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Strafverteidigung als Privileg

Eröffnungsvortrag auf dem 34. Strafverteidigertag in Hamburg*

von Bernd Wagner

Teil I: Über Privilegien der Strafverteidigung

Das Thema ist rechtspolitisch aktuell. Das Gesetz zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus durch das Bundeskriminalamt vom 25. Dezember 2008 hat einige Vorschriften des Bundeskriminalamtgesetzes (BKAG) eingeführt bzw. neu gefasst.

In § 20u BKAG wird zwischen Strafverteidigern und Rechtsanwälten unterschieden. Die Vorschrift verbietet gezielte Informationseingriffe beim Rechtsanwalt nur, wenn ein Strafverteidigungsmandat vorliegt. Der Strafverteidiger wird also gegenüber den Kollegen mit anderen Tätigkeitsfeldern privilegiert.

Die Aufspaltung der Anwaltschaft in eine Zweiklassengesellschaft sei nicht zu rechtfertigen, sagt unsere Bundesrechtsanwaltskammer dazu und streitet gegen unser Privileg. Die politische Halbwertszeit dieses Privilegs ist gering, wenn die Regierungsparteien an ihrer Koalitionsvereinbarung festhalten. Danach soll unser Privileg einer Gesetzesänderung zum Opfer fallen.

Ähnliche Diskussionen entzündeten sich z.B. an entsprechenden Differenzierungen in den Regelungen zum großen Lauschangriff und zum G10-Gesetz. Die selbe Differenzierung zwischen Anwälten und Strafverteidigern finden wir seit dem 1. Januar 2010 in § 160a StPO, aber auch andernorts sind Privilegien für Strafverteidiger verankert.

Bei unserer Kommunikation (Besuche und Schriftwechsel) mit Inhaftierten hat uns das StVollzG gegenüber sonstigen Rechtsanwälten privilegiert (§ 26 I 3, 26 III, 29 I StVollzG). Nur unsere Schriftsätze bleiben beschlagnahmefrei, wenn man sie beim Mandanten findet (§ 148 I StPO). Die Gewahrsamsklausel des § 97 Abs. II 1 StPO gilt nur für unsere Kollegen ohne Strafverteidigungsmandat.

Nur wir haben im Prozess eigene, vom Mandanten unabhängige Erklärungsrechte. Wir sind eben Beistand und nicht nur Vertreter.

Nur wir können nach § 297 StPO im eigenen Namen Rechtsmittel einlegen. Das darf nicht einmal der Nebenklagevertreter, geschweige denn der Anwalt im Parteienprozess.

Sitzungspolizeiliche Ordnungsmittel muss der Strafverteidiger nicht befürchten, da in § 177 GVG zwar Parteien, Beschuldigte, Zeugen, Sachverständige und an der Verhandlung nicht beteiligte Personen, nicht aber Verteidiger genannt sind.

Das spezielle Berufsbild des Strafverteidigers hat sich bei der Interpretation des Geldwäscheparagraphen § 261 StGB bezahlt gemacht (BVerfGE 110, 226). Nur bei uns ist auf die sichere Kenntnis von der bemakelten Herkunft abzustellen. Und nur bei uns sind Strafverfolgungsbehörden und Gerichte bei der Anwendung des § 261 Abs. 2 Nr. 1 StGB verpflichtet, auf unsere besondere Stellung schon ab dem Ermittlungsverfahren angemessen Rücksicht zu nehmen.

Solange wir als Strafverteidiger agieren und diesen Status nicht missbrauchen, machen wir uns nicht wegen Strafvereitelung strafbar (BGHSt 29, 102).

Unser Verschulden wird dem Mandanten nicht zugerechnet, was unser ohnehin schon kleines Haftungsrisiko im Fristenbereich weiter minimiert.

Unsere Privilegien gehen manchmal so weit, dass wir mehr dürfen als unser eigener Mandant, z.B. bei der Akteneinsicht (vgl. § 147 VI StPO), bei der Befragung des Mitbeschuldigten (240 II 2 StPO), bei den Anwesenheitsrechten (§ 168 c I StPO) und wenn das Gericht nur noch Beweisanträge von uns, aber nicht mehr von unserem Mandanten akzeptiert (BGHSt 38, 111).

Was machen wir mit all diesen Privilegien? Wie gehen wir damit um? Sollen wir sie verteidigen? Ist gar eine gewisse Dankbarkeit oder Rücksichtnahme angebracht, um das Privileg nicht zu verlieren? Oder sollen wir unseren Berufskollegen in ihrem Kampf gegen unsere Privilegien beistehen?

Das Risiko von Privilegien ist doch, dass sie zu breit gestreut verwässern. Wir sind an die Sonderbehandlung gewöhnt, wir können damit umgehen. Unsere Fachanwaltsausbildung enthält den Umgang mit Kassibern. Aber wenn plötzlich alle anderen Rechtsanwälte auch unkontrolliert in die Gefängnisse spazieren dürfen, dann leiden wir doch absehbar unter deren Fehlern und Verstößen. Und am Ende ist niemandem gedient. Das Privileg wird für alle abgeschafft.

Und selbstverständlich lassen wir uns durch Privilegien nicht verbiegen. Aber was nützt es dem Institut der Verteidigung, wenn wir ständig an die Grenzen unserer Privilegien gehen. Vielleicht helfen wir dem einen Mandanten aber zum Preis einer Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte (vgl. Missbrauchsrechtsprechung). Ich hoffe, sie konnten auf die Entfernung mein Augenzwinkern sehen. Jedenfalls hatte ich die Finger gekreuzt, weil ich nicht beim Wort genommen werden wollte. Da sprach der advocatus diaboli. Und er nutzte aus, dass hier noch gar nicht geklärt ist, ob wir es mit Privilegien der Strafverteidigung zu tun haben.

