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Anhaltende Repression in der Türkei: Das KCK-Verfahren

MIT JURISTISCHEN MITTELN SOLL DIE POLITISCHE OPPOSITION IN DEN KURDISCHEN PROVINZEN AUSGESCHALTET WERDEN

VON BRITTA EDER

Mit Beteiligung des RAV befand sich im Oktober 2010 eine Menschenrechtsdelegation für zehn Tage in den kurdischen Provinzen der Türkei. Die Delegation wollte sich ein Bild über die aktuelle Situation verschaffen. Unter anderem besuchte sie den am 18. Oktober 2010 begonnenen sogenannten KCK-Prozess gegen 152 Angeklagte vor dem 6. Schwurgericht für besonders schwere Straftaten in Diyarbakir.

In der Türkei und insbesondere in den kurdischen Provinzen haben weitgehend unbeachtet von der europäischen Öffentlichkeit in den vergangenen beiden Jahren gravierende Menschenrechtsverletzungen erneut stark zugenommen. Trotz eines einseitigen, nur kurzzeitig aufgrund der andauernden Kriegs- und Repressionspolitik des türkischen Staates unterbrochenen Waffenstillstands der Kurdischen Arbeiterpartei PKK finden seit Monaten fast täglich Militäroperationen und Übergriffe staatlicher Kräfte auf die Zivilbevölkerung statt.

Im Jahr 2009 registrierte der Menschenrechtsverein (IHD) Diyarbakir für das Jahr 2009 im Südosten der Türkei mehr als 1.000 Fälle von Folter.(1) Im ersten Halbjahr 2010 kam es zu 19 dokumentierten extralegalen Hinrichtungen durch staatliche und paramilitärische Kräfte und über 650 dokumentierten Fällen von Folter. (2) Zudem häuften sich im vergangenen Jahr Berichte über den Einsatz chemischer Waffen (3) und postmortale Verstümmelungen durch das türkische Militär. (4)

HINTERGRUND

Nach den Kommunalwahlen im April 2009 stellt die Partei für eine Demokratische Gesellschaft (DTP) bzw. nach deren Verbot im Dezember 2009 die Partei für Frieden und Demokratie (BDP) in den kurdischen Provinzen der Türkei in 99 Kommunen (zuvor lediglich in 58) die BürgermeisterInnen bzw. Stadtverwaltungen. Die DTP erreichte bei den Wahlen zwischen mehr als 65 Prozent der Stimmen z. B. in der Millionenstadt Diyarbakir (kurdisch Amed) bis hin zu mehr als 90 Prozent in Hakkari (kurdisch Colemêrg). Unmittelbar danach begann eine seit den 1990er Jahren einmalige Repressionswelle gegen kurdische PolitikerInnen, MenschenrechtsaktivistInnen und JournalistInnen: die sogenannte KCK-Operation. KCK steht für »Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans« (Koma Civaken Kurdistan), ein auf Initiative des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan gebildeter Dachverband, der nach Ansicht zahlreicher VertreterInnen von Staatsanwaltschaft, Justiz und Sicherheitsbehörden den städtischen Arm der PKK darstelle.

Über 5.000 Menschen wurden festgenommen, mehr als 1.700 inhaftiert. Gerichtsprozesse in diesem Zusammen-hang finden in Mardin, Batman, Van, Sirnak, Mersin, Gaziantep und Diyarbakir statt. In dem Prozess in Diyarbakir stehen die meisten Angeklagten vor Gericht, insgesamt 152.

Die strafrechtliche Verfolgung zielt hauptsächlich auf PolitikerInnen der DTP bzw. der BDP sowie engagierte und international beachtete MenschenrechtsaktivistInnen. Den Beschuldigten wird »die Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation oder deren Unterstützung« sowie die »Gefährdung der nationalen Einheit« vorgeworfen. MenschenrechtlerInnen sind sich einig, dass durch die KCK-Prozesse die kurdische Opposition ausgeschaltet und der Friedensprozess torpediert werden soll. Auch der Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechte, Markus Löning (FDP), äußerte in einer Anhörung vor dem EU-Ausschuss des Bundestages im November 2010 die Auffassung, dass der Prozess den positiven Entwicklungen im türkisch-kurdischen Konflikt entgegenwirke und maßgeblich von interessierten Kräften in der Türkei betrieben werde.

