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Situation an den EU-Außengrenzen und Kriminalisierung der Fluchthilfe

In diesem Rahmen wird der Bericht über den formellen Teil der Mitgliederversammlung ausgespart und hier nur über die Diskussion des im Titel genannten Themas berichtet.

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DAS DISKUSSIONSTHEMA 

Im Anschluss an den formellen Teil der Mitgliederversammlung fand die Diskussion zum Thema ›Situation an den EU-Außengrenzen und Kriminalisierung der Fluchthilfe‹ statt. Wir haben dieses Thema gewählt, weil wir nach den Erfahrungen in Berlin davon ausgehen, dass große Teile der Mitgliedschaft mit diesem Thema befasst sind, nicht nur im Bereich des Ausländer- und Asylrechts, sondern auch im Straf-, im Sozial- und Arbeitsrecht sowie weiteren Rechtsgebieten.
Auch wenn Deutschland keine EU-Außengrenze hat, sind wir doch in unserem beruflichen Leben mit Menschen befasst, die diese Außengrenzen in Afrika, Spanien, Italien, Griechenland, der Türkei und Bulgarien entgegen aller  EU-Abschottungsmaßahmen überwunden und von dort trotz aller europäischen und bundesdeutschen Gesetzgebungsbemühungen den Weg nach Deutschland geschafft haben. Sie sind sichtbar und hörbar in Hamburg, Berlin und München und unsichtbar in vielen Baracken in Gewerbegebieten anderer Städte und Gemeinden. Sie konnten diese von der EU mit unglaublichem wirtschaftlichen Aufwand erbauten und betriebenen Grenzsicherungen überwinden, weil sie Unterstützung hatten durch Fluchthelfer.
Eben jene Politiker, die diese Grenzsicherungsmaßnahmen mitverantworten, diffamieren und kriminalisieren diese Fluchthelfer als ›Schleuser‹ und gehen sogar so weit, nicht die Grenzsicherungen, sondern die Fluchthelfer für den Tod vieler Tausend Menschen verantwortlich zu machen. Jene Politiker unterscheiden zwischen ›guten‹ und ›bösen‹ Flüchtlingen und stellen mit dieser Unterscheidung das Recht auf Zugang zum Recht zur Disposition. Wir haben das Thema vor zwei Jahren mit Fabian Georgi und Nele Allenberg zunächst theoretisch beleuchtet und wollten uns nun darüber informieren, was tagtäglich an den EU-Außengrenzen passiert, was die Folgen der aktuellen Flüchtlingspolitik sind und wie damit in Deutschland umgegangen wird.
Die Situation in Europa ist dadurch gekennzeichnet, dass in den Jahren 2012 und 2013 nicht mehr, sondern weniger syrische Flüchtlinge nach Europa gekommen sind, von denen zudem über 40 Prozent das Mittelmeer als Fluchtroute nach Europa nutzen mussten. Und das, obwohl deren Anerkennungsquote in Deutschland bei 99 Prozent liegt. Es ging uns bei der Diskussion um Sachinformationen und zugleich auch um die Frage, welche Debattenkultur im Bereich Asyl herrscht.

