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Polizeigewalt außer Kontrolle?

VERANSTALTUNG LOTETE MÖGLICHKEITEN EINER UNABHÄNGIGEN UNTERSUCHUNGSINSTANZ VON POLIZEIÜBERGRIFFEN AUS

VON PEER STOLLE

Am 16. Mai 2011 führte der RAV eine Veranstaltung mit dem Titel "Polizeigewalt außer Kontrolle? Unabhängige Untersuchungsinstanzen als Mittel gegen Polizei­übergriffe" durch. Sie wurde organisiert in Zusammenarbeit mit der Humanistischen Union, dem Komitee für Grundrechte und Demokratie, der Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei/CILIP, der Kampagne für Opfer rassistisch motivierter Polizeigewalt (KOP Berlin), dem AKJ an der HU Berlin, der NRV, den Jungen DemokratInnen/Junge Linke Berlin und der Internationalen Liga für Menschen und unterstützt von der Holtfort-Stiftung.

Anlass hierfür waren die vielfältigen Erfahrungen, die (nicht nur) Mitglieder des RAV im Zusammenhang mit Strafverfahren gegen PolizeibeamtInnen wegen Körperverletzung im Amt machen müssen: Von der Staatsanwaltschaft werden sie regelmäßig und oft mit haarsträubenden Begründungen eingestellt. Bereits im Herbst 2010 war dies Thema auf einer Fachtagung von Amnesty International in Berlin. Die Frage nach einer wirksamen Kontrolle der Ausübung staatlicher Macht und Gewalt durch die Polizei sollte deshalb auf dieser Veranstaltung vertieft werden.

In Berlin wurde in diesem Jahr die Einführung der Kennzeichnungspflicht für PolizeibeamtInnen beschlossen (und mittlerweile auch umgesetzt). Dadurch wird eine Identifizierung der handelnden BeamtInnen zumindest erleichtert. Vor diesem Hintergrund sollte mit der Veranstaltung ein Schritt weiter gegangen und eine politische Diskussion über die Notwendigkeit und die konkrete Ausgestaltung einer unabhängigen Untersuchungsinstanz für Fälle von rechtswidriger Gewaltanwendung durch PolizeibeamtInnen angestoßen werden. Ziel war unter anderem die Vor- und Nachteile solcher Instanzen herauszuarbeiten, um hieraus entsprechende politische Forderungen entwickeln zu können.

ERFAHRUNGEN AUS DER ANWALTLICHEN PRAXIS

Auf der Veranstaltung in der Humboldt Universität zu Berlin berichteten vor rund 300 ZuhörerInnen zunächst Rechtsanwältin Christina Clemm und Rechtsanwalt Ulrich v. Klinggräff über die Erfahrungen aus anwaltlicher Sicht im Rahmen der Vertretung von Betroffenen von Polizeigewalt. Die beiden KollegInnen legten dar, dass sowohl die polizeilichen Ermittlungen gegen PolizistInnen als auch der Umgang von Staatsanwaltschaft und Gericht in den Verfahren wegen Körperverletzung im Amt sich grundsätzlich von anderen Strafverfahren unterscheiden. Dies gilt insbesondere für Verfahren, in denen es um den Vorwurf der Gewaltanwendung gegen PolizeibeamtInnen geht. Viele Verfahren gelangen gar nicht zu Gericht, da die wenigsten Betroffenen von Polizeigewalt eine Strafanzeige erstatten.

Den meisten ist bewusst, dass dies nicht zu einer Verurteilung führen wird. Stattdessen setzt man sich der Gefahr einer Gegenanzeige aus, insbesondere wegen des Vorwurfs des Widerstandes gegen VollstreckungsbeamtInnen. Eine solche Gegenanzeige dient den KollegInnen zufolge oft auch dem Zweck, die eigene Gewaltanwendung zu rechtfertigen. Schließlich werden die Betroffenen von Polizeigewalt, die dieses zur Anzeige bringen, nicht selten wegen des Vorwurfs der falschen Verdächtigung verfolgt.

Christina Clemm und Ulrich v. Klinggräff berichteten weiter, dass sie in diesen Verfahren oft die Erfahrung machen mussten, auf eine "Mauer des Schweigens" zu stoßen. "Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen" sei ein weitverbreiteter Reflex unter PolizeibeamtInnen, wenn ein Kollege Beschuldigter in einem Strafverfahren ist. Diese Erfahrung hat Rechtsanwalt Klinggräff eindrücklich am Beispiel des Nebenklageverfahrens im Fall des in einer Gewahrsamzelle des Polizeireviers Dessau zu Tode gekommenen Oury Jalloh dargestellt.

