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Brasiliens Mannschaft geschlagen auf dem Feld…

… UND IN DEN STÄDTEN DAS VOLK

VOLKER EICK

Das abschließende Dokument der Comitês Populares da Copa (Volkskomitees zum Fußball-Weltcup) zu den Vertreibungen im Zuge der Vorbereitungen auf die FIFA-Weltmeisterschaft in Brasilien 2014 und die Olympischen Sommerspiele 2016 in Rio de Janeiro steht noch aus;(1) gegenwärtige Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 250.000 Menschen ihre Unterkunft durch Stadien-, Straßen-, Flughafen- und sonstigen Bau von Infrastruktur verloren haben. Fest steht, dass allein in Rio de Janeiro 65.000 Menschen seit 2009 ihre Wohnungen wegen des FIFA- und anstehenden IOC-Events verloren haben. Fest steht auch, dass die 2007 angekündigten Kosten von 1,74 Milliarden Euro allein für den FIFA-Weltcup, die nach Ankündigungen der brasilianischen Regierung zudem ausschließlich privat erbracht werden sollten, im Frühjahr 2014 von eben jener Regierung auf 10,64 Milliarden Euro beziffert – und zu 80 Prozent aus Steuergeldern finanziert wurden.
Amnesty International hatte Anfang Mai 2014, nicht zuletzt auf Grund der Erfahrungen mit Menschenrechtsverletzungen in China und Südafrika vor und während der Sportevents sowie anlässlich der gewaltsamen Unterdrückung der Proteste im Juni und Juli 2013 in Brasilien, seine internationale Kampagne ›No foul play, Brazil‹ bekannt gemacht, die das Recht auf freie Meinungsäußerung und zu friedlichen Versammlungen in den Mittelpunkt stellte. Im Juli 2014 veröffentlicht Amnesty International seinen abschließenden Bericht. 

AMNESTY BENENNT MENSCHEN-RECHTSVERLETZUNGEN 

Der Bericht weist umfassend nach, dass insbesondere die Militärpolizei friedliche Demon­strationen mit Knüppeln, Tränengas, Pfefferspray und Blendschockgranaten angegriffen und teilnehmende Personen festgenommen hat. In São Paulo musste sich am 9. Juni 2014 ein im dortigen AStA organisierter Jura-Student nach seiner offenbar gezielten Festnahme aus einer Demonstration heraus nackt ausziehen und wurde dann zusammengeschlagen. Drei Tage später, ebenfalls in São Paulo wurden zahlreiche Menschen verletzt, unter ihnen mindestens drei Journalisten.
Insgesamt wurden zahlreiche Journalistinnen und Journalisten, zum Teil gezielt, von der Militärpolizei angegriffen und verletzt, unter ihnen auch Mitarbeiter von CNN und der Tageszeitung O Globo; insgesamt sind mindestens 18 JournalistInnen verletzt worden, allein zum Endspiel in Rio de Janeiro am 13. Juli waren 15 PhotographInnen und FilmmacherInnen angegriffen, verletzt und ihr Equipment zum Teil zerstört worden.
Aus dem Bericht geht auch hervor, dass es landesweit nahezu täglich Demonstrationen und Versammlungen gegen die FIFA-Weltmeisterschaft gegeben hat – und diese ebenso regelmäßig durch die Militärpolizei angegriffen wurden. In nur drei Fällen ging während der vierwöchigen Veranstaltung laut Amnesty International dabei zuvor Gewalt von den Demonstrierenden aus. Während nach den brasilianischen Gesetzen Demonstrationen nicht angemeldet werden müssen, sondern jederzeit stattfinden können, bestimmen die FIFA-Statuten für Weltmeisterschaften, dass während ihrer Austragung Demonstrationen gar nicht stattfinden sollen. Offensichtlich hat sich die Militärpolizei an dieser Auflage orientiert.

