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Strafrechtliche Verfolgung von Carşı wegen Beteiligung an den Gezi-Protesten

DEMONSTRIEREN ALS PUTSCHVERSUCH UND TERROR

ANNA LUCZAK

Vier RAV-AnwältInnen beobachteten neben türkischen und auch deutschen PressevertreterInnen sowie einem Bundestagsabgeordneten die Verhandlungen in dem größten Strafverfahren, das nach den Gezi-Protesten im Jahr 2013 eingeleitet wurde. Gegen die 35 Angeklagten dieses Verfahrens wurden von der Anklagebehörde schwerste Vorwürfe erhoben, es drohen bis zu 49 Jahre Haft wegen Putschversuchs und Gründung einer terroristischen Vereinigung.
Hintergrund für die Anklage ist die Beteiligung von Carşı , einer 1983 gegründeten Gruppierung von Anhängern des Vereins Beşiktaş Istanbul, an den Gezi-Protesten im Jahr 2013. Ausgehend von politischen Aktionen für den Erhalt des Gezi-Parks am Taksim-Platz kam es damals zu Protesten gegen die politischen Verhältnisse in der Türkei allgemein. Die Proteste weiteten sich schnell über den Taksim-Platz hinaus aus, unter anderem in den Istanbuler Stadtteil Beşiktaş. Nicht nur am Taksim-Platz, sondern insbesondere dort beteiligten sich viele Carşı -Anhänger. Ihr entschlossenes Auftreten sowie ihre kreativen Aktionen bildeten einen Mittelpunkt der Protestbewegung.
Die Reaktion des Staates fällt deutlich aus: Keine der politischen Gruppen, die im Rahmen der Gezi-Proteste Demonstrationen anmeldete, Aufrufe verbreitete oder Aktionen machte, ist mit einer derartigen Anklage wie die Angeklagten im Carşı-Protest überzogen worden. Die meisten der Verfahren, unter anderem gegen die Personen, die die ersten Kundgebungen am Taksim-Platz veranstalteten, sind bereits abgeschlossen und mit Freisprüchen oder milden Strafen beendet worden. Vorgeworfen worden waren diesen weiteren Beteiligten an den Protesten Verstöße gegen das Versammlungsgesetz oder Landfriedensbruch. Juristisch stehen die schwer wiegen den Vorwürfe auf wackeligen Beinen. Rechtlich und tatsächlich gibt es keine Grundlage dafür, die Aktivitäten von Carşı-Anhängern bei den Gezi-Protesten als Putschversuch einer terroristischen Vereinigung zu bewerten.

39 SEITEN FÜR 35 ANGEKLAGTE UND 49 JAHRE 

Dies wird auch beim Text der Anklage deutlich. Augenfällig ist schon, dass nicht nur in Anbetracht der vorgeworfenen, mit schweren Strafen belegten Straftaten, sondern erst recht im Verhältnis zur Zahl der Angeklagten die Anklage extrem dünn ist. Offensichtlich auch, dass auf nur 39 Seiten kaum etwas umfassend dargelegt sein kann, was belegen könnte, dass – zusammengeschlossen in einer zu diesem Zweck gegründeten terroristischen Vereinigung – 35 Angeklagte Versuche unternommen haben sollen, die Regierung zu stürzen. Allein die Personalien der  Angeklagten und die Wiedergabe des Wortlauts der strafgesetzlichen Bestimmungen, gegen die verstoßen zu haben ihnen vorgeworfen wird, nehmen für jeden einzelnen Angeklagten ein Drittel einer Seite bis eine ganze Seite ein, so dass für die eigentliche Darlegung dessen, was sie getan haben sollen, nur noch zwanzig Seiten zur Verfügung stehen.
So findet sich in der Anklage auch gar nicht, was die einzelnen Angeklagten konkret gemacht haben sollen oder welche Beweise gegen die einzelnen Angeklagten vorliegen. Dem Teil der Anklage, der den Sachverhalt beinhaltet, vorgeschaltet sind zudem mehrere Seiten mit Ausführungen dazu, dass Demonstrieren ein Grundrecht sei und dass die Mehrzahl der Demonstrierenden auch nur diesem Recht entsprechend protestiert habe. Es wird dann von wenigen Personen gesprochen, die den friedlichen und legitimen Protest der Vielen aber habe unterwandern und in illegitimen Protest habe wandeln wollen. Wo nun aber zu erwarten wäre, dass Ausführungen dazu kommen, dass – aus Sicht der Anklage – die Angeklagten oder Carşı-Anhänger, die die legitime Mehrheit unterwandernden, wenige Personen gewesen seien, kommt: nichts.
Im Gegenteil werden dann beispielhaft Transparent-Aufschriften und Losungen aufgezählt, die – der Staatsanwaltschaft zufolge – illegitimen Protest darstellen. Wobei keine dieser Aufschriften und Losungen mit Carşı in Zusammenhang steht. Die Anklage offenbart ihre politischen Intention dann so: Die Regierung sei von den Protestierenden vor der Weltöffentlichkeit als handlungsunfähig bloßgestellt worden. Carşı findet Erwähnung damit, dass Carşı-Anhänger während der Gezi-Proteste versucht hätten, durch internationale Befürwortung einen ›Arabischen Frühling‹ in der Türkei entstehen zu lassen, indem ausländischen Medien Fotos von den Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und der Polizei übermittelt worden seien.
In derselben Logik bzw. Nicht-Logik wird in Bezug auf einzelne Angeklagte ausgeführt, wie sie zu Carşı stehen (drei der Angeklagten sind Gründungsmitglieder), aber an keiner Stelle der Anklage wird jemals formuliert, dass die terroristischen Vereinigung, die die Angeklagten gegründet oder unterstützt haben sollen, eben Carşı sei. Auch nicht der Anklage zu entnehmen ist, welche Handlung dazu hätte führen sollen, die Regierung zu stürzen. Auf der Ebene der Beweise wiederholt sich das Problem der mangelnden Darlegung.