Generell lässt sich aus Sicht der beiden KollegInnen sagen: Die von der Polizei durchgeführten Ermittlungen sind oft schleppend und halbherzig. So werden häufig keine Vernehmungen durchgeführt bzw. schriftliche Äußerungen als ausreichend angesehen. Eine konfrontative Befragung zur Klärung von Widersprüchen findet nur selten statt. An die Beweise werden seitens der Staatsanwaltschaft oft unüblich hohe Anforderungen gestellt. Man hat das Gefühl, so die ReferentInnen, dass die Ermittlungsverfahren mit dem Ziel geführt werden, sie so schnell wie möglich einzustellen. Manchmal werden sogar Sachverhalte erfunden, die von keinem der Beteiligten so geäußert worden sind. Sollte es dann tatsächlich zu einer Hauptverhandlung kommen, wird die Glaubwürdigkeit von PolizeibeamtInnen als besonders hoch eingeschätzt und dabei unberücksichtigt gelassen, dass ihre Aussagen auch von Interessen geleitet sein können - allein schon im Hinblick auf die Rechtfertigung des eigenen Handelns.

EINE MAUER DES SCHWEIGENS

Daran anschließend führte Martin Herrnkind, Diplom-Kriminologe und Polizist, aus, welche Defizite bei der internen Kontrolle von Polizeiarbeit vorliegen. Das Mitglied der Polizeigruppe von Amnesty International berichtete in seinem Vortrag aus Interviews, die mit PolizeibeamtInnen, die Fälle von Polizeigewalt zur Anzeige gebracht haben, gemacht worden sind. Ergebnis der Untersuchung war, dass fast alle PolizeibeamtInnen von ihren KollegInnen schwer gemobbt wurden und sich sogar dahin gehend geäußert haben, dass sie anderen BeamtInnen, die in einer ähnlichen Situation sein sollten, raten würden, nicht dasselbe zu tun und lieber zu schweigen. Dieser Korpsgeist bzw. diese "Mauer des Schweigens" kann als Teil des polizeilichen Selbstverständnisses begriffen werden und ist daher intern nur schwer aufzubrechen. 

Im Anschluss daran referierte Prof. Dr. Norbert Pütter, Redakteur der Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei/CILIP, über Erfahrungen, die in anderen Ländern mit der Einrichtung von (unabhängigen) Untersuchungsinstanzen für Fälle von Polizeigewalt gemacht worden sind (vgl. dazu den Beitrag von Norbert Pütter in diesem Heft). Trotz der teilweise fehlenden Vergleichbarkeit der Modelle, die unter anderem aus unterschiedlichen Polizeisystemen, einer differierenden historischen Tradition und einem unterschiedlichen politischen Selbstverständnis resultieren, entwickelte Norbert Pütter vier Kriterien, anhand derer die Anforderungen, die an eine unabhängige Untersuchungsinstanz gestellt werden müssen, entwickelt werden können. 

Dies betrifft zunächst die Zugänglichkeit der Instanz, also die Frage, wie hoch die Schwelle ist, um sich bei der Instanz beschweren zu können. Darüber hinaus muss die Einrichtung unabhängig sein, wobei vor allem die Fragen, ob und wenn ja an welche Institution die Kommission angegliedert ist, und wer über die Zusammensetzung bestimmt, von entscheidender Bedeutung sind. Der dritte Punkt betraf die Frage der Ermittlungskompetenzen, die der Kommission zur Verfügung stehen. Im internationalen Vergleich unterschied Norbert Pütter grob zwischen zwei Modellen: die externe Überwachung interner Ermittlungen und das Modell der eigenen Ermittlungsbefugnis. Zum vierten Punkt, dem Verhältnis von Strafverfolgung und Disziplinarverfahren, führte er aus, dass in einigen Ländern die Möglichkeit einer parallelen Befassung - unabhängig von einem Straf- oder Disziplinarverfahren - besteht, in anderen Ländern stattdessen das Beschwerdeverfahren ruht, bis eine disziplinaroder strafrechtliche Klärung erreicht worden ist. Schließlich gibt es noch das Modell, das zunächst die Ermittlungen von der Kontrollinstanz geführt werden und anschließend das Ergebnis an die Staatsanwaltschaft bzw. an Vorgesetzte übermittelt wird. 

