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Editorial

Hoffentlich rechtzeitig zu den Sommerferien erscheint der Infobrief #104 des Republikanischen Anwältinnen– und Anwältevereins. In der vorliegenden Ausgabe behandeln wir schwerpunktmäßig und aus unter-schiedlichen Perspektiven den polizeilichen und justiziellen Umgang mit Strafverfahren nach politischen Auseinandersetzungen.

Einen aktuellen Fall von großer Tragweite schildern Christina Clemm und Ulrich von Klinggräff zur Eröffnung dieses Heftes. Sie verteidigten die beiden Schüler Rigo B. und Yunus K., die in Berlin des versuchten Mordes an Polizeibeamten während militanter Auseinandersetzungen am 1. Mai 2009 angeklagt und erst nach 7½ monatiger Untersuchungshaft und 24 Hauptverhandlungstagen im Januar 2010 freigesprochen worden waren. Ihr Bericht beleuchtet die unterschiedlichen Arbeits– und damit Rechtsvorstellungen der im Gerichtssaal Beteiligten und wirft ein Schlaglicht darauf, wie weit eine engagierte Verteidigung im Extremfall gehen muss, um die Rechte der Mandaten durchzusetzen.

Dass Extremfälle in bestimmten Bereichen des Rechtssystems durchaus Normalität sein können, schildern die drei Beiträge von Andreas Blechschmidt, Lars Ostermeier und Tobias Singelnstein. Sie beschäftigen sich mit den vielfältigen Formen rechtswidriger Polizeigewalt, suchen nach deren Ursachen und analysieren die Gründe für deren weitgehenden Straflosigkeit. Eine interessante Überschneidung mit den von Christina Clemm und Ulrich von Klinggräff geschilderten Erfahrungen besteht sicherlich darin, dass auch in diesbezüglichen Verfahren von engagierten Anwältinnen und Anwälten weitgehende eigene Ermittlungsarbeit gefordert ist, um die polizeiliche »Herrschaft über die Realität« zu durchbrechen.

Nicht minder beachtenswert ist auch der Beschluss des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofes zu einem Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit von jahrelangen Überwachungsmaßnahmen dreier Aktivisten, der uns während der Endredaktion dieses Heftes erreichte (Az.: StB 16/09).

Die Generalbundesanwaltschaft hatte vom Jahr 2001 bis September 2008 gegen drei Berliner wegen des Vorwurfs ermittelt, die damals als terroristische Vereinigung eingestufte »militante gruppe« gegründet zu haben (§ 129a StGB). Nach Ansicht des BGH bestand bereits bei Eröffnung des Verfahrens kein hinreichender »einfacher Tatverdacht«. Das Verfahren gründete auf Verdächtigungen durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), welches nach drei Jahren eigener Überwachungstätigkeit allerdings nur »allgemeine Erkenntnisse über politische Orientierungen« der Beschuldigten erlangt hatte, wie der Bundesgerichtshof jetzt feststellen musste.

Außerdem konstatierten die Richter, dass der Generalbundesanwalt in seinen Anträgen an den zuständigen Ermittlungsrichter entlastende Informationen zurückgehalten hatte. So fand u.a. ein »den Erkenntnissen des BfV entgegenstehendes linguistisches Gutachten [...] keine Erwähnung.« Obwohl durch die Ermittlungen weitere entlastende Details bekannt wurden, verlängerte der Ermittlungsrichter die Überwachungen in den folgenden Jahren immer wieder. In den sieben Jahren des Verfahrens ergingen aufeinanderfolgend mehr als 27 Kettenbeschlüsse zur Telefonüberwachung und mehr als 12 Anordnungen längerfristiger Observationen.

In einer Pressemitteilung wies der RAV nun darauf hin, dass sich das System der richterlichen Vorabkontrolle, das rechtswidrige Überwachungsmaßnahmen eigentlich verhindern sollte, einmal mehr als wirkungslos erwiesen hat. Eine nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit, wie sie der Bundesgerichtshof jetzt ausgesprochen hat, ersetzt auch nicht den Schutz der Betroffenen vor tiefen Grundrechtseingriffen.

Die Eröffnungsrede von RAV–Mitglied Bernd Wagner auf dem 34. Strafverteidigertag in Hamburg vom 26.–28. Februar 2010, die wir hier gerne dokumentieren, beschäftigt sich mit der Selbstverortung und dem Selbstverständnis der Strafverteidigung. Dass eine derartige Bestimmung der Anwaltschaft – und damit auch eine kritische Abgrenzung gegenüber anderen Berufsrollen im Rechtssystem – immer wieder notwendig ist, unterstreichen gerade auch die in diesem Heft vorgestellten Einzelfälle.

Einen häufig leider wenig beachteten Bereich des Justizsystems, der erst durch die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur nachträglichen Sicherungsverwahrung wieder in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesse getreten ist, widmeten sich unter dem Motto »in dubio pro securitate – Sicherheitsbedürfnis contra Resozialisierung?« die 1. Berliner Gefangenentage vom 28. bis zum 29. Mai 2010. Organisiert wurde die Veranstaltung vom Arbeitskreis Strafvollzug der Strafverteidigervereinigung (Berlin) in Zusammenarbeit mit dem akj–berlin und dem RAV. In diesem Heft berichtet RAV–Mitglied Sebastian Scharmer von der Konferenz; dazu dokumentieren wir den Festvortrag von Prof. Dr. Feest, der darin Sicherheitsbegriff als einer Grundlage des Strafrechtssystems kritisch hinterfragt.

Fortsetzungen zu vorangegangenen Debatten und Themenschwerpunkten des RAV bieten schließlich die Beiträge von Eric Töpfer zum Datenschutz, die Darstellung einer Intervention des ECCHR zum gleichen Thema, sowie die dokumentierte Rede von Tobias Schwarz zur Diskurslogik des Aufenthaltsrechts. Tobias Schwarz hielt seinen Beitrag im Rahmen einer vom RAV organisierten Veranstaltung zum Thema »Ausweisungsrecht« am 5. Februar 2010 in Berlin. Kamil Majchrzak beschreibt schließlich ein Verfahren zur Entschädigung deutscher NS–Verbrechen vor polnischen Gerichten und schreibt damit ebenfalls eine entsprechende Debatte aus vorherigen RAV-Infobriefen fort.

Wir hoffen sehr, mit diesem RAV–Infobrief die aktuellen Auseinandersetzungen argumentativ bereichern zu können und wünschen eine anregende Lektüre.

 

Die Redaktion

Malte Daniljuk, Carsten Gericke, Hannes Honecker, Peer Stolle, Tobias Singelnstein