Die Problematik lädt also dazu ein, mehr über das Wesen eines Privilegs zu erkunden. Das lateinische privilegium weist auf das Gesetz (lateinisch lex) und auf einen Einzelnen (lateinisch privus). Wikipedia weist als die heute geltende juristische Definition aus: »Das einem Einzelnen (oder einer bestimmten Gruppe) vom Gesetzgeber gewährte Vorrecht« und stellt den Zusammenhang zur Diskriminierungsforschung her, wonach Privilegierung als das Gegenüber von Diskriminierung zu verstehen sei: Diskriminierung erzeugt Privilegierung, Privilegierung erzeugt Diskriminierung.

Ich sehe drei Gefahren:

1. Privileg und Bürde bilden ein Paar. Was wird von uns verlangt, um die Privilegien zu erhalten und zu behalten ? Das nenne ich: die Gefahr der Korrumpierung.

2. Privilegien sind instabil. Man kann sich auf sie nicht verlassen. Das ist die Gefahr der trügerischen Sicherheit.

3. Privilegien auf Kosten anderer sind ungerecht. Das nenne ich: die Gefahr der Diskriminierung.

Zum Privileg der unüberwachten Verteidigerbesuche und Verteidigerpost

Gefährlich ist es nicht, dass Hamburg das Privileg der Strafverteidiger im Strafvollzug abgeschafft hat und allen Anwälten und Anwältinnen, Notaren und Notarinnen gleichermaßen den geschlossenen Briefverkehr sowie den unüberwachten Mandantenbesuch ermöglicht. Aber es zeigt, dass es falsch wäre, für das andernorts noch bestehende Privileg des Strafverteidigers zu kämpfen. Gerade andersherum müssen die Diskriminierungen der Kollegen und Kolleginnen beseitigt werden. Aber was halten Sie von folgendem Fall?

Ihr Mandant sitzt in Untersuchungshaft. Sie bemühen sich um den Erhalt oder die Beschaffung von Arbeitsplatz und Wohnung, Darlehnsaufnahme für eine Kaution und Verkauf von Wertgegenständen für die Kaution und halten das für Strafverteidigung, weshalb Sie die entsprechenden Verträge und Briefe als Verteidigerpost behandeln.  Deshalb fallen Sie aus allen Wolken, als Sie nach § 115 OWIG wegen einer vorsätzlichen unbefugten Übermittlung von Nachrichten an einen Gefangenen schuldig gesprochen werden und eine Geldbuße zahlen sollen. Unglaublich? Nicht für die zweite Kammer des zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts ( - 2 BvR 256/09 - Beschluss v 13. Oktober 2009).

»Der weitergehenden Ansicht, wonach das Verteidigerprivileg auch Schriftsätze aus anderen Verfahren umfasse, wenn diese mit der Verteidigung in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen oder mittelbar die Stellung des Beschuldigten im Strafverfahren tangieren1, zu folgen, würde bedeuten, dem Beschuldigten nahezu unkontrollierten Schriftverkehr zu ermöglichen. Diese Ansicht nimmt an, dass Bemühungen um den Erhalt oder die Beschaffung von Arbeitsplatz und Wohnung, Darlehnsaufnahme für eine Kaution und Verkauf von Wertgegenständen für die Kaution durchaus die Haftgründe oder die Sanktionsentscheidung betreffen können und damit mittelbar der Verteidigung dienen2.

Da im Rahmen der Strafzumessung sowie der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung mannigfaltige, in der Person des Beschuldigten liegende Gründe eine Rolle spielen, stünde bei einem derartigen Verständnis des freien Verteidigerverkehrs nahezu jedes Schreiben in irgendeinem Bezug zum Strafverfahren und im Zusammenhang mit der Verteidigung. Die Zuordnung zur eigentlichen Verteidigungsvorbereitung wäre nicht mehr eingrenzbar und würde ins Uferlose führen3.«

Ganz ehrlich: Wer fühlt sich ertappt? Von wegen: Wir sind uns im Umgang mit Kassibern sicher. Das Argument des Teufels Anwalt war Unsinn. Die Abschaffung des Privilegs der Strafverteidigung schafft Freiräume, weil nicht mehr nach den Mandatsgrenzen gefragt werden darf und alle Anwaltspost unterschiedslos unkontrolliert bleibt.

Zum Privileg des § 177 GVG (Keine sitzungspolizeiliche Maßnahmen gegen den Strafverteidiger)

Sie verteidigen an einem Amtsgericht, der hart geführte Kampf ums Recht geht verloren: Verurteilung mit Haftfortdauerbeschluss. Im Rahmen der Urteils – und Haftfortdauerbegründung erfahren sie dann, dass der Richter den Haftbefehl eigentlich aufheben wollte, ihn dann aber doch aufrechterhielt, weil ihm der Stil ihres Haftantrages missfallen habe! Sie subsumieren Freiheitsberaubung/Rechtsbeugung und wollen zu Protokoll eine Gegenvorstellung wegen Verstoßes gegen das Willkürverbot erklären. Das will der Richter aber nicht zulassen, sondern die Verhandlung mit der Rechtsmittelbelehrung ungestört abschließen. Sie beharren auf ihrem Erklärungsrecht, wollen einen Protokolleintrag. Der Vorsitzende hält das für keine Strafverteidigung mehr, macht sie deshalb zum Störer und verhaftet sie. Dass so was passieren kann, weiß unser Kollege Nobis zu gut (StraFo 2006, 2).

Zum gleichen Thema:

Kennen Sie den Aufsatz der Vizepräsidentin des LG Oldenburg, Dr. Karin Milger, »Sitzungsgewalt und Ordnungsmittel in der strafrechtlichen Hauptverhandlung«?4 Die dort hervorscheinende Sehnsucht nach einem Zuchtmittel für renitente Strafverteidiger lässt einen von Saalverhaftung träumen. Als Hamburger Strafverteidiger hat man dort hin und wieder zu tun, und es ist nur wenig übertrieben, dass ich dort hemmungslos nur mit der Zahnbürste in der Brusttasche verteidige.

