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FREISPRUCH ALLER LIEBIGSTRASSE-AKTIVISTEN

POLIZEILICHE KONSTRUKTION VON ANKLAGEVORWÜRFEN

ANNA LUCZAK

Am 18. Juni 2014 ging nach 33 Hauptverhandlungstagen vor dem Amtsgericht Tiergarten der Prozess gegen sechs Angeklagte zu Ende, denen vorgeworfen worden war, bei der Demonstration am 2. Februar 2011, die nach der Räumung des über die Grenzen Berlin hinaus bekannten, ehemals besetzten Hauses in der Liebigstraße 14 stattfand, besonders schwere Fälle von Landfriedensbruch begangen zu haben. Alle sechs Angeklagten wurden freigesprochen. Das Urteil ist rechtskräftig, die Staatsanwaltschaft hat kein Rechtsmittel eingelegt.
Die Angeklagten sollten laut Anklagevorwurf Steine geworfen, Hindernisse auf die Fahrbahn verbracht, Verkehrsschilder herausgerissen oder Ähnliches gemacht haben. Einziges Beweismittel dafür, dass genau die Angeklagten und nicht andere Personen aus der Demonstration an den in der Anklage genau benannten Stellen genau die bezeichneten Handlungen begangen haben sollen, waren die Aussagen zweier Polizistinnen, die in Zivil an der Demonstration teilgenommen hatten. Diese beiden waren mit den Angeklagten und sechs weiteren Personen nach Zersplitterung der Demonstration gemeinsam festgenommen worden. Die beiden Polizistinnen hatten dann nach einer Gegenüberstellung mit den Festgenommenen über jeden Angeklagten gesagt, wobei sie ihn jeweils beobachtet haben wollten. Ohne dass von Seiten der ermittelnden Beamten jemals nachgefragt worden wäre, wie den beiden das schier unmöglich Erscheinende gelingen konnte, dass sie sich aus einer Gruppe von bis zu 400 Personen, von denen – so eine der Zeuginnen im Verfahren wörtlich - »fast jede Person« Straftaten begangen hätte, die sechs Angeklagten zu identifizieren, wurde aus genau diesen ersten Angaben der Zeuginnen anschließend der Anklagevorwurf konstruiert.
 
›NACHBESSERUNG‹ DER AUSSAGEN
 
Im Laufe des Ermittlungsverfahrens wurden die Aussagen durch die beiden Beamtinnen mehrfach ›nachgebessert‹. Unter anderem sprach eine der Zeuginnen bei einer Nachvernehmung plötzlich von einer zusammengehörigen »Gruppe in der Gruppe«, deren Mitglieder die Angeklagten gewesen seien, weshalb sie diese zuordnen hätte können. Auch hier wurde von der ermittelnden Abteilung des polizeilichen Staatsschutzes und auch von Seiten der Staatsanwaltschaft nicht nachgefragt, warum die Zeugin diese »Kleingruppe« nicht schon früher erwähnt hatte. Vielmehr stellte sich im Laufe des gerichtlichen Verfahrens heraus, dass eine Staatsanwältin bereits bei der allerersten Anzeigenaufnahme zugegen gewesen war und zwischendurch Ausdrucke der Niederschrift über die Vernehmung erhalten und kommentiert hatte.
In den 33 Hauptverhandlungstagen wurden neben den beiden Zeuginnen, von denen sich die eine schließlich in ein umfängliches Vergessen flüchtete, eine Vielzahl von PolizeibeamtInnen gehört. Fast alle, die mit der Begleitung der Demonstration, mit der Festnahme und der ›Gegenüberstellung‹, mit den Aufnahmen der Aussagen der Zeuginnen und den Ermittlungen im Übrigen zu tun hatten, erschienen vor dem Amtsgericht. Dieses Aufgebot an Polizei ließ ein Gesamtbild dessen entstehen, wie solche Einsätze verlaufen und wie üblicherweise Aussagen von beobachtenden polizeilichen TatzeugInnen unangefochtene Grundlage für Verurteilungen bleiben können, weil sie von allen Seiten abgesichert werden. Die Aussagen werden schon während der Aufnahme quasi gerichtsfest formuliert, sodann Abschriften der Aussagen und andere Unterlagen den beobachtenden und allen anderen mit der Sache befassten PolizeibeamtInnen zur Verfügung gestellt, die ihre Aussagen daran anpassen können. Dieses Verfahren wird ausdrücklich von Seiten der Staatsanwaltschaft unterstützt.

»NICHT HINREICHEND PLAUSIBEL…«
 
Wie es dazu kam, dass im Rahmen der Hauptverhandlung auch mittels eines Gutachtens des Aussagepsychologen Prof. Köhnken die Aussagen der Belastungszeuginnen ihren Stellenwert verloren, erläutert die Rechtsanwältin Undine Weyers, die einen der Angeklagten verteidigt hatte, in einem Interview mit Martin Beck, das in analyse & kritik erschien (ak 597, 16. September 2014 ; wir dokumentieren das Interview nachfolgend, die Red.). Das Gericht formulierte es in der Urteilsbegründung für den Freispruch wie folgt:
»In der Hauptverhandlung konnten die beiden Zeuginnen zwar unter Bezugnahme auf ihre Vernehmungen im Ermittlungsverfahren auf bestimmte Straftaten verweisen. Sie konnten allerdings dem Gericht nicht hinreichend plausibel deutlich machen, warum gerade die Angeklagten für die jeweils zugeschriebenen Taten in Betracht kommen. Zum anderen konnten beide Zeuginnen auch nicht darlegen, warum sie unter dem Eindruck einer Vielzahl von Tathandlungen, die sie im Laufe des etwa 1 ½ Stunden dauernden Demonstrationszuges beobachtet haben und die von einer Vielzahl von Teilnehmern möglicherweise begangen worden sind, wobei die Beteiligten überwiegend gleichartig bekleidet waren, sich am Ende unter Ausschluss von Verwechslungen die den Angeklagten vorgeworfenen Taten haben merken können« (AG Tiergarten 286 Ds 82/11).
 
Dr. Anna Luczak ist Rechtsanwältin in Berlin und hat ebenfalls einen der Angeklagten in dem Liebigstraße-Verfahren verteidigt. Die (Zwischen)Überschriften wurden von der Redaktion eingefügt.