großer Öffentlichkeit und nahezu der gesamten Berliner Lokalpresse, wurde für den Bezirk zum argumentativen Desaster. In der Folge gab das Gericht zu erkennen, dass es im Sinne des Antragstellers die einstweilige Verfügung erlassen werde.
In seiner Not beantragte der Bezirk nunmehr die Verweisung an das Verwaltungsgericht. Das Amtsgericht hielt jedoch an seiner Zuständigkeit fest, so dass der Bezirk mit seiner Rechtswegbeschwerde für den ersten gerichtlichen Erfolg für den Verbleib der Bewohnerinnen und Bewohner in der Schule sorgte, denn das Amtsgericht untersagte durch Sicherungsverfügung die Räumung bis zur Entscheidung des Landgerichts Berlin (AG Tempelhof-Kreuzberg, Beschluss vom 12. November 2014, Az: 24 C 1005/14). In der Öffentlichkeit wurde dieser Beschluss als enorme Schlappe des Bezirks wahrgenommen, hatte ihm doch ein Gericht untersagt, die Schule zu räumen. Das Landgericht Berlin als Beschwerdeins­tanz entwickelte eine eigentümliche Argumentation hinsichtlich des Rechtsweges und half der Beschwerde mit Verweisung der Sache an das Verwaltungsgericht ab (LG Berlin, Beschluss vom 19. Dezember 2014, Az: 65 T 288/14). Das Verwaltungsgericht, konfrontiert mit drei zivilrechtlichen Anträgen auf einstweilige Verfügung wegen Besitzschutzes, erließ seinerseits eine Zwischenverfügung und damit die zweite sehr öffentlichkeitswirksame gerichtliche Entscheidung, die eine Räumung der Schule untersagte (VG Berlin, Beschluss vom 7. November 2014, Az: VG 1 L 307.14). Das Gericht sah Anhaltspunkte für ein rechtswidriges Vorgehen des Bezirks und benötigte Zeit zur Aufklärung des Sachverhaltes.