Zum Privileg der straflosen Strafvereitelung bei nicht missbräuchlichem Verteidigungsverhalten

Sie begründen – die Entscheidung des großen Senats zur Rügeverkümmerung ist noch nicht ergangen – eine Revision und berufen sich für eine Verfahrensrüge auf den Beweis des Protokolls der Hauptverhandlung. Nicht nur, dass Sie Ihrem Mandanten den Erfolg des Rechtsmittels sozusagen versprochen haben. Sie fühlen sich auch persönlich sicher auf dem Boden einer 130 jährigen Rechtsprechung. Nachdem Sie in Ihrer langen Karriere als Revisionsverteidiger manchen Mandanten unter Hinweis auf die absolute Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls weggeschickt haben, empfinden Sie durchaus ausgleichende Gerechtigkeit, dass dieses Konstrukt nun einmal Ihrem Mandanten zugutekommt. Sie scheren sich wie in den umgekehrten Fällen nicht um das tatsächlich Vorgefallene, sondern berufen sich auf eine sog. formelle Wahrheit und denken nicht im Traum an Strafvereitelung. Anders -in der Konsequenz- der zweite Senat des BVerfG: »Bei der Erhebung einer bewusst wahrheitswidrigen Verfahrensrüge handelt es sich um ein den Zwecken des Strafverfahrens nicht entsprechendes Verteidigungsverhalten.«5 Da ist das Privileg verspielt, der Weg zur Strafvereitelung nicht weit, weil nur das ordnungsgemäße und pflichtgemäße Verteidigerhandeln nicht tatsbestandsmäßig iSd § 258 StGB sein soll.

Zum eingangs beschriebenen Privileg des § 20u BKAG

Sie verteidigen Ihren Mandanten gegen einen – sagen wir mal unspezifisch – Terrorismusverdacht und haben dabei auch das ausländerrechtliche Mandat sowie den Auftrag, den Namen des Mandanten von der EU-Terroristenliste streichen zu lassen. Als Strafverteidiger wähnen Sie Ihre Daten im Schoße des Privilegs, was ein Irrtum ist, wenn der Ermittlungsrichter antragsgemäß der Auffassung ist, Sie seien eigentlich gar kein richtiger Strafverteidiger sondern eher richtiger Anwalt für Ausländersachen und Europarecht. Die Grenzen zwischen Repression und Prävention werden vom Gesetzgeber auch in diesem Gesetzeswerk mit dem Argument effektiver Verbrechensbekämpfung weiter aufgelöst. Dann ist es geradezu ein Taschenspielertrick, zwischen dem Verwaltungsrechtler, der die polizeirechtliche Verteidigung betreut, und dem Strafverteidiger zu unterscheiden. Hier diskreditiert das Privileg nicht nur den polizeirechtlich mandatierten Kollegen, sondern vor allem auch die Verteidigungsrechte des Mandanten.

Diese Beispiele sollen genügen, um die Frage aufzuwerfen: Was nützen der Verteidigung all die Privilegien, wenn zu ihrer Überwindung geradezu groteske Grenzziehungen und Argumentationsmuster ersonnen werden?

Die genannten Privilegien der Strafverteidigung sind nicht nur im Einzelfall wenig wert. Sie sind uns vielleicht auch politisch unerwünscht. Sozusagen igitt, wie seinerzeit das feudale Privileg, zu den morgendlichen Aufstehzeremonien Ludwigs des XIV. eingeladen zu werden, was bedeutete, dass man den Monarchen buchstäblich auf der Toilette besuchte. Wir merken: Nicht jedes Privileg ist willkommen. Und vom Privileg ist es meist nicht weit zur Bürde. Und die Bürde dieser Privilegien offenbart sich recht schnell, wenn man an deren Quellen geht: Als Grundlage der genannten Sonderrechte für Strafverteidiger dient unsere verfassungsrechtliche Stellung.

Die richtige Adresse ist also zunächst das Bundesverfassungsgericht, wo die derzeitige verfassungsrechtliche Standortbeschreibung anwaltlicher Tätigkeit ganz herausragend von Renate Jäger geprägt wurde. Sie beschreibt in ihrem Vortragsaufsatz zum 150 jährigen Gründungsjubiläum des Berliner Anwaltsvereins den Werdegang dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.6 Ausgehend von einer Entscheidung des Zweiten Senats des BVerfG aus dem Jahr 1974, in der man im Anwaltsein noch den staatlich gebundenen Vertrauensberuf mit einer an Wahrheit und Gerechtigkeit gebundenen amtsähnlichen Stellung sah (BVerfGE 38, 266), über eine Entscheidung aus dem Jahre 1983, die den Anwälten immerhin bescheinigte, keinen politischen Treuepflichten zu unterliegen (BVerfGE 63, 266), konnte sie erste Konturen des heutigen Verfassungsverständnisses in einer Entscheidung aus dem Jahre 1987 ausmachen, in der es um das Sachlichkeitsgebot ging. Dort wird erstmals mit der freien und unreglementierten Selbstbestimmung des Anwalts Ernst gemacht, durch die Unterstreichung der in der Bundesrechtsanwaltsordnung genannten und später in die Berufsordnung übernommenen Aufgaben:

  • berufener Berater und Vertreter der Rechtsuchenden,
  • Beitrag zur sachgerechten Entscheidung,
  • Fehlervermeidung durch die Gerichte,
  • vor allem aber die Wahrung der Interessen des Mandanten und dessen Schutz vor Beeinträchtigung sowie der Schutz vor staatlicher Machtausübung.

In allen weiteren Entscheidungen wird deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht sein Berufsbild des Rechtsanwalts fast ausschließlich aus Art. 12 GG entwickelt und zwar aus dem  einfachen Grund, dass Beschwerdeführer Rechtsanwälte und nicht deren Mandanten waren. Es ging um die Überführung der DDR-Anwälte in die bundesdeutsche Anwaltschaft, um Werbung, um den Zweitberuf, um Sozietätswechsler bei Großkanzleien, Anwaltshaftung für Fehler des Gerichts. Auf diese Weise erklärt sich auch, dass in den Zitatlinien der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung die Wahrung der Interessen des Mandanten, die Gewährleistung eines fairen Verfahrens, das Verfahrensgrundrecht auf Verteidigung und alle anderen Mandantenrechte selten in der Rechtsposition des Mandanten und meist in der Rechtsposition des Anwalts, nämlich bei Art. 12 GG verankert werden. Bei dem vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Leitbild anwaltlicher Tätigkeit steht der Mandant im Schatten der Berufsausübungsfreiheit.