BAGGER UND PANZER 

In die Anklage keine Aufnahme fanden dabei zwei der skurrilsten Beispiele für die Haltlosigkeit der Vorwürfe, die den Angeklagten noch im Ermittlungsverfahren vorgehalten worden waren: der Bagger und der Räumpanzer. Zum einen wurde vorgehalten, es sei versucht worden, mit einem Bagger den Amtssitz des Ministerpräsidenten anzugreifen. Tatsächlich wurde während der Zeit der Gezi-Proteste in einem feierlichen Rechtsakt der Neubau des alten Beşiktaş-Stadions begonnen, das schräg gegenüber vom Amtssitz des Ministerpräsidenten liegt. Als ein dabei eingesetzter Bagger anschließend nicht weggebracht wurde, sondern vor Ort verblieb, nahmen ihn unbekannte Protestierende in Beschlag. Dasselbe gilt für den Unbekannten, der eine ›Anzeige‹ auf Facebook veröffentlichte, in der ein polizeilicher Räumpanzer DER Marke ›TOMA‹ zum Verkauf aus ›zweiter Hand‹ angeboten wurde. Die Ermittlungsbehörden nahmen das zum Anlass, im Ermittlungsverfahren von einer ›Entführung‹ eines ›TOMA‹ durch Carşı auszugehen.
Was als Beweis in die Anklage noch Aufnahme fand, ist zwar etwas weniger skurril, aber auch nicht sehr viel beweiskräftiger: Wichtiger Baustein der Anklage sind abgehörte Telefonate zwischen verschiedenen Personen aus dem Umfeld von Carşı . Unter anderem eine telefonische Pizzabestellungen bei einem der Gründungsmitglieder von Carşı – der eine Pizzeria betreibt – als Grundlage für die Behauptung, dieser habe nicht Pizza, sondern illegale Hilfsmittel zu den Protesten geliefert, ohne dass dargelegt worden wäre, wie von Pizzen auf anderen Gegenstände geschlossen wurde. Ebenso wenig überzeugend ist die Auslegung des Wortes ›Abi‹ (eine im Türkischen übliche Ehrbezeugung für ältere Personen) in der Anklage, wonach diese Anrede beweisen soll, dass der so Angesprochene einer der Hauptakteure gewesen sei.
Die Anklage genügt damit weder den Standards des türkischen Strafprozessrechts noch menschenrechtlichen Vorgaben, sondern folgt ganz offenbar politischen Vorgaben. Für die Verteidigung stellt dies ein großes Problem dar. Sie weiß aufgrund dieser Anklage überhaupt nicht, was rechtlich oder beweistechnisch zu widerlegen wäre, um die Vorwürfe abzuwehren. Die Verteidigung kann sich aber nicht darauf zurückziehen, dass – wenn schon die Anklage nicht darlegt, was die Angeklagten getan haben sollen – erst recht keine Verurteilung erfolgen wird. Denn obwohl die Anklage offensichtlich mangelhaft ist, wurde sie doch vom Gericht zur Verhandlung zugelassen, anders als zuletzt die ebenso politisch motivierte Anklage in Zusammenhang mit dem ›Unsichtbaren Komitee‹ in Frankreich. Und nachdem das Istanbuler Gericht die mangelhafte Anklage zugelassen hat, könnte es auch ohne ausreichende rechtliche Grundlage und ohne ausreichende Beweise verurteilen.

