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Den Ausschluss festschreiben

Die Wechselwirkung zwischen öffentlichen Debatten und Ausweisungsrecht

von Tobias Schwarz

 

In seinem einführenden Vortrag (gehalten auf der RAV-Veranstaltung "Ausweisung aus dem Recht" am 5.2.2010, Anm. der Red.) hat Prof. Alexy verdeutlicht, wen die Ausländerverwaltung nach dem deutschen Recht ausweisen kann und wen nicht bzw. nicht mehr. Dr. Graebsch hat darüber gesprochen, weshalb jemand ausgewiesen werden soll, oder vor allem: warum nicht. Nun werde ich mich der Frage widmen, weshalb das Ausweisen überhaupt als möglich und nötig betrachtet wird: Wofür überhaupt vermeintlich ausgewiesen werden muss.*

Diese Frage stelle ich nicht mit einem primär theoretischen Erkenntnisinteresse, etwa im Sinne eines allgemein gültigen Modells des Ausweisens, sondern ich berichte über die gegenwärtig vorherrschenden Denkweisen in der deutschen Öffentlichkeit. Da wir aber den Menschen nicht in die Köpfe hineinschauen können, habe ich öffentliche Debatten untersucht, die einer Analyse gut zugänglich sind, nämlich Debatten in der Presse. Das heißt unter anderem aber auch: ich untersuche nicht die Rechtspraxis, nicht einzelne Ausweisungsentscheidungen, sondern das allgemein geteilte Verständnis vom Ausweisen – die Überlegungen, die Ausweisungen generell begründen, auch und besonders unter Laien.

Ausweisungen aus Deutschland sind permanent ein Thema des öffentlichen Interesses. Die zuletzt Anfang 2008 im hessischen Wahlkampf diskutierten Pläne, Ausweisungen von »ausländischen Gewalttätern«1 zu erleichtern, geben davon beredtes Zeugnis. Mit auffälliger Regelmäßigkeit treten vehemente Debatten in der Öffentlichkeit auf, die sich um das Ausweisen drehen.

Nochmals Bezug nehmend auf die vorherigen Vorträge könnte man vielleicht sagen: Die gewissermaßen ›typische‹ Fallkonstellation ist der Entzug des Aufenthaltsrechts in Folge einer schweren Straftat, d.h. im Anschluss an eine Haftstrafe. Dabei wird, wie wir gehört haben, die Frage der Doppelbestrafung relevant. In den massenmedialen Ausweisungsdebatten handelt es sich aber zunehmend um Fallkonstellationen, in denen eine strafrechtliche Sanktionierung gar nicht zur Rede steht - auch wenn sie vielleicht denkbar wäre. Vielmehr geht es dann um Ausweisungsdebatten, in denen Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens jenseits der Sühne oder Verhinderung von Devianz verhandelt werden. Sondern es geht dann um die ganz grundlegende Frage, wer überhaupt als Teil der Gesellschaft betrachtet werden soll und daher welche Rechte eigentlich für sich in Anspruch nehmen kann. Oder – andersherum gedacht – das öffentliche Reden über Ausweisungen erzeugt symbolischen Ausschluss2 bestimmter Gruppen der Gesellschaft. Und im Anschluss an solche Debatten kommt es wiederum zu Verschärfungen des Ausweisungsrechts.