Selbst wenn es einmal dezidiert um die Beurteilung von Strafverteidigung geht, reicht das bei Art. 12 GG entwickelte Instrumentarium aus. Eindrucksvoll ist dazu die Lunnebach-Entscheidung der zweiten Kammer des 1.?Senats7: Unsere Kollegin hatte sich in einem Düsseldorfer Terroristenprozess während der Hauptverhandlung an die Plexiglasscheibe gestellt, welche die Angeklagten von ihren Verteidigern separierte. Sie war auch nicht den Aufforderungen des Vorsitzenden gefolgt, auf den ihr zugewiesenen Sitzplatz zurückzukehren, sondern blieb während der Hauptverhandlung einfach bei ihrem Mandanten stehen, weil er nach ihrer nahe liegenden Vorstellung anders nicht verteidigt werden konnte. Das brachte ihr einen berufsrechtlichen Verweis des Ehrengerichtshofs und eine Geldbuße ein. Tatsächlich ging es also um die Verteidigungsrechte des Mandanten. Die waren beschnitten. Das Verhalten der Kollegin diente der Kompensation dieses Einbruchs in Mandantenrechte. Verfassungsrechtlich löste sich der Fall aber beim Sachlichkeitsgebot innerhalb der Berufsausübungsfreiheit des Art. 12 GG mit dem Satz: »Die Wahrnehmung dieser Aufgaben (scel.: den Mandanten vor Fehlentscheidungen, verfassungswidriger Beeinträchtigung und staatlicher Machtüberschreitung zu bewahren) erlaubt es dem Anwalt - ebenso wie dem Richter - nicht, immer so schonend mit den Verfahrensbeteiligten umzugehen, dass diese sich nicht in ihrer Persönlichkeit beeinträchtigt fühlen. Nach allgemeiner Auffassung darf er im ›Kampf um das Recht‹ auch starke, eindringliche Ausdrücke und sinnfällige Schlagworte benutzen«. So wurde aus der Verteidigung des Mandanten an der Trennscheibe eine nicht unverhältnismäßige, von der Berufsausübungsfreiheit gedeckte Kritik an der Verhandlungsleitung durch das Gericht. So etwas hilft der Strafverteidigerin. Aber hilft es auch den Verteidigungsrechten der Beschuldigten? Jäger meint, das aus Art. 12 GG entwickelte Leitbild des Rechtsanwalts als ein am Individualinteresse des Mandanten ausgerichtetes, selbstbestimmtes Organ der Rechtspflege helfe auch mit, die Rechtsstellung der Rechtsanwälte und ihrer Mandanten zu stärken. Sozusagen als Reflex aus der Organstellung bestehe ein Vertrauensvorschuss in die anwaltliche Tätigkeit.8

Da ist die Verknüpfung von Privileg und Bürde. Vertrauensvorschuss gibt es nur für den, der sich als Organ der Rechtspflege erweist, nicht für den, der sein Handeln am Individualinteresse seines Mandanten ausrichtet. Solche Privilegien der Strafverteidigung sollten wir nicht ausleben. Wer sich in den gewährten Privilegien sonnt, wer gar Sorge hat, sie zu verlieren, tanzt nach der Pfeife.

Wir sollten die Rechte der Verteidigung nicht als Privilegien missverstehen, die man uns über Art. 12 GG bei Wohlverhalten gewähren und bei Aufsässigkeit auch wieder entziehen könnte. Wir sollten sie überhaupt nicht auf unserer Tätigkeit beziehen, sondern als Rechte der Mandanten verstehen.9

Unsere Post wird ohne Kontrolle an den inhaftierten Mandanten weitergeleitet, aber nicht weil wir als Verteidiger schützenswert erscheinen, sondern weil der Mandant in seinem Verteidigungsrecht geschützt werden soll.

Die Datenspeicher unserer Bürocomputer bleiben für die Trojaner des BKA tabu, nicht weil wir diese benötigen um Geld zu verdienen, sondern weil der Mandant in seinem Verteidigungsrecht geschützt werden soll.

Dass wir in der Hauptverhandlung nicht den Ordnungsmitteln des Vorsitzenden ausgeliefert sind, soll nicht das uns persönlich wichtige Freiheitsrecht schützen, sondern dem Mandanten den Verteidiger garantieren, ganz gleich ob der eine konfrontative Verteidigungsstrategie verfolgt oder nicht.

Verfassungsrechtlich mag bei all diesen Aspekten immer auch unsere Berufsausübungsfreiheit eine Rolle spielen. Für unser Selbstverständnis in der Rolle als Strafverteidiger muss dieser introvertierte Aspekt der Berufsausübungsfreiheit aber zurücktreten gegenüber der Außenwirkung unserer Tätigkeit, gegenüber den Rechten unserer Mandanten. Krämer hat das Manko der über Art. 12 GG hergeleiteten verfassungsrechtlichen Stellung des Anwalts dort verortet, wo mit der Figur vom Organ der Rechtspflege die Funktionsfähigkeit der Justiz eingebunden wurden.10 Zu Recht verweist er auf die aus dem Blick geratenen Verfahrensgrundrechte der Mandanten, auf die nicht reflektierten justiziellen Grundrechte der Art. 19 IV und 101 ff GG, und auf die in diesem Zusammenhang unterschätzte Bedeutung des Rechts auf Gehör.

Und noch eine Bürde hat uns Frau Jäger beschert. Sie wirbt für die – wie sie es nennt – Spezialität des Bundesverfassungsgerichts, die vergleichbare Verantwortung von Richtern und Rechtsanwälten für die Verwirklichung des Rechtsstaates zu sehen. So etwas hört die Strafjustiz gerne.