BEHINDERUNG VON RECHTSANWÄLTINNEN UND -ANWÄLTEN 

In Rio de Janeiro verweigerte die FIFA allen RechtsanwältInnen des Defensoria Pública, den staatlich finanzierten PflichtverteidigerInnen, den Zugang zum Maracanã-Stadion und weiteren relevanten Sportstätten, so dass sie ihrer Arbeit nicht nachgehen konnten. Ebenfalls in Rio wurde RechtsanwältInnen von festgenommenen Demonstrierenden der Zugang zu den Akten verweigert. Und schließlich wurde am 23. Juli durch eine Zeitungsmeldung bekannt, dass die Telefone von mindestens zehn RechtsanwältInnen, die Demonstrierende verteidigen, von der Polizei mit richterlicher Genehmigung abgehört wurden; ebenfalls abgehört wurden die Telefone der Defensores de Direitos Humanos, des Instituts der RechtsanwältInnen zur Verteidigung der Menschenrechte.
RechtsanwältInnen wurden während ihrer Arbeit auch angegriffen. In São Paulo wurde am 25. Juni der Rechtsanwalt Benedito Barbosa festgenommen und von der Militärpolizei verletzt, während er seiner Arbeit im Zusammenhang mit einer Wohnungsräumung nachging; ihm wurde auch kein Zugang zu seinen Klienten gewährt. Regelmäßig trugen die Militärpolizeikräfte, insbesondere die Anti-Aufstandspolizei, nicht die vorgeschriebenen Identifikationsnummern. Zwei RechtsanwältInnen, Daniel Biral und Silvia Daskal, die am 1. Juli in São Paulo einen leitenden Polizeibeamten auf dieses Fehlverhalten hinweisen wollten, wurden daraufhin festgenommen und nach eigenen Angaben auf der Wache zusammengeschlagen. 

PRÄVENTIVHAFT UND EINSATZ TÖDLICHER WAFFEN 

In Belo Horizonte wurde mit einem Verhältnis von sechs Militärpolizisten auf jeden Demonstrierenden eine Demonstration am 14. Juni gleich ganz unterdrückt, in Fortaleza bekamen Mitglieder von sozialen Bewegungen und NGOs Vorladungen an genau dem Tag und zu der Zeit, als sie an einer Demonstration teilnehmen wollten, andere Demonstrierende wurden zusammengeschlagen und dann einer in Zivil agierenden Gruppe übergeben, die sie weiter zusammenschlug. Unter dem Vorwurf, sie hätten eine Gang gegründet, wurden in mehreren Fällen auch Menschen in Präventivhaft genommen und blieben zum Teil bis zu zehn Tage inhaftiert. Nach Angaben von Amnesty International sind in zahlreichen Fällen keine Untersuchungen gegen die Beamten der Militär- und Stadt- bzw. Distriktpolizeien eingeleitet worden.
In São Paulo und Rio de Janeiro wurden durch die Polizei nicht nur so genannte less-lethal weapons, also etwa Pfefferspray, Gummigeschosse und Tränengas eingesetzt, sondern auch mit scharfen Waffen – die von Heckler & Koch ausgeliefert wurden – sowohl in die Luft als auch auf Demonstrierende geschossen. In Rio wurden am 25. Juni dabei zwei Personen, unter ihnen eine Vierzehnjährige, während einer Kundgebung durch Polizeikugeln verletzt; die spontane Kundgebung hatte sich versammelt, nachdem bei einer Operation der Militärpolizei am selben Tag ein Dreijähriger durch einen Kopfschuss getötet wurde. Aber, wie es schon 1972 bei den Münchner Olympischen Sommerspielen hieß – und 2016 in Rio de Janeiro wieder zu besichtigen sein wird –, ›the show must go on‹. 

Volker Eick ist Politikwissenschaftler und Mitglied im Erweiterten Vorstand des RAV. 

Quellen
amnesty international (2014): ›No Foul Play, Brazil!‹ Campaign. Protests during the World Cup 2014 (Final Overview). Rio de Janeiro. [http://www.amnesty.org/en/library/info/AMR19/008/2014/en]
Natacha Bracq (2014): Brazil: Extra-Time for Human Rights? [http://globalrightscompliance.com/news/brazil-extra-time-human-rights]
Glaucia Marinho, Mario Campagnani, Renato Cosentino (2014): Brazil. In: Marilene de Paula (Ed.), World Cup for Whom and for What? A Look upon the Legacy of the World Cups in Brazil, South Africa, and Germany. Rio de Janeiro. [http://www.portalpopulardacopa.org.br/index.php?option=com_k2&view=item&id=198:dossi%C3%AA-nacional-de-viola%C3%A7%C3%B5es-de-direitos-humanos]
National Coalition of Local Committees for a People’s (2012): World Cup and Olympic Mega-Events and Human Rights Violations in Brazil (Executive Summary). Rio de Janeiro. [http://www.portalpopulardacopa.org.br/index.php?option=com_k2&view=item&id=198:dossi%C3%AA-nacional-de-viola%C3%A7%C3%B5es-de-direitos-humanos]

(1) Das Gutachten wird für das Frühjahr 2015 erwartet.