DIE ZWEITE WELLE: ZIVILRECHT VS. POLIZEIRECHT 

Das Verwaltungsgericht gab zu erkennen, dass mit einer schnellen Entscheidung nicht zu rechnen sei, so dass der Bezirk – seiner Ansicht nach – unter Handlungsdruck geriet. Denn offiziell sollte die reguläre Flüchtlingsunterkunft auf dem Schulgelände schnellstmöglich entstehen und zugleich gab es vom Berliner Boulevard großen Druck ob der angeblich immensen Kosten für die Schule. Kurzerhand erließ der Bezirk gegen alle verbliebenen 45 Bewohnerinnen und Bewohner eine Räumungsverfügung, gestützt auf die polizeiliche Generalklausel des Berliner ASOG. Als Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung wurden einerseits die angebliche Besetzung des Schulgebäudes und andererseits die dadurch entstandene prekäre Haushaltslage des Bezirks ausgemacht.
Zivilrechtlichen Argumenten wurde mit dem Verweis darauf entgegengetreten, dass das Gebäude im Sinne einer Zuweisung in einer Obdachloseneinrichtung zur Verfügung gestellt wurde und diese Zuweisung hoheitlich jederzeit widerrufen werden könne. Insbesondere sollte aber die Vereinbarung vom 2. Juli 2014 wegen ihrer Nichtigkeit keine rechtliche Wirkung entfalten.
Schon an der sprachlichen Verfasstheit der Räumungsverfügung war zu erkennen, dass nunmehr neue Akteurinnen und Akteure ins Spiel kamen. Zwar war die Verfügung von der Stadträtin Jana Borkamp unterzeichnet, entsprach aber nicht dem sprachlichen Duktus des Rechtsamtes des Bezirks und stammte offenbar aus anderer Feder. Der Bezirk hatte, möglicherweise aus Zweifel an der Kompetenz des Rechtsamtes, jetzt eine Großkanzlei beauftragt, die dem Räumungsbegehren zum Durchbruch verhelfen sollte.
Den Räumungsverfügungen wurde mit Wider­sprüchen und 24 Eilanträgen beim Verwaltungsgericht Berlin begegnet. Der Bezirk hatte nämlich zugleich auch die sofortige Vollziehbarkeit der Verfügungen angeordnet und die Betroffenen mit kurzer Frist zum Auszug auffordert.
Das Verwaltungsgericht folgte der Rechtsauffassung der Betroffenen und ordnete die aufschiebende Wirkung der Widersprüche gegen die Räumungsverfügung an (VG Berlin, Beschluss vom 22. Mai 2015, Az: VG 1 L 83.16). Das Ge­richt gab zu erkennen, dass es davon ausgehe, dass der Bezirk rechtswidrig polizeiliche Mittel zur Durchsetzung der Räumung gewählt habe, denn das ehemalige Schulgebäude sei aufgrund seiner Entwidmung keine öffentliche Einrichtung, die besonderen Schutz durch das Polizei- und Ordnungsrecht erfahre, zudem entfalte die Vereinbarung vom 2. Juli 2014 zivilrechtliche Wirkung. Der Bezirk habe sich mit ihr auf die Ebene der Gleichordnung begeben und müsse einen vermeintlichen Räumungsanspruch vor den ordentlichen Gerichten erstreiten. Wirkung hatte die Entscheidung jedoch nur noch für die 24 Rechtschutzsuchenden. Alle anderen waren mit Ablauf der Auszugsfrist vom Sicherheitsdienst des Bezirkes nicht wieder in die Schule gelassen worden.
Unbeirrt an seiner Auffassung festhaltend, verkündete der Bezirk bereits einen Tag nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, dass man diese beim Oberverwaltungsgericht anfechten werde. Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg bestätigte letztlich das Verwaltungsgericht und gab dem durch Bündnis 90/Die Grünen regierten Bezirk noch als schallende Ohrfeige mit, dass dessen Rechtsauffassung zu einer uferlosen Ausdehnung von Befugnissen der Polizei- und Ordnungsbehörden führen würde (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29. September 2015, Az: OVG 1 S 45.15). Als Reaktion auf seine juristische Niederlage kündigte der Bezirk unmittelbar an, nunmehr die ordentlichen Gerichte zur Durchsetzung der Räumung anzurufen. Dies geschah allerdings bisher nicht. Nach Androhung von Untätigkeitsklagen, wurde aber den Widersprüchen stattgegeben, mit der lapidaren sechs­zeiligen Begründung, dass rechtliche Bedenken des Verwaltungsgerichts und des Oberverwaltungsgerichts bestünden und deren Klärung in der Hauptsache dem Bezirk zu lange dauere.

PYRRHUSSIEG 

Trotz des durchgehenden Erfolges in der juristischen Auseinandersetzung um die Gerhart-Hauptmann-Schule bleibt aber festzuhalten, dass dieser Sieg vor den Gerichten den politischen Kampf der Bewohnerinnen und Bewohner im Wesentlichen nicht voran gebracht hat. Die ursprüngliche Forderung, ein selbstverwaltetes Flüchtlingszentrum in den Räumen der Schule einzurichten, das von den Aktivistinnen und Aktivisten selbst sowie antirassistischen Initiativen betrieben wird, verhallt ungehört und ist derzeit kaum durchsetzbar. Der Bezirk verweigert konsequent jegliches Gespräch mit den Bewohnerinnen und Bewohnern und errichtet momentan über ihre Köpfe hinweg eine reguläre Flüchtlingsunterkunft in den übrigen Räumen der Schule. Auch die Unterstützung von außen findet nicht mehr statt; waren die Räumungsversuche des Bezirks noch ein Aufreger, der massenhaft Menschen auf die Straße brachte, ist es das stille Aushungernlassen der Bewohnerinnen und Bewohner durch den Bezirk nicht.
Die Übriggebliebenen leben in einem Substandard ohne ausreichende Sanitäranlagen und funktionierende Heizung, sie dürfen noch nicht einmal Besuch empfangen; das Projekt scheint daher letztlich politisch gescheitert. 

Benjamin Hersch ist Rechtsanwalt in Berlin und Mitglied im erweiterten Vorstand des RAV.