›AKT DER RACHE‹ 

Als Referenten dazu haben wir Stefan Buchen und Harald Glöde eingeladen. Stefan Buchen ist seit 2001 ARD-Fernsehjournalist und unter anderem für die Sendungen ›Panorama‹ und ›Monitor‹, für ›Tagesschau‹ und ›Tagesthemen‹ sowie den ›Weltspiegel‹ tätig; zudem ist er Autor des 2014 erschienenen Buches ›Die neuen Staatsfeinde: Wie die Helfer syrischer Kriegsflüchtlinge kriminalisiert werden‹. Dort berichtet er u.a. von den sogenannten ›Schleuser-Verfahren‹ vor dem Landgericht Essen. Im Klappentext des Verlages heißt es:
»Menschen, die selbst einmal Flüchtlinge waren, holen ihre Frauen, Kinder und Verwandten aus dem syrischen Krieg illegal nach Deutschland. Dafür behandelt der deutsche Staat sie wie Verbrecher. Die Fluchthelfer – die ›Schleuser‹ – werden von Regierung, Polizei, Justiz und Presse mit Terroristen und Mördern auf eine Stufe gestellt. In dem aktuellen Fall, den Stefan Buchen recherchiert hat, verlieren Behörden und die deutsche Flüchtlings- und Migrationspolitik jedes menschliche Maß. Die Angeklagten haben Pässe gefälscht, Grenzbeamte bestochen, Geld über Staatsgrenzen hinweg verschoben. Aber warum? Wie bewertet der deutsche Staat Verstöße gegen das Ausländerstrafrecht im Angesicht von Kriegsnot, Flucht und Vertreibung? Verstehen wir in Europa noch, was es heißt, Menschen unter Lebensgefahr in Sicherheit zu bringen? Darf es in Deutschland Gesetze und Behörden geben, die aus Taten, die Leben retten, schwere Verbrechen machen? Und können EU-Gesetzgebung und EU-Grenzregime dafür als Rechtfertigung dienen? Dieses Buch ist das Protokoll eines Skandals«.
Wir baten Stefan Buchen, uns in einem kurzen Vortrag einen Überblick bzw. eine Darstellung zum von ihm beobachteten LG-Verfahren in Essen zu geben. Darüber hinaus interessierte uns seine Einschätzung zum Fortgang der öffentlichen Debatte zum Thema ›Schleuser‹ bzw., ob es diese überhaupt gibt. Und schlussendlich wollten wir wissen, welche Erwartungen und Wünsche er an uns als rechtspolitisch arbeitende Anwaltsorganisation hat.
In seinem Beitrag berichtete Stefan Buchen, dass in Essen sechs ›Schleuser‹ gem. §§ 96, 97 AuslG verurteilt worden sind. Die Bundesregierung habe einen Kampf gegen ›Schleuser‹ ausgerufen und spreche nur davon, dass diese ›Illegale‹ ins Land bringen würden. Eine ernsthafte und ernst zu nehmende Debatte zu Flucht und Flucht­ursachen könne er nicht erkennen. Die Bundesregierung täte so, als hätten die vermeintlichen Straftaten nichts mit bundesdeutscher Flüchtlingspolitik zu tun, die doch gerade eine legale Einreise verunmöglicht. Stefan Buchen zeigte sich fassungslos angesichts der Vielzahl von gebündelten Ressourcen zur Bekämpfung der ›Schleuser‹ und Flüchtlinge, angesichts der Unsummen, die für Verteidigung der EU-Außengrenzen ausgegeben werden und angesichts des Ausmaßes der Zusammenarbeit der deutschen Polizeien mit denen anderer EU-Länder.
Die investierte Energie zur Kriminalisierung von ›Schleusern‹ stehe in keinem Verhältnis zu den ausbleibenden humanitären Bemühungen der Bundesregierung.
In den Verfahren vor dem LG Essen wurde offenbar, so Buchen, dass das den Fluchthelfern übergebene Geld fast vollständig zur Finanzierung der Fluchtkosten genutzt wurde. Das Landgericht habe lediglich einen ›Gewinn‹ in Höhe von 5.000,- Euro für die Tätigkeit des Helfers nachweisen können. Vor diesem Hintergrund sei ihm die Höhe der ausgesprochenen Geldstrafe von 100.000,- Euro nicht nachvollziehbar. Selbst die Bundespolizei habe im Rahmen der Ermittlungen anerkannt, dass nicht aus Gewinnstreben, sondern aufgrund eines Zugehörigkeitsgefühls gehandelt wurde. Das Gericht habe das jedoch nicht zu Gunsten der Verdächtigen gewertet, sondern habe stattdessen daraus eine ›besondere Gefährlichkeit‹ konstruiert, weil gerade aufgrund dieser Verbundenheit die Gefahr bestehe, dass besonders vielen Menschen bei der Flucht nach Deutschland geholfen wurde.
Nach alledem stellten sich ihm oder vielmehr stellte er uns die folgenden Fragen: Müssen diese Leute überhaupt bestraft werden? Es gehe ihm nicht um eine lediglich mildere Bestrafung. Sind die Menschen überhaupt unerlaubt eingereist? Ist Griechenland wirklich ein sicherer Drittstaat? Gibt es ein Menschenrecht auf Asyl? Sind die Fluchthelfer nicht eher Garanten der Menschenrechte und müssten dafür das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen? Auf ihn wirkten die Verfahren eher wie ein ›Akt der Rache‹. Die Verschiebung der Verantwortung für den Tod von Flüchtlingen weg von der Politik hin zu den ›Schleusern‹ sei Propaganda.