Bevor ich zum ersten konkreten Beispiel komme, möchte ich noch kurz einen Blick auf die Öffentlichkeit unter einem anderen Gesichtspunkt werfen: auf öffentliche Kritik. Ganz im Gegensatz zur Präsenz der Ausweisung in der Presse ist eine fundierte Kritik außerhalb von ExpertInnenkreisen nahezu nicht vorhanden. In Deutschland - anders als in anderen Ländern der EU3 – ist Kritik an der Praxis der Ungleichbehandlung langjährig in Deutschland lebender »Ausländer« – die eigentlich längst »Inländer« geworden sind oder das immer waren - kaum zu vernehmen. Ende 2009 lebten laut statistischem Bundesamt fast 5 Millionen der registrierten 6,7 Millionen Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit bereits seit acht oder mehr Jahren in Deutschland, über 1,3 Millionen von ihnen sind sogar in Deutschland geboren. Dennoch stehen die deutschen Ausländerbehörden scheinbar kaum unter Legitimationszwang, wenn sie einige von ihnen des Landes verweisen, weil diese sich nicht so verhalten, wie das von ihnen verlangt wird. Immerhin wurden nach Auskunft der Bundesregierung von 1991 bis 2009 über 280.000 Menschen aus Deutschland ausgewiesen4, ohne dass sich dagegen ein vernehmbarer zivilgesellschaftlicher Protest geregt hätte – von einzelnen kritischen Anmerkungen in Fachdebatten5 abgesehen.

Öffentliche Konjunkturen

Für ein erstes Beispiel beginne ich mit einer dieser Konjunkturen des öffentlichen, des massenmedialen Redens über Ausweisungen. Konkret nehme ich Begründungen für das Ausweisen in überregionalen Druckmedien unter die Lupe, die so etwas wie eine Leitfunktion innehaben, d.h. den Mainstream repräsentieren.6 Dafür blicke ich bis ins Jahr 1997 zurück, als Gerhard Schröder, damals noch Kanzlerkandidat der SPD, im Interview mit der BILD am Sonntag folgende Forderung erhob: »Wir dürfen nicht so zaghaft sein mit ertappten ausländischen Straftätern. Wer unser Gastrecht mißbraucht, für den gibt es nur eins: raus und zwar schnell!« (BamS vom 20. Juli 1997)

Der Appell Schröders, »ausländische Straftäter« »schnell« des Landes zu verweisen, wirft etliche Fragen auf: Was beinhaltet dieses »Gastrecht« und worin genau besteht dessen »Missbrauch«? Für wen gilt es, wem steht es aus welchen Gründen nicht zu? Schützt das Gastrecht für gewöhnlich vor einem ›Rausschmiss‹? Und wohin ist eigentlich »raus«?

Diese Aussage weist offensichtlich auf einen Ausschlussvorgang hin, auf die Negation von Mitgliedschaft. Die (Nicht-)Zugehörigkeit wird hier u.a. bestimmt durch das Possessivpronomen »unser« und die Kontrastierung von Sie und Wir, durch die Rollenzuweisung des »Gastes«, durch die Metaphorik des Innen/Außen. Hier wird ein Gegensatz zwischen positivem Selbstbild und negativem Gegenüber rhetorisch erzeugt. Der Ausweisungsdiskurs etabliert eine Denkweise,7 in der das auszuweisende Andere zur »deutschen Gesellschaft« in ein gegensätzliches Verhältnis gestellt wird, da es diese bedrohe oder schädige. Das sagt eine ganze Menge über das Selbstbild dieser Gesellschaft aus, denn durch die Konstruktion eines derart kulturell abweichenden Anderen wird die Fiktion einer im Inneren zusammengehörigen und nach außen klar abgrenzbaren Gemeinschaft gefestigt.

Damit kann ich auch schon die erste meiner grundlegenden Thesen nennen: Der Ausschluss von denen, die nicht dazu gehören sollen, trägt zur Errichtung eines gesellschaftlichen Selbstbildes bei. Das scheint im Grunde banal zu sein, wird aber interessant, wenn wir uns anschauen, welche Form dieses Andere im konkreten Fall genau annimmt. Denn wenn wir diese alltägliche Fremdbild-Konstruktion untersuchen, kommen wir sehr schnell zu konkreten Konstruktionen des Selbstbildes.