Als das OLG Hamburg im Jahre 1997 darüber entscheiden musste (NStZ 1998, 586), ob die Entpflichtung unseres Kollegen Uwe Maeffert wegen angeblichen Missbrauchs prozessualer Rechte rechtens war, nutzte der Senat die Steilvorlage, um uns Verteidiger an die Kandare der sachdienlich und in prozessual geordneten Bahnen verlaufenden Hauptverhandlung zu legen: Dafür Sorge zu tragen, sei unsere Aufgabe.

Wie bitte? Der Verteidiger mit Sachleitungsbefugnis aus § 238 I StPO ? Ein verführerischer Gedanke, den das OLG wieder einfängt: »Die Inanspruchnahme des Verteidigers für einen sachdienlichen und geordneten Verfahrensablauf ist in ihren Ausprägungen allerdings nicht vollauf identisch mit den an verfahrensleitende Verfügungen und sonstige Prozesshandlungen des Gerichtes und der Staatsanwaltschaft zu stellenden Anforderungen. Insoweit wirken sich die Aufgabe des Verteidigers, inhaltlich einseitig die Interessen des Beschuldigten zu beachten und das Recht eben des Beschuldigten sich umfassend verteidigen zu können aus. Damit ist ein die Entpflichtung des Verteidigers nach sich ziehender Missbrauch prozessualer Befugnisse auf eindeutige Ausnahmefälle beschränkt.«

In Wirklichkeit muss dieser Vergleich anwaltlicher und richterlicher Verantwortung für eine funktionierende Justiz am Strafprozess scheitern, weil die Rollen dort nicht vergleichbar sind. Gegen diese -– im Strafverfahren geradezu verheerende — Idee der Vergleichbarkeit der anwaltlichen und der richterlichen Tätigkeit möchte ich einen oft zitierten Aufsatz von Max Alsberg ins Felde führen mit einem nicht ganz so häufig präsentierten Abschnitt: »Polar spaltet sich hier das weltanschauliche Denken des Richters und das des Verteidigers. Nicht etwa in dem Sinne, dass ihre Auffassung von der Idee der Gerechtigkeit eine andere wäre. Wohl aber steuern sie von verschiedenen Seiten diesem Ziel zu. Das besondere individuelle Sein ist es, dessen Pulsschlag der Verteidiger fühlt. In dem isolierten Einzelschicksal erlebt er die Verwirklichung der auf Totalität gerichteten Rechtsidee, in diesem Sinn in der Besonderheit das allgemeine. Der methaphysische Individualismus des Rechts lebt so in ihm. Den Richter dagegen beseelt die Form des Allgemeinen; sie ist sein Ausgangspunkt. Auf die Totalität des Rechts ist sein primäres Denken gerichtet.«11

Sie haben das Problem der Privilegien erkannt. Wenn wir nicht aufpassen, werden Verteidigungsrechte des Mandanten in unsere Berufsausübungsfreiheit umgetauft und als Sonderrechte aus unserer verfassungsrechtlichen Stellung abgeleitet. Das Leitbild des Rechtsanwalts ist im Zuge einer Liberalisierung der Anwaltschaft aus Art. 12 GG entwickelt und nimmt zum Schutz der Anwaltschaft als Ganzes das Organ der Rechtspflege in Bezug. Weil das Bundesverfassungsgericht es versäumte, dieses Kriterium inhaltlich auszufüllen, wird es von der Strafjustiz in Beschlag genommen. Als anerkennenswerter Strafverteidiger gilt danach nicht schon der anwaltliche Beistand, der die Verfahrensgarantien seines Mandanten einfordert und einlöst, sondern nur derjenige, der sich – vergleichbar einem Richter – in den Dienst der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege stellt.

Lassen wir uns auf dieses Bild ein und agieren wir als Strafverteidiger - wie immer wieder eingefordert - zurückhaltend, vorsichtig, an der viel beschworenen Funktionsfähigkeit der Justiz orientiert, nur weil wir als solche definierte Verteidigerprivilegien nicht verlieren wollen, so verletzen wir die Verteidigungsrechte unserer Mandanten. Verteidigung lebt sich nicht in Privilegien der Verteidiger aus. Die Sonderrechte der Verteidigung leiten sich auch nicht aus unserer Berufsausübungsfreiheit nach Art. 12 GG ab. Die Sonderstellung der Verteidigung resultiert aus unserer Bedeutung für die Verfahrensgarantien der Beschuldigten.

Damit ist die aufgeworfene Frage zu § 20 u BKAG beantwortet: Ein Gesetzgeber, der bei der Reichweite von Zwangsmaßnahmen und Rechtsbeeinträchtigungen zwischen Rechtsanwälten und Strafverteidigern unterscheidet, privilegiert nicht den Strafverteidiger, sondern diskriminiert die Verteidigungsrechte unserer Mandanten. Mit einem solchen Privileg fangen wir nichts an. Wir sind für seine Abschaffung, was technisch die Ausweitung auf alle Rechtsanwälte bedeutet.

Was ist nun mit dem Titel des Beitrags: Strafverteidigung als Privileg. War das eine Ente? So wie es zu Beginn des Vortrags eine Finte war zu behaupten, die Koalitionspartner der Bundesregierung hätten die Abschaffung unseres Privilegs vereinbart? Vereinbart ist, wie wir jetzt wissen, die Abschaffung der Diskriminierung. Gibt es also das Privileg der Strafverteidigung gar nicht? Ich behaupte: Doch! Wir müssen nur an ganz anderer Stelle suchen. Und der von Max Alsberg beschriebene Unterschied zwischen Richter und Verteidiger bei der Annäherung an die Gerechtigkeit ist mein Ausgangspunkt.