MASSENSTERBEN AN DEN EU-AUßENGRENZEN 

Als zweiten Referenten hatten wir Harald Glöde, eingeladen, den Leiter des Berlin-Büros von borderline europe – Menschenrechte ohne Grenzen e.V. Wir baten ihn um eine Darstellung der Situation in Griechenland, Italien und der Türkei sowie zur Kriminalisierung der Fluchthilfe in diesen Ländern. Unter www.borderline-europe.de beschreibt die Organisation ihr Selbstverständnis wie folgt:
»An den Außengrenzen der Europäischen Union finden immer mehr Menschen auf der Suche nach einem menschenwürdigen Leben den Tod. Sie fliehen vor der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen durch Kriege, Umweltkatastrophen, ungerechte Wirtschafts- und Handelsbedingungen und sie fliehen vor den gewalttätigen und diskriminierenden gesellschaftlichen Verhältnissen in ihren Herkunftsländern.
Die EU-Kommission setzt ebenso wie die meisten nationalen Regierungen ungeachtet tausender Opfer weiterhin vor allem auf die nach militärischen Prinzipien organisierte Abschottung gegen Flüchtlinge und MigrantInnen: Unter Führung der EU-Agentur ›Frontex‹ ist eine ganze Armee aus Militär, Polizei und Grenzschutz mit modernstem Kriegsgerät damit beschäftigt, Menschen am Grenzübertritt zu hindern. Besonders dramatisch ist die Lage im Süden der EU, wo Mittelmeer und Atlantik die Grenze zwischen den Kontinenten Europa und Afrika bilden. Tausende Flüchtlinge und MigrantInnen versuchen in kleinen, seeuntüchtigen Booten die gefährliche Überfahrt – wie viele von ihnen auf dem Meer ertrinken, verdursten oder Opfer von Gewalttaten werden, kann nur geschätzt werden. Allein die spanischen Behörden gehen davon aus, dass im Jahr 2006 und nur vor den Kanaren rund 6.000 Menschen gestorben sind. Flüchtlingsorganisationen befürchten, dass jede/r Zweite auf den Routen von Afrika über das offene Meer nach Europa ums Leben kommt.
An den östlichen Grenzen der EU hat die betriebene Abschottung nicht die dramatischen Konsequenzen wie im Mittelmeer und vor den Kanarischen Inseln. Aber auch hier finden vielfältige Menschenrechtsverletzungen statt, sei es durch lang andauernde Inhaftierungen von Flüchtlingen, durch den Ausbau menschenunwürdiger Flüchtlingslager oder durch die Rückschiebungen von Flüchtlingen.
Menschen, die Flüchtlingen und MigrantInnen in ihrer Not helfen und Leben retten, werden in zunehmendem Maße kriminalisiert, indem sie vor Gerichten wegen Fluchthilfe für ihr humanitäres Verhalten angeklagt werden. […]
Das wahre Ausmaß dieser Tragödie wird von offizieller Seite verschwiegen, die Bürgerinnen und Bürger Europas sollen nicht erfahren, was sich an den Außengrenzen der EU tatsächlich abspielt.
Wir wollen dieses Schweigen brechen. borderline europe wird deshalb den Vertuschungsversuchen der Behörden mit präzisen Recherchen in den Grenzregionen entgegenarbeiten. Wir wollen Öffentlichkeit, herstellen, um auf Basis zuverlässiger Informationen den tödlichen Konsequenzen der Abschottungspolitik entgegen zu wirken.
Denn menschenwürdige Lösungen lassen sich nur finden, wenn wir auch den Mut haben, uns der Realität zu stellen. Was wir tun wollen:

  • Konstante Beobachtung der Situation an den EU-Außengrenzen
  • Erstellung von Dokumentationen/Publikationen zum Thema
  • Unterstützung von Initiativen zur humanitären Hilfe an den Grenzen
  • Vermittlung von Ansprechpartnern für Presse und Veranstalter
  • Aufbau eines europäischen Netzwerkes«. 


Harald Glöde berichtete von Vorfällen an den Außengrenzen sowie zur Situation der Fluchthelfer durch borderline Europe. Auf Druck der EU hätten die Türkei, Griechenland und Italien die Strafmaße für illegale Einreise und ›Schleusen‹ drastisch erhöht. Die Gerichtsverfahren dauerten trotz der hohen Straferwartungen meistens nur 15 Minuten, so dass man kaum von rechtsstaatlichen Verfahren reden könne. Mittlerweile stellten Personen, die wegen illegaler Einreise oder ›Schleusens‹ verurteilt worden seien, die drittgrößte Gefangenengruppe in griechischen Gefängnissen.

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