Die zweite These lautet: Dieses öffentliche Reden über Ausweisungen beeinflusst die Normsetzung. Auch das ist wieder eine vermeintlich banale Aussage: Ein gewisser Einfluss des hegemonialen Denkens auf die Gesetzgebung besteht immer. Aber wenn wir auf die tatsächlichen Gesetzesverschärfungen der vergangenen Dekade blicken, dann ist es doch überraschend, wie eng dieser Bezug tatsächlich ist, wie deutlich das, was sich in der Medienlandschaft als grundsätzlich geteilte Logik durchsetzt, auch im legislativen Geschehen seine Macht entwickelt.

»Angriff gegen Deutschland«

Damit nochmals zurück zum ersten Beispiel: Wie sah das Wechselverhältnis zwischen dem öffentlichen Reden über Ausweisungen – also dem Wissen, das über diese Ausschlusstechnik in der Öffentlichkeit kommuniziert wird – und der Ausweisungsnorm, die möglicherweise bestimmte Aspekte dieses Wissens widerspiegelt, genau aus?

Das eingangs zitierte »Raus, und zwar schnell!« stammt aus einer Debatte, die sich etwa von März 1996 bis Juli 1997 im Kontext der so genannten »Kurden-Krawalle« entwickelte. Diese Debatte über den »Missbrauch des Gastrechts« mündete 1997 in der Verschärfung des Ausweisungsrechts: Die zwingende und die Regel-Ausweisung wurden um Verurteilung wegen bzw. Teilnahme an einem Landfriedensbruch erweitert (§ 47 AuslG, »Ausweisung wegen besonderer Gefährlichkeit«). Doch derartige, als »Krawalle« bezeichnete Zusammenstöße zwischen kurdischen Demonstrationen und der Polizei, gab es in Deutschland schon seit Jahren. Bereits 1993 wurde die PKK – laut Bundesregierung die »terroristische Kurdenorganisation« – in Deutschland verboten.8 Auch nach den anschließenden Verboten aller kurdischen Kundgebungen kam es weiter zu zum Teil schweren Auseinandersetzungen – nun bei Protesten gegen die deutschen Versammlungsverbote –, und 1996, anlässlich der verbotenen kurdischen Frühjahrsfeiern, erneut zu Autobahnblockaden und zahlreichen Festnahmen.

Bis zu den Frühjahrsfesten von 1996 werden die sich Jahr für Jahr zuspitzenden Zusammenstöße zwischen Demonstrierenden und der Polizei in Presse und Parlament als »importierter« Konflikt wahrgenommen: Als Konflikt von Anderen, der bei uns ausgetragen wird, mit dem wir aber nichts zu tun haben (wollen). Es handele sich dabei um ein »fremdes« Problem, das nicht durch deutsche Politik oder deutsches Recht gelöst werden könne.9 Erst 1996 mündet die öffentliche Debatte erstmals in einer Gesetzesnovellierung als Reaktion auf die »Krawalle« (SZ) bzw. den »Terror« (BILD).10 Angesichts der veränderten staatlichen Reaktion stellt sich die Frage: Was wandelte sich 1996 in der Debatte und warum führte diese Form der Thematisierung nun erstmals tatsächlich zu einer Gesetzesverschärfung? Die Antwort darauf lautet: Weil es zu einer diskursiven Verschiebung kam, durch die aus den »Kurdenkrawallen« ein interner Konflikt wurde. Mit den öffentlichen Debatten, angeführt von Aufmachern der Boulevardpresse wie der Abonnentenzeitungen, setzten sich Deutungen der Situation als Bürgerkrieg und als gesellschaftlichen Notstand durch, und es etabliert sich eine neue, der alten »Importthese« gegensätzliche Logik.11 Nun werden die andauernden Auseinandersetzungen als so schwerwiegend betrachtet, dass der Bestand der Gesellschaft bedroht zu sein schien. Dies wird durch das viel zitierte Diktum des damaligen Außenministers Kinkel verdeutlicht, der von einer »Kriegserklärung an den Rechtsstaat« sprach. Damit werden die Ereignisse nicht länger als »externer Konflikt«, sondern als existenzielle Bedrohung für die deutsche Gesellschaft betrachtet. Sie werden nun als ein interner Konflikt gedeutet, bei dem die deutsche Gesellschaft eine Konfliktpartei darstellt. Erst durch eine derart veränderte Problemdefinition ändern sich auch die Techniken, die als Reaktionen geboten erscheinen. Unter Bezugnahme auf den »Missbrauch des Gastrechts« und den »Angriff gegen Deutschland« wird die Ausweisungsforderung plausibel und der Landfriedensbruch wird zu einem zusätzlichen Ausweisungsgrund.