Zusammenfassend stellte Norbert Pütter fest, dass die Zahl der Beschwerden steigt, sobald es spezifische Beschwerdeeinrichtungen gibt. Auch nimmt die Akzeptanz des Beschwerdeverfahrens zu, je länger dieses Verfahren existiert. In einigen Ländern konnte sogar beobachtet werden, dass innerhalb des Polizeiapparates die anfänglich überwiegend bestehende Ablehnung zurückgegangen ist. Allerdings wurden auch die Erfahrungen gemacht, dass selbst durch die Beschwerdeinstanz veranlasste umfangreiche Untersuchungen nicht zwangsläufig zu einer Anklageerhebung seitens der Staatsanwaltschaft führen müssen. Sie bieten aber die Möglichkeiten, bestimmte Fälle von Polizeigewalt zu dokumentieren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

UNABHÄNGIGE KONTROLLE IST KEIN ALLHEILMITTEL

Als Ergebnis konnte festgehalten werden, dass eine unabhängige Untersuchungsinstanz zwar kein Heilmittel gegen undemokratische Polizeiorganisationen ist, aber ein wichtiges und notwendiges Fundament sein kann, wenn es um Kontrolle und um Vermeidung von rechtswidriger Polizeigewalt geht. Es kann dazu dienen, die Beschwerdemacht der BürgerInnen gegenüber PolizeibeamtInnen zu erhöhen und gleichzeitig eine Demokratisierung innerhalb des Polizeiapparates zu befördern. Diese Aufgabe kann es aber nur erfüllen, wenn es entsprechend ausgestattet und mit den notwendigen Kompetenzen versehen ist; sonst verkommen derartige Einrichtungen zum Feigenblatt. 

In der anschließenden Diskussion wurden aus dem Publikum die Vorträge durch eigene Beiträge ergänzt, insbesondere durch Erfahrungsberichte, die im Zusammenhang mit unabhängigen Untersuchungskommissionen oder anderen Mitteln zur Beobachtung und Kontrolle von Polizeigewalt gemacht worden sind. So wurde beispielsweise von den Erfahrungen berichtet, die im Rahmen der Untersuchungskommissionen, die im Nachgang zum G8-Gipfel 2001 in Genua und zur Aufklärung der Übergriffe von Angehörigen der Volkspolizei und der Kampfgruppen auf Demonstrierende im Herbst 1989 in Ost-Berlin gemacht worden sind. Des Weiteren wurden das Konzept der Demobeobachtungsgruppe und die Arbeit der Kampagne für Opfer rassistisch motivierter Polizeigewalt vorgestellt. Kontroversen entstanden an der Frage, ob es sinnvoll sei, die Einrichtung von Untersuchungskommissionen (die ja notwendigerweise durch den Gesetzgeber erfolgen müsste) zu fordern, und ob es nicht stattdessen zielführender sei, Untersuchungskommissionen "von unten" einzurichten, und ob man nicht viel mehr auf Eigeninitiative und selbst ermächtigende Ansätze setzen sollte.

DIE DISKUSSION WIRD FORTGESETZT

Als Ergebnis der Veranstaltung lässt sich insofern festhalten, dass unabhängige Kontrollinstanzen kein Allheilmittel gegen Polizeigewalt sind, sondern nur einen Weg unter vielen darstellen. Dazu gehören vor allem auch basis­orientierte Ansätze, die eigene Mittel und Wege nutzen. Parallel dazu ist es aber auch bedeutsam, den politischen Prozess der Einrichtungen von Untersuchungsinstanzen und sogenannten Polizeibeauftragten kritisch zu begleiten und dabei eigene politische Forderungen in die öffentliche Debatte einzubringen. Zu diesem Zweck sollte und konnte die Veranstaltung konkrete Kriterien ausbuchstabieren und diskutieren, die an solche Instanzen zu stellen sind, damit diese keine Feigenblätter ohne praktische Wirkung werden.

Die Vorbereitungsgruppe, der neben Mitgliedern des RAV auch VertreterInnen der HU und weiterer Bürgerrechtsorganisationen angehören, traf und trifft sich im Nachgang weiter und erarbeitet gerade einen Katalog von Kriterien, der bei der Einrichtung von unabhängigen Kontrollinstanzen zu beachten ist. Über das Ergebnis wird berichtet werden.

 

Peer Stolle ist Anwalt in Berlin und Vorstandsmitglied des RAV.