Teil II: Das Privileg der mandantenorientierten Strafverteidigung

Wenn es um die Privilegien der Strafverteidigung geht, ist es ratsam, nicht auf das zu schielen, was man uns gewährt, was man uns verleiht oder zugesteht. Wenn es darum geht, die Strafverteidigung dort zu untersuchen, wo sie in ihrer Rolle Sonderrechte einfordern kann, dann sollten wir das Feld nicht der Justiz überlassen. Denn die Justiz ist nicht kompetent, die Strafverteidigung in allen ihren Anforderungen und Möglichkeiten zu beurteilen. Für die Justiz findet Strafverteidigung dort statt, wo sie öffentlich wird. Der nur uns vorbehaltene unmittelbare Zugang zum Mandanten bleibt der Justiz verschlossen. Ich möchte daher versuchen, die Rolle von Strafverteidigung von der Rolle anderer Verfahrensbeteiligter abzugrenzen. Mir geht es um ein Verständnis von Strafverteidigung, das sich aus den Mandanteninteressen ableitet und das durch die Sicht auf den Mandanten und durch die Sicht des Mandanten privilegiert wird.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Aufgaben der Verteidigung und den Aufgaben justizieller Verfahrensbeteiligter liegt im unterschiedlichen Rang von Individualinteressen gegenüber allgemeinen Rechtsstaatsinteressen. Alsberg nennt es die Form des Allgemeinen, die der Richter zum Ausgangspunkt nimmt und nur im Allgemeinen sehe er die Wirklichkeit des Besonderen. Dagegen erlebe der Verteidiger umgekehrt in der Besonderheit des Einzelschicksals das Allgemeine. Man kann auch die Idee der Einzelfallgerechtigkeit als das Ziel des Strafverteidigers dem Ziel der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege auf Seiten des Richters gegenüberstellen.

Strafverteidigung ist privilegiert, weil sie sich um die Mandanteninteressen und nicht um die angebliche Funktionsfähigkeit der Justiz kümmern muss. Sie darf, soll und muss engagiert und mit allen rechtlich dafür zu Gebote stehenden Mitteln um jene Wahrheit kämpfen, die für den Mandanten streitet, egal wo wir diese Wahrheit entdecken. Hier, beim Kampf um die Wahrheit, verorte ich in meiner Praxis vor Gericht die Keimzelle jener Angriffe von Seiten der Justiz, die einen Missbrauch von Verteidigungsrechten behaupten. Der Konflikt entsteht - zumindest ab Schöffengericht aufwärts - nach meiner Erfahrung wie folgt:

Das gut vorbereitete Gericht handelt konzentriert und zielstrebig jene Beweismittel ab, die seinem Eröffnungsbeschluss zugrunde lagen. Hat das Gericht es geschafft, diese Beweismittel aus der Akte möglichst verlustfrei in die Hauptverhandlung überzuführen und hat es damit eine »mögliche« Wahrheit im Kasten, kann es also sein Urteil revisionssicher formulieren, dann kommt es ihm auf die »andere« Wahrheit unseres Mandanten nicht mehr an. Selbst wenn unsere Beweisantritte und Fragen neue Tatsachen hervorbringen würden, wären sie doch nicht geeignet, das Gericht von dem bereits fertigen Urteil abzubringen. Fragen und Beweisantritte werden im Hinblick auf die bereits feststehende »mögliche« Wahrheit als tatsächlich bedeutungslos bzw. ungeeignet zurückgewiesen (§ 2444 III und 241 II StPO).

Die zu Gunsten des Mandanten vorgetragenen möglichen Schlüsse aus den neuen Tatsachen möchte das Gericht nicht ziehen, weil es sich bereits auf andere mögliche Schlüsse aus anderen Tatsachen festgelegt hat.

Wenn die von uns vorgetragenen neuen Tatsachen im Verteidigungskonzept des Mandanten einen Sinn machen, wäre es falsch, diese aufzugeben. Und spätestens hier wird der Kampf um die Wahrheit des Mandanten quälend. Um den Mandanten nicht zum Zeugen gegen sich selbst im Wahrheitskonzept der Anklage und des Eröffnungsbeschlusses zu machen, lässt man ihn schweigen. Die Verteidigung wird dagegen aktiv, sie greift den Sachverstand des Gutachters, die Wahrnehmungskompetenz des Belastungszeugen, die ordnungsgemäße Protokollierung einer polizeilichen Vernehmung, die Authentizität einer Urkunde, die ordnungsgemäße Belehrung durch den Vernehmungsbeamten an. Man präsentiert noch mehr Indizien, um die Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage in Zweifel zu ziehen, besteht auf der Protokollierung wichtiger Aussageninhalte, entwickelt Fragekreisel, um ein Komplott aufzudecken und das alles in einer Situation, in der das Urteil der Richter zumindest im Kopf schon geschrieben ist und man mit allem nur die Zeit der Beteiligten stielt. Aus der Verurteilungsbegleitung wird aktive Verteidigung. Und aus dieser aktiven Verteidigung konstruiert der lange schon verkündungsbereite Richter den Kampfbegriff der Konfliktverteidigung. In den Formen des Prozessrechts zulässig aber missbräuchlich!

Über dieses Phänomen war man 1987 noch ganz erstaunt. Hanack hat es damals in der sog. »Mainzer Runde«, einer auch an juristische Laien gerichteten Veranstaltung so beschrieben: »Dieser neue Verteidigertyp ist (...) das vielleicht interessanteste und wichtigste Phänomen in unserer Strafrechtspflege. (...) gemeint ist (...) der Typ eines sehr engagierten und grundsätzlich seriösen, oft überraschend kundigen Verteidigers; aber eines Verteidigers, der die weiten und äußersten Möglichkeiten unserer Prozessordnung, anders als die Generation vor ihm, nicht nur ausnahmsweise ausnutzt; sondern der im Interesse seines Mandanten, auch wenn er ihn für schuldig hält (...) in alle gesetzlichen Freiräume vorstößt und dabei Verteidigungsstrategien entwickelt, die gerade auch auf die typischen Schwachpunkte unserer Justiz zielen. Es ist der Typ eines Verteidigers, der in der Regel formal durchaus korrekt verfährt, auch das Standesrecht beachtet, sich im Grunde aber dem traditionellen Ziel des Strafverfahrens nicht mehr verpflichtet fühlt oder mindestens doch die Bedeutung dieses Ziels im Spannungsverhältnis zu den Interessen seiner Mandanten kritischer gewichtet als früher; und der zudem (...) unserer Strafjustiz mit oft geradezu abgrundtiefer Skepsis gegenübersteht.«12

Diese Formulierungen sind aktuell. Hochaktuell. Sie begegnen uns fast wortgleich in den von mir so genannten Prügelentscheidungen des BGH: »Auch sonst gibt die Verteidigung des Angeklagten dem Senat Anlass, erneut darauf hinzuweisen, dass die Strafjustiz auf Dauer an ihre Grenzen stößt, wenn die Verteidigung in Strafverfahren, wie der Senat zunehmend beobachtet, zwar formal korrekt und im Rahmen des Standesrechts geführt wird, sich aber dem traditionellen Ziel des Strafprozesses, der Wahrheitsfindung in einem prozessordnungsgemäßen Verfahren, nicht mehr verpflichtet fühlt und die durch die Strafprozessordnung gewährleisteten Verfahrensrechte in einer Weise nutzt, die mit der Wahrnehmung ihrer Aufgabe, den Angeklagten vor einem materiellen Fehlurteil oder (auch nur) einem prozessordnungswidrigen Verfahren zu schützen, nicht mehr zu erklären ist.«13

Nachdem es das Phänomen, das »auf Dauer« die Funktionsfähigkeit der Justiz lahmzulegen drohen soll, nun schon seit mindestens 1987 existiert und entdeckt ist, mag es noch weitere 30 Jahre dauern, bis sich der befürchtete Effekt einstellt. Ob die bedrohte Funktionsfähigkeit überhaupt ein ernst gemeintes Argument ist, bezweifelt der Fischer. Viel wichtiger aber ist: Was Hanack noch offen gelassen hat, nämlich die Beschreibung des traditionellen Ziels des Strafprozesses, wird hier benannt: Wir würden – so wir Konfliktverteidigung betreiben – uns nicht mehr der Wahrheitserforschung verpflichtet sehen.

Aber wie hält es denn die Justiz mit dem Prozessziel der materiellen Wahrheit? Im Beck´schen online-Kommentar zur StPO finden wir eine durchaus selbstkritische Kommentierung zu § 261 StPO vom Richter am OLG Koblenz Rolf Eschelbach. Dort lesen wir Sätze wie: Ohne Wahrheit kann Gerechtigkeit nicht erreicht werden. Durch das Prozessziel der Herstellung eines gerechten Rechtsausspruchs ist der Richter der objektiven Wahrheit verpflichtet, die er mit subjektiv sicherer Überzeugung feststellen soll. Demgegenüber hat sich die Idee einer »forensischen Wahrheit« entwickelt. Gemeint ist damit die in einem prozessökonomischen Verfahren mit begrenzten Mitteln erzielbare und ab einem gewissen Verfahrensstadium als wahrer Sachverhalt hingenommene Erkenntnis. In einer Zeit chronischer Überlastung der Strafjustiz führt dies dazu, dass immer mehr Abstriche an der Wahrheitssuche stattfinden.

Die Einführung einer Freiheit der Beweiswürdigung führt zu unklaren Resultaten. Beweislehre, einschließlich der Aussagepsychologie, gehört nicht zu den Pflichtfächern der Juristenausbildung. Angewandte Kriminologie wird nur vereinzelt vermittelt und kaum praktiziert. Die Praxis agiert meist intuitiv. Das Gesetz geht dennoch von der tatrichterlichen Freiheit bei der Beweiswürdigung aus. Hier besteht eine Rechtsschutzlücke. Auch taktische Erwägungen und prozessökonomische Gründe dürfen nicht von dem Prozessziel ablenken, weil das eingriffsintensive Strafrecht seinen Zweck nur dann erfüllt, wenn es auf zutreffend ermittelte Sachverhalte angewendet wird.

Eschelbach verschweigt auch nicht, dass Richter, denen die Erforschung der materiellen Wahrheit zu aufwändig ist und zu lange dauert und darum als Angriff auf die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege vorkommt, denen zudem eine Verständigung nach § 257c StPO nicht gelingt, die aber dennoch Rechtskraft herbeiführen wollen, ein Urteil meist »revisionssicher« abfassen können. Das nenne ich das Prozessziel der Floskelwahrheit.

Das Privileg der Strafverteidigung steckt

  • im Kampf um eine andere Wahrheit: um diejenige Wahrheit, die vielleicht das schnelle Urteil verzögert,
  • um die Chance einer Wahrheit, die von der Polizei übersehen oder gar zugeschüttet wurde,
  • um die Chance einer Wahrheit, die von Zeugen nicht erinnert werden kann, weil ihre ursprüngliche Wahrnehmung inzwischen durch Gespräche, Verhöre, Zeitungsberichte überlagert ist,

Es geht um den Kampf für die Chance einer Wahrheit, die das Gericht nicht interessiert, weil es Opferinteressen höher bewertet (§ 68 a StPO),

  • um die Chance einer Wahrheit, die ohne uns in der freien richterlichen Beweiswürdigung des § 261 StPO versinkt, weil das Gericht mögliche entlastende Schlüsse aus Tatsachen nicht ziehen will,
  • um die Chance einer Wahrheit, die nach § 244 III StPO und 241 II StPO bedeutungslos sein soll.

Es geht um die Chance für eine Wahrheit, die von einer Floskeljurisprudenz revisionssicher wegformuliert wird. Es geht um den Kampf der »anderen Wahrheit« des Angeklagten gegen die »erst beste Wahrheit« der Gerichte.

Teil III: Die »andere Wahrheit« des Angeklagten

Für den Angeklagten kann sich diese »andere Wahrheit« nicht nur aus seiner Erinnerung an das Geschehene, also an sein Verständnis von der materiellen Wahrheit ergeben. Für den Angeklagten kann sich die »andere Wahrheit«, die von der Verteidigung gegen die »erst beste Wahrheit« ins Feld geführt wird, auch aus einem Irrtum des Belastungszeugen, aus dessen Lüge, aus einem Komplott, aus einem überbewerteten Erfahrungssatz, aus einem falschen SV-Gutachten, aus in der Zusammenschau falsch bewerteten Indizien, aus neuen Indizien etc. ergeben. Diese andere Wahrheit des Angeklagten muss also nicht die materielle Wahrheit an sich sein. Es reicht schon aus, wenn diese andere Wahrheit an die vom Gericht zu beachtende Aufgabe appelliert, sich um die materielle Wahrheit zu bemühen.

Wer unseren Verteidigungsbemühungen abspricht, der Wahrheit des Mandanten eine Chance zu geben, der fordert uns heraus: Wehe dem, der uns in die Pflicht nimmt! Wer von der Strafverteidigung Bemühungen um die Wahrheitserforschung verlangt, muss Auseinandersetzungen um Wahrheitskonzepte aushalten. Wir sollten den Gerichten zeigen, dass es uns mit der Erforschung der materiellen Wahrheit Ernst ist. Wir sollten sie in einen Wahrheitsdiskurs zwingen und ihre Wahrheitskonzepte an dem vor allem die Gerichte verpflichtenden Prinzip der materiellen Wahrheit messen. Stichworte müssen hier genügen:

Materielle Wahrheit vs. Wahrheit des Ermittlungsverfahrens

Verteidigungsansätze:

  • »Die Definitionsmacht der Polizei«
  • »Das Labeling im Ermittlungsverfahren«
  • Unvollständige, lückenhafte Ermittlungen sollten als Einladungen zur nun veranlassten umfassenden Aufklärung der materiellen Wahrheit genutzt werden.
 

Materielle Wahrheit vs. Floskelwahrheit

Verteidigungsansätze:

  • »Die Floskel vom überzeugenden Sachverständigengutachten«
  • »Die Floskel von der glaubhaften Zeugenaussage ohne Belastungstendenz«
  • »Die Floskel von dem in Randbereichen aber nicht in der Kernaussage lügenden Belastungszeuge«
  • »Die Floskel von der besonderen Aussagekompetenz der Polizeizeugen«
 

Materielle Wahrheit vs. schnelle Wahrheit

Verteidigungsansätze:

  • »Anhand der Protokolle auswendig gelernte Zeugenaussage von Berufszeugen«
  • »Vorhalt statt Erinnerungsbekundung«
  • »Das Selbstleseverfahren im Urkundenbeweis«
 

Materielle Wahrheit vs. mögliche Wahrheit

Verteidigungsansätze:

  • »Die Erfahrungssätze hinter dem Sachverständigengutachten«
  • »Unbelegte Wahrscheinlichkeitsurteile«
  • »Die Negierung der Aussagepsychologie«
 

Mit all diesen Ansätzen verteidigen wir nicht nur unseren Mandanten. Wir halten auch der Justiz den Spiegel vor. Mit der gleichen Inbrunst, wie uns eine am Prozess vorbei zielende Konfliktverteidigung vorgeworfen wird, können wir behaupten, sehr häufig auf Gerichte zu treffen, die sich ganz offensichtlich dem traditionellen Ziel des Strafverfahren, der Aufklärung der materiellen Wahrheit unter tunlichster Wahrung der Beschuldigtenrechte, nicht mehr verpflichtet fühlen. Das hier entworfene Konzept einer durch die Mandanteninteressen privilegierten Verteidigung scheint mir geeignet, den Vorwürfen mit den richtigen Antworten und den richtigen Anträgen zu begegnen.

Und weil der Vortrag auf der Verknüpfung von Privileg und Bürde in den polemischen Angriffen auf aktive Verteidigung angelegt ist, möchte ich durchaus polemisch schließen:

Konfliktverteidigung ist aktive Verteidigung, die manchmal geradezu verzweifelt mit dem Satz von Heidegger appelliert an das Gericht: Es ist das Privileg des Menschen, dass ihm der Verstand gegeben ist - seine Bürde der Erkenntnis ist, dass er ihn anwenden muss.

 

Rechtsanwalt Dr. Bernd Wagner ist Strafverteidiger in Hamburg. Er engagiert sich u.a. als Referent in der Anwaltsfortbildung und ist mitverantwortlich für die Konzeption der Fachanwaltskurse „Strafverteidigung“ des RAV.

Fußnoten

* Die Vortragsform wurde weitgehend beibehalten

1   Vgl. Lüderssen/Jahn, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2007, § 148 Rn. 17; König, in: Widmaier, Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung, 1. Aufl. 2006, § 4 Rn. 128; Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, 2. Aufl. 1996, Rn. 75.

2   Vgl. Lüderssen/Jahn, a.a.O.; Julius, in: Julius, StPO, 4. Aufl., § 148 Rn. 8.

3   Vgl. OLG Dresden, Beschluss vom 17. Juni 1998 - 2 Ss (OWi) 134/98 -, NStZ 1998, S. 535 f.

4   NStZ 2006, 121ff.

5   BVerfGE 122, 248, NJW 2009, 1469.

6   Jäger, Renate: Rechtsanwälte als Organ der Rechtspflege - Notwendig oder überflüssig ? Bürde oder Schutz ? in: NJW 2004, 1.

7   BVerfG NStZ 1997, 35 mit entlarvender Anm. Foth.

8   Mit Bezug auf BVerfG NvwZ 2001, 1261, 1262.

9            Verfassungsrechtlich abgeleitet aus Art. 103 I GG; Art 2 II GG - Faires Verfahren-; Art. 19 IV; Art 6 EMRK.

10 10 Krämer, Achim: Die verfassungsrechtliche Stellung des Rechtsanwalts, In: NJW 1995, 2313, 2316.

11 Alsberg, Max: Schriften zur Psychologie der Strafverteidigung, Heft 2, Die Philosophie der Strafverteidigung, 1930, S. 32.

12 Hanack, Vereinbarungen im Strafprozess, ein besseres Mittel zur Bewältigung von Großverfahren? in: Mainzer Runde ´85, 1987, S. 4.

13 BGH, Beschl. vom 31.08.2006 - 3 StR 237/06 (NStZ-RR 2007, 21; StraFo 2006, 497) vgl. BGH NStZ 2005, 341 m. w. N.; BVerfG NStZ 1997, 35; 2004, 259, 260; Hanack StV 1987, 500, 501