Ähnlich enge Wechselbeziehungen zwischen Argumentationen, die im öffentlichen Reden etabliert sind, und den Aktivitäten der Legislative können auch in den folgenden Jahren beobachtet werden.12 Ganz offensichtlich ist die Bedeutung, die nach dem 11. September 2001 der Bedrohung - bzw. Sicherheitslogik für das Ausweisungsrecht zukam. Als diese im Oktober 2001 in die parlamentarischen Debatten gingen, wurde auch schon an der Novellierung des Ausländergesetzes gearbeitet, d.h. das Gesetzgebungsverfahren für das Zuwanderungsgesetz lief bereits. Dieses wurde mehrfach modifiziert und schließlich erst im Juli 2004 abschließend verabschiedet.13 Auf das Ausweisungsrechts bezogen ist die bedeutendste Neuerung die Ausweisung »auf Verdacht.« Im Anschluss an das öffentliche Reden über Gefahren und deren Verhinderung kam es schließlich auch im Gesetzestext zu einer Erweiterung der - an sich schon potentiellen - Gefährlichkeit durch den Verdacht.14 Im Gesetzestext liest sich dies folgendermaßen: »Ein Ausländer wird in der Regel ausgewiesen, … 5. wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass er einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt« (§54 Nr.5 AufenthG).

Ich würde nach der Auswertung der Pressemeldungen von Ende 2001 bis Mitte 2004 behaupten: Das Thema der Gefahrenabwehr durch Ausweisung dominiert durchgehend diesen Novellierungsprozess. Viele der genannten Verschärfungen wären nicht denkbar gewesen, wenn das Verständnis auch und gerade der Laienöffentlichkeit nicht erneut durch die althergebrachte Logik der Abschottung gegen bedrohliche Einflüsse von Außen als Hauptaufgabe des Ausländerrechts dominiert gewesen wäre.

»Integrationsverweigerung«

Damit kommen wir schließlich zum aktuellsten Ereignis, das zu einer Verschärfung des deutschen Ausweisungsrechts führte, und das will ich etwas ausführlicher vorstellen. Es handelt sich um die Erfindung der »Integrationsverweigerung«. In der überregionalen deutschen Presse findet ab März 2006 ein Medienereignis statt, das als Erschrecken über Gewalt an der Berliner Rütli-Schule beginnt und in der Forderung mündet, »ausländische Gewalttäter« auszuweisen.

Nur ganz zu Beginn steht in dieser Debatte die Gewalt an Hauptschulen als Indikator eines Versagens des deutschen Schulsystems. Sehr bald überwiegt eine andere Deutung: Nun gilt als Ursache von »Gewalt, Respektlosigkeit und Ignoranz der Schüler« (Focus vom 3.4.2006) deren »ausländische« Herkunft und besonders die Tatsache, dass sie in die »deutsche« Gesellschaft nicht oder nicht ausreichend integriert seien. Dabei wird die Verantwortung für das behauptete »Scheitern« der »Integration« den »Ausländern« zugeschrieben, denn ihr Verhalten wird als »Verweigerung« gegenüber dem Integrationspostulat und als »Feindschaft« gegenüber der »deutschen« Gesellschaft gedