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Ausgang trotz Freispruch weiter ungewiss

RAV-DELEGATION BEOBACHTETE DAS STRAFVERFAHREN GEGEN PINAR SELEK IN ISTANBUL

VON FRANZISKA NEDELMANN

Die türkische Soziologin und Schriftstellerin Pinar Selek lebt derzeit im Berliner Exil, wo sie als Stipendiatin des deutschen P.E.N.-Zentrums an ihrem ersten Roman arbeitet. Durch ihre vielfältigen Veröffentlichungen hat sie sozial benachteiligten Gruppen (Straßenkindern, Transsexuellen, Prostituierten) und Minderheiten (KurdInnen, ArmenierInnen) eine Stimme gegeben und Missstände der türkischen Gesellschaft aufgezeigt.

In deutscher Sprache ist kürzlich von ihr die Untersuchung "Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt: Männliche Identitäten" über den Männlichkeitskult in der Türkei erschienen. Darin setzt sie sich vor allem mit dem Einfluss des Militärs auf die männlichen Identitäten auseinander. (1)

1998 wird Pinar Selek verdächtigt, an einem Anschlag auf den Istanbuler Gewürzbasar beteiligt gewesen zu sein, der der PKK zugeschrieben wurde und bei dem mehrere Menschen ums Leben kamen. Sie wird verhaftet und über viele Monate hinweg gefoltert. Sie soll Namen von PKK-AktivistInnen preisgeben, mit denen sie zuvor im Rahmen einer soziologischen Studie Interviews geführt hat. Der politische Hintergrund der Festnahme lag insofern auf der Hand.

Am 9. Februar 2011 verfolgte eine RAV-Delegation neben vielen anderen Gruppen aus dem In- und Ausland den nach wie vor andauernden Strafprozess gegen Pinar Selek vor dem "Gericht für schwere Straftaten" in Istanbul. Die besondere öffentliche Beobachtung des Verfahrens gründete sich vor allem auf folgende Besonderheiten.

Bereits zwei Mal wurde Pinar Selek zuvor freigesprochen. Dabei wurde vom Gericht in Übereinstimmung mit einer Vielzahl von Gutachten festgestellt, dass die Explosion auf dem Basar nicht auf einem Bombenanschlag beruhte, sondern von einer defekten Gasflasche ausgelöst wurde. Ohnehin war die Beweislage ausgesprochen dürftig: Die einzige Belastung lag in einer durch Folter erzwungenen Aussage eines Mitbeschuldigten.

Demgegenüber hielt das Kassationsgericht die Beteiligung von Pinar Selek an dem Anschlag für nachgewiesen und hob die Freisprüche auf. Dabei stützte es sich insbesondere auf die durch Folter erlangte Aussage. Diese Entscheidung hatte international große Empörung hervorgerufen.

Dementsprechend hatten sich am 9. Februar 2011 neben vielen türkischen JournalistInnen und internationalen ProzessbeobachterInnen mehrere hundert Menschen in Istanbul versammelt, um den dritten Prozessanlauf zu beobachten. Pinar Selek reiste auf Anraten ihrer Verteidigung nicht nach Istanbul.

UNLIEBSAME WISSENSCHAFTLERIN SOLL MUNDTOT GEMACHT WERDEN

Die Prozessatmosphäre in dem überfüllten Verhandlungssaal machte auf uns BeobachterInnen nicht den Eindruck eines Staatsschutzverfahrens: Aus Solidarität mit der Angeklagten versammelten sich an die 40 Anwältinnen und Anwälte um den Verteidigertisch, unter ihnen auch ihr Vater, ein bekannter linker Strafverteidiger, und ihre Schwester.

Die Verteidigung erhielt von der Kammer zum Prozessauftakt die Gelegenheit, ausführlich die Fehlerhaftigkeit und Einseitigkeit der rechtlichen Vorgaben des Kassationsgerichts darzulegen. Trotz des faktisch beeindruckenden und rechtlich fundierten Vortrags forderte die Staatsanwaltschaft in unmittelbarem Anschluss die anklagegemäße Verurteilung Pinar Seleks zu lebenslanger Haft. Nach nur zweistündiger Hauptverhandlung unterbrach die Kammer die Sitzung, um sodann keine 20 Minuten später den zu diesem Zeitpunkt überraschenden Freispruch zu verkünden.

Zur Begründung führte das Gericht dabei lediglich aus, dass es sich rechtlich nicht an die Vorgaben des Kassationsgerichts gebunden fühle und nach wie vor an den früheren Feststellungen festhalte, die zu den Freisprüchen führten. Die Staatsanwaltschaft legte unverzüglich Revision gegen den Freispruch ein und beantragte im Mai dieses Jahres erneut den Erlass eines Haftbefehls gegen Pinar Selek. Das Interesse der Staatsanwaltschaft ist dabei offensichtlich, das Kassationsgericht schlussendlich zu einer das Instanzgericht bindenden Entscheidung zu drängen. Eine Gefahr, die von den von uns befragten VerteidigerInnen in Istanbul bestätigt wird.

Damit bleibt nach drei Freisprüchen und einer Verfahrensdauer von über zwölf Jahren der Ausgang des Verfahrens für Pinar Selek weiterhin ungewiss.

Eine Prozessbeobachtung, die Ratlosigkeit hervorruft: Zeigt sich die Staatsschutzkammer des "Gerichts für schwere Straftaten" in Istanbul offensichtlich gewillt, rechtstaatliche Standards einzuhalten, ist offenkundig, dass Staatsanwaltschaft und Kassationsgericht hingegen eine lebenslange Verurteilung von Pinar Selek um jeden Preis anstreben. Der klassische Weg, eine unliebsame feministische Wissenschaftlerin mit dem Instrument der politischen Justiz mundtot zu machen.

Franziska Nedelmann ist Anwältin in Berlin und Vorstandsmitglied des RAV.

Fußnoten:

1    Pinar Selek: Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt: Männliche Identitäten. Orlanda, Berlin 2010