KEINE BEWEISE SIND AUCH KEINE LÖSUNG 

Die bisherige Beweisaufnahme hat jedenfalls keine Grundlage dafür geschaffen, dass die Angeklagten rechtlich begründet verurteilt werden könnten. Bereits am zweiten Verhandlungstag im April 2015 wurde die Beweisaufnahme – die bei vergleichbaren Verfahren wegen derart schwerwiegender Vorwürfe üblicherweise mindestens eine zweistellige Zahl von Verhandlungstagen dauern würde – geschlossen. Am dritten Verhandlungstag im Juni 2015 sollte daher bereits plädiert werden. Auf Antrag des Staatsanwalts wurde dies jedoch auf September verschoben. Im türkischen Strafprozessrecht gibt es keine strengen Fristen, wie viel Zeit zwischen Hauptverhandlungstagen vergehen darf. Es kann daher durchaus sein, dass, selbst wenn der Staatsanwalt im September tatsächlich plädieren sollte, bis zum Abschluss des Verfahrens noch mehrere Monate vergehen.
Inhalt der bisherigen Beweisaufnahme waren hauptsächlich die Aussagen der Angeklagten, die die Vorwürfe sämtlich bestritten. Die Beweisaufnahme des gesamten ersten und des halben zweiten Hauptverhandlungstags wurde ausschließlich damit verbracht. Hier wurde deutlich, dass nicht alle Angeklagten überhaupt auch nur Carşı zugehörig sind. Einer ist sogar Anhänger des mit Beşiktaş rivalisierenden Vereins. Deutlich wurde auch der sehr unterschiedliche politische Hintergrund der Angeklagten. Einer begann seine Aussage mit dem Verweis darauf, dass er für die türkische Armee ›in den Bergen‹ gekämpft habe, er sei ein Patriot und würde nie gegen die Regierung vorgehen. Ein anderer wies darauf hin, nach Kooperationsgesprächen mit leitenden Polizeiführern auf deren Wunsch hin als Ordner und Vermittler zum Ort der Proteste gegangen zu sein.
Einer der Hauptangeklagten führte aus, dass aus seiner Sicht statt Carşı die Regierung auf die Anklagebank gehöre, unter anderem weil sie im Rahmen der Gezi-Proteste den Tod von Menschen und die Verletzung von hunderten Demonstrierenden durch Tränengas und polizeiliche Gewalt zu verantworten hätte. Die unterschiedlichen Positionierungen machten so in öffentlicher Hauptverhandlung klar, wie willkürlich nicht nur die Auswahl der Beschuldigten, sondern auch der Vorwurf ist, dass eben diese 35 Personen Teil einer Organisation gewesen sein sollen, die einen Putsch hätten unternehmen wollen.
Der zweite Teil des zweiten Hauptverhandlungstags war den Aussagen von Polizeibeamten vorbehalten. Zunächst wurden die so genannten Strafantragsteller gehört. Nach der türkischen Prozessordnung können Personen, die durch Straftaten verletzt wurden, als ›Strafantragsteller‹ in die Anklage aufgenommen werden. Drei der vier in der Anklage als Strafantragsteller genannten Polizisten wurden als solche in öffentlicher Hauptverhandlung gehört – und sagten übereinstimmend aus, dass sie keinen der Angeklagten persönlich wahrgenommen hatten. Zwei gaben an, überhaupt nicht verletzt worden zu sein. Dem einzigen, der verletzt worden sei, sei dies an einer Stelle widerfahren, von der noch nicht einmal die Anklage behauptet, dass dort Carşı aktiv gewesen sei. Die Polizeibeamten zogen folgerichtig noch im Gerichtssaal ihre Strafanträge zurück.

