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Fallbeil des Westens?

WOLFGANG KALECK ANALYSIERT IN EINEM NEUEN BUCH, WEM DAS VÖLKERSTRAFRECHT DIENT

VON RONEN STEINKE

Im Büro von Fatou Bensouda, der neuen Chefanklägerin am Internationalen Strafgerichtshof, hängt ein Plakat, das ihren ärgsten KritikerInnen diebische Freude bereiten dürfte - als optisch eindrucksvolles Beweisstück gegen die Anklägerin selbst. 22 Köpfe sind darauf abgebildet. Minister, Generäle, zwei Staatschefs. Das Plakat zeigt alle Personen, gegen die der Gerichtshof derzeit Ermittlungen führt. Und nur ganz unten rechts zeigt es zwei, deren Hautfarbe nicht schwarz ist.
Freilich, auch diese zwei, beide Libyer, kommen aus Afrika. So wie ausnahmslos alle, gegen die das Weltstrafgericht in den gut zehn Jahren seit seiner Eröffnung im Juli 2002 aktiv geworden ist. Zwar liegen in den Schubladen der Haager AnklägerInnen auch noch Dossiers aus anderen Kontinenten - aus Kolumbien, Georgien, Honduras, Palästina. Aber die ErmittlerInnen, die auf diese nicht-afrikanischen Fälle an­gesetzt sind, kann man an zwei Händen abzählen. Der Fokus auf Afrika ist mehr als deutlich - was den Verdacht nährt, die Weltjustiz konzentriere sich nicht nur zufällig auf missliebige Dritte-Welt-Herrscher, die keine PolitikerInnen, deren Hautfarbe weiß ist, zu ihren Freunden zählen. Die vorwiegend westlichen GeldgeberInnen der Weltjustiz sind bislang nie in den Fokus geraten.
Hier setzt Wolfgang Kaleck, Berliner Menschenrechtsanwalt und langjähriger RAV-Vorsitzender, mit seinem neuen Buch "Mit Zweierlei Maß: Der Westen und das Völkerstrafrecht" an. Kaleck kennt sich gut aus in der internationalen Justiz, er kritisiert sie oft. Seit Jahren versucht er vergeblich, auch die Sündenfälle des Westens vor Gericht zu bringen. So zeigte er in Deutschland den damaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und den CIA-Direktor George Tenet wegen Folterungen unter anderem in Abu Ghraib an, die deutsche Generalbundes­anwaltschaft jedoch blieb untätig. Kaleck lässt es sich nun nicht nehmen, in seinem Buch zumin­dest einleitend die justizielle Situation in Deutschland anzuprangen. 2002 wurde hier eigens ein Völkerstrafgesetzbuch geschaffen. Angewandt wurde es bislang nur auf zwei Ruander. Rumsfeld musste sich nie fürchten.
Wo es aber um das Globale geht, um die Haager JuristInnen, die mit der Strafverfolgung auf allen fünf Kontinenten als Hauptaufgabe betraut sind, da zeichnet Kaleck ein feineres Bild. Zwar ist die internationale Strafjustiz vor zehn Jahren von der kurzen Leine des UN-Sicher­-heitsrats - der nur Jugoslawen und Ruander vor Tribunale zitierte - in eine relative Unabhängigkeit entlassen worden. Der Internationale Strafgerichtshof hat nunmehr grundsätzlich die Freiheit, sich seine Ziele selbst zu suchen. Der Sicherheitsrat hat den Gerichtshof nie gestoppt, er hat ihm im Gegenteil sogar zweimal - in Darfur und Libyen - zu einer Zuständigkeit verholfen, die der Gerichtshof sonst nicht gehabt hätte. Aber aus ganz freien Stücken stürzten sich die solchermaßen emanzipierten Haager AnklägerInnen trotzdem nicht auf Afrika. Frei, konzediert Kaleck, ist die Weltjustiz ja schon aus rechtlichen Gründen nicht. Viele Staaten haben sich Den Haag bislang verweigert. Dass die USA, Russland, China, Indien sowie beinahe alle Staaten des Nahen Ostens von Libanon über Israel bis Iran es abgelehnt haben, das Statut des Internationalen Strafgerichtshof zu ratifizieren, ist für die Haager JuristInnen ein Sachzwang: Es ihnen vorzuwerfen, würde fehlgehen. Der Vorwurf, die Weltjustiz drücke bei israelischen Menschenrechtsverletzungen regelmäßig beide Augen zu, ist schon aus diesem banalen Grund nicht richtig.
Rund um die blutigen Dauerkonflikte Zentralafrikas hingegen, in Kongo, Uganda oder der Zentralafrikanischen Republik, ist die Haager Justiz ein gern gesehener Gast, dort riefen in den vergangenen Jahren manche Regierungschefs sogar selbst die ErmittlerInnen des Internationalen Strafgerichtshofs herbei - so zuletzt in Mali. Dass die Haager JuristInnenen unter diesen Bedingungen schwerpunktmäßig in Afrika landen, ist dann schon nicht mehr ganz so verblüffend.

EINE KLEINE, KLUGE ENTSCHWÖRUNGSTHEORIE

Frei, argumentiert Kaleck, ist aber ohnehin niemand, der dem Konfliktgeschehen auf der Welt irgendwie gerecht werden will - und darin liegt dann der entscheidende Wert dieses präzis recherchierten Buchs. Brutale Gewaltherrscher, die ZivilistInnen mit Füßen treten, sind nicht einfach gleichmäßig über den gesamten Globus verteilt, ruft Kaleck denen in Erinnerung, die gerne die USA als den größten Menschenrechtsverletzer der Welt darstellen (Kaleck tut das freilich in etwas juristisch gedämpfter Form). Das Schlachten und Ausrotten in Zentralafrika in den vergangenen 20 Jahren - "Africa's World War" hat das der Historiker Gérard Prunier genannt - sticht aus dem weltweiten Konfliktgeschehen in diesen Jahren zweifellos heraus. Man könne sich "dem Einwand nicht ganz entziehen", schreibt Kaleck, dass die Dimension der Verbrechen, welche etwa der US-amerikanischen oder auch der israelischen Armee vorgeworfen werden, "eine ganz andere" sei. So sehr man es beklagen mag, wenn Rumsfeld straflos davonkommt, so bleibt damit doch auch die Erkenntnis: Die Haager JuristInnen brauchen nicht erst einem geheimen Drehbuch zu folgen, um zuallererst in Zentralafrika zu landen.
Wolfgang Kaleck wendet sich damit gegen simplifizierende Stimmen gerade in den eigenen, antiimperialistischen Reihen - und liefert so für die rechtspolitische Debatte über die noch junge Haager Weltjustiz beinahe das glatte Gegenteil dessen, was der Titel seines Buchs erwarten ließ: eine kleine, kluge Entschwörungstheorie.

Wolfgang Kaleck: Mit zweierlei Maß. Der Westen und das Völkerstrafrecht. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2012. 144 Seiten, 15,90 Euro.

Dr. Ronen Steinke, Journalist bei der Süddeutschen Zeitung, hat zuletzt das Buch "The Politics of International Criminal Justice: German Perspectives from Nuremberg to The Hague" veröffentlicht.