ZU DEM VERFAHREN IN DIYARBAKIR

Das Ermittlungsverfahren begann offiziell mit einer anonymen Anzeige, in der ein von einem Staatssicherheitsgericht wegen Mitgliedschaft in der PKK verurteilter Kurde als angeblicher regionaler Leiter der PKK denunziert worden war. Noch am gleichen Tage wurde die Telefonüberwachung der Person eingeleitet, die später auf alle Personen ausgeweitet wurde, die Kontakt mit dem Mann hatten. Auf diese Weise wurden über zwei Jahre die Telefone von Dutzenden Personen abgehört. Zudem wurde das auf Beschluss des Leitungskomitees der DTP eröffnete Büro der Kommission für Ökologie und kommunale Verwaltung mit einer richterlich auf eine Woche befristeten Abhörgenehmigung 60 Wochen lang mit Kameras überwacht und alle im Inneren geführten Gespräche abgehört. Alle BesucherInnen des Büros tauchten später in der Anklage als Beschuldigte auf. (5) Am 14. April 2009 wurden um 5 Uhr morgens die ersten 60 Beschuldigten verhaftet und ihre Privatwohnungen sowie Parteibüros durchsucht und zahlreiche Schriftstücke, Computer und sonstige Datenträger beschlagnahmt. Nach vier Tagen erging gegen 53 von ihnen Haftbefehl. Insgesamt wurden in diesem Verfahren bis Ende Dezember 2009 103 Personen inhaftiert.

Prominentester Angeklagter ist der mit 66 Prozent der Stimmen wiedergewählte Oberbürgermeister der Millionenstadt Diyarbakir, Osman Baydemir. Baydemir befindet sich zwar wie 49 weitere Angeklagte in Freiheit, darf jedoch aufgrund eines Ausreiseverbots die Türkei nicht verlassen. Weitere bekannte Angeklagte sind der ehemalige Parlamentsabgeordnete Hatip Dicle und der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins in Diyarbakir, Muharrem Erbey.

Es wurde die komplette Geheimhaltung über die Akten von Seiten der Staatsanwaltschaft verfügt. Mehr als acht Monate erhielten die Verteidigung keinerlei Akteneinsicht. Eine effektive Verteidigung gegen die andauende Untersuchungshaft war so nicht möglich. Erst nach 14 Monaten erhob die Staatsanwaltschaft Anklage. Der Aktenumfang beträgt 366 Aktenordner und 7.580 Seiten Anklageschrift. Die Ermittlungsakten bestehen fast ausschließlich aus Abhörprotokollen sowie den Aussagen von vier sogenannten geheim gehaltenen Zeugen. Trotz dieses Umfangs wurde die Anklage innerhalb von einer Woche am 18. Juni 2010 zum Hauptverfahren zugelassen und der erste Hauptverhandlungstag für den 18. Oktober 2010 festgesetzt. Die Angeklagten lassen sich in folgende Gruppen einteilen: Zum einen handelt es sich um kurdische AktivistInnen, die in den 1980er und 1990er Jahren Haftstrafen wegen Mitgliedschaft in der PKK abgesessen und danach in lokalen Gruppen mitgearbeitet haben. Betroffen sind aber auch Aktivistinnen aus der Frauenbewegung, z. B. Mitarbeiterinnen von Hilfseinrichtungen für traumatisierte Frauen, oder FunktionärInnen und Mitglieder des DTK (Demokratischer Gesellschaftskongress), einer Art alternativem Regionalparlament, an dem etwa 800 Delegierte aus der Wirtschaft, sozialen Organisationen, MenschenrechtsvertreterInnen, Politik und Angehörigen ethnischer Minderheiten beteiligt sind. Darüber hinaus sind FunktionärInnen und Mitglieder der DTP bzw. BDP angeklagt, ebenso wie MitarbeiterInnen in den zahlreichen von der DTP gestellten Kommunalverwaltungen sowie 14 kurz zuvor gewählte BürgermeisterInnen, mehrere RechtsanwältInnen, MenschenrechtsaktivistInnen, JournalistInnen und Mitglieder verschiedener NGOs, Gewerkschaften und Vereine.

Keinem/r der Angeklagten wird eine konkrete Straftat und schon gar keine Beteiligung an irgendeiner Gewalttätigkeit vorgeworfen. Angeklagt sind vielmehr eine ganze Reihe von legalen politischen Tätigkeiten. Nahezu sämtliche politischen Aktivitäten von DTP bzw. BDP werden also solche der KCK kriminalisiert und sind sozusagen zum Ziel der Strafermittlungen geworden. Kriminalisiert wird z. B., das Wort PKK auf Kurdisch auszusprechen. Als kriminell hingestellt wird aber auch, Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht oder im Ausland auf politischen oder juristischen Informationsveranstaltungen geredet zu haben, KandidatInnen für Bürgermeisterwahlen ausgewählt, Familien von gefallenen Guerillas besucht oder zu Newroz, dem Weltfrauentag am 8. März oder gegen den Ilisu-Staudamm aktiv geworden zu sein bzw. an Aktionen der sogenannten lebenden Schutzschilde (Canli Kalkan) teilgenommen zu haben. All diese Aktivitäten werden der KCK zugerechnet, da sie mit deren Zielen übereinstimmen.

KRIMINALISIERUNG LEGALER STRUKTUREN

Zu Prozessbeginn am 18. Oktober 2010 waren mehr als 160 Abgeordnete, zahlreiche AnwältInnen sowie Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen und Solidaritätsgruppen aus der ganzen Welt zur Prozessbeobachtung angereist. Allerdings waren in dem extra für mehr als 2 Millionen Türkische Lira (rund 900.000 EUR) neu gebauten Verhandlungssaal nur ca. 70 Zuschauerplätze vorhanden. Nach einer langen Verhandlungspause von Mitte November bis Mitte Januar waren am 13. Januar erneut zahlreiche internationale BeobachterInnen angereist. Bis dahin war im Wesentlichen lediglich die 900 Seiten lagen Zusammenfassung der Anklageschrift verlesen worden. Kurz vor Ende der Mittagspause wur-de gegen die 40.000 bis 50.000 DemonstrantInnen vor dem Gericht ohne Vorwarnung Tränengas eingesetzt. Dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko (Die Linke) wurde danach das Betreten des Gerichtssaals untersagt.(6)

Ob das nach seinen Informationen für den 18. Januar erwartete Urteil ergangen ist, ist offen. Dass es bei einer derart umfangreichen Anklageschrift mit 152 Angeklagten auf keiner fundierte Beweisaufnahme und einem rechtsstaatlichen Verfahren hätte beruhen können, liegt auf der Hand, zumal den Angeklagten immer wieder das Wort entzogen wurde, da sie sich in ihrer Muttersprache Kurdisch äußern wollten. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die türkische Justiz seit den Kommunalwahlen 2009 darauf abzielt, funktionierende kommunalpolitische Strukturen sowie PolitikerInnen und AktivistInnen, die für eine wirksame und fundierte internationale Öffentlichkeit sorgen, zu kriminalisieren und zu inhaftieren. Der ehemalige Abgeordnete Hatip Dicle erklärte dementsprechend in seiner Verteidigungsschrift: »Die Angeklagten repräsentieren das Volk. [...] Zu einem Zeitpunkt, an dem über eine Niederlegung der Waffen [der PKK, d. Verf.] diskutiert und intensiv nach einer demokratischen Lösung der kurdischen Frage gesucht wird, darf ein solcher Prozess nicht stattfinden.«

Britta Eder ist Rechtsanwältin in Hamburg.

Fußnoten:

1 Siehe amnesty international: Länderbericht Türkei 2010

2 Gespräch mit dem IHD Diyarbakir im Oktober 2010

3 Siehe: Spiegel-online 12.8.2010 (http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,711506,00.html) oder Interview mit MdEP Jürgen Klute in der Özgür Politika (deutsche Übersetzung auf http://www.dielinke-europa.eu/article/7560.chemiewaffen-gegen-kurden.html)

4 Offener Brief vom Januar 2011 (http://www.andrej-hunko.de/presse/362-offener-brief-an-erdogan
-guel-merkel-und-westerwelle
)

5 Siehe Cihan Aydin: Eine kurze Analyse des KCK-Verfahrens, in: Kurdistan Report, Jan./Febr. 2011.

6 Siehe junge Welt, 17.1.2011