›BONG‹, NICHT BOMBE 

Weiter wurden Beamte gehört, die laut Anklage bei einer Durchsuchung bei einem der Hauptangeklagten einen ›Sprengsatz‹ gefunden haben sollen. Auch dies stellte sich in öffentlicher Hauptverhandlung als falsch heraus. Die Beamten erklärten, sie hätten keinen Sprengsatz, sondern eine Wasserflasche mit Ruß-Anhaftungen gefunden, wie sie für das Rauchen von Cannabis verwendet wird. Auf Fragen bekräftigten sie, dass bei einem Sprengsatz-Fund nicht ihre, sondern eine Sondereinheit diesen sichergestellt hätte. Der Anwalt des betroffenen Angeklagten erklärte zudem, dass wegen eben dieser Wasserflasche ein Verfahren gegen den Bruder des Angeklagten wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz geführt worden ist. Als er dies weiter ausführen wollte, zeigte der Richter mehr als deutlich, dass inzwischen jeder im Saal davon ausging, dass das ›Beweismittel‹ eine ›Bong‹ – und keine Bombe – war.
Mit einer ausstehenden Beweiserhebung zu einem weiteren angeblichen ›Waffen‹-Fund bei einem der Angeklagten begründete der Vertreter der Staatsanwaltschaft die Notwendigkeit eines weiteren Aufschubs für sein Abschlussplädoyer. Die ›Waffe‹ ist in diesem Fall eine Attrappe, die der Angeklagte, bei dem sie gefunden wurde, aufgrund seiner Tätigkeit beim Film bei sich zu Hause hatte. Das Gutachten soll nun beweisen, ob diese Waffe, die in dem aufgefundenen Zustand nicht scharf war, ohne weiteres hätte umgebaut werden können oder nicht. Da zu erwarten ist, dass das Gutachten für eine Ungefährlichkeit der Waffe sprechen wird, ist die Tatsache, dass der Staatsanwalt das Gutachten abwarten will, zunächst positiv zu bewerten. 

POLITISCHE UNGEWISSHEIT 

Für die Angeklagten bedeutet die weitere Verlängerung dieses Verfahrens aber, weiter mit der Ungewissheit zu leben, ob die unbegründet erhobenen schwerwiegenden Vorwürfe in eine ebenso unbegründete harte Verurteilung münden werden oder ob das Gericht zu dem einzig rechtsstaatlich zu begründenden Freispruch kommen wird. Die Angeklagten befinden sich zwar derzeit nicht in Haft und dürfen – nach Antrag der Verteidigung am ersten Hauptverhandlungstag, den Angeklagten zu erlauben, zum Spiel von Beşiktaş gegen Liverpool nach Liverpool zu fahren – sogar das Land verlassen. Falls die Strafverfolgungsbehörden damit bezweckten, das Verfahren durch Flucht der Angeklagten zu einem schnellen Ende zu bringen, ist dies nicht geglückt. Die Angeklagten stellen sich dem Verfahren und präsentierten dies nach dem dritten Hauptverhandlungstag allen Anwesenden im gesamten riesigen Gerichtsgebäude in Istanbul durch laute Gesänge der Anhänger in der Eingangshalle und Pyro-Technik vor der Tür.
Es ist ungewiss, welcher Richter am Ende entscheiden wird. Zwischen dem ersten und dem zweiten Hauptverhandlungstag wurde das Richterkollegium vollständig ausgetauscht. Ein solcher Wechsel ist auch nach türkischem Recht nur in besonderen außergewöhnlichen Fällen möglich. Im -Verfahren kam es dazu, weil gegen den ersten Vorsitzenden aus mit dem Verfahren nicht zusammenhängenden Gründen inzwischen ebenfalls ein Verfahren wegen Putschversuchs geführt wurde – genauso wie gegen den Staatsanwalt, der zu Beginn die Ermittlungen geleitet hatte.
Die politische Situation in der Türkei wird für dieses nur politisch zu erklärende Verfahren von großer Bedeutung sein – und diese ist derzeit so ungewiss, dass eine politische Verfolgung oppositioneller Demonstrantinnen und Demonstranten unter dem Deckmantel des Straf- und Anti-Terrorrechts durch das Justizsystem der Türkei, das die politischen Interessen der Regierung verfolgt, auch nicht ausgeschlossen erscheint. 

Dr. Anna Luczak ist Rechtsanwältin in Berlin und Mitglied im Erweiterten Vorstand des RAV.
Einige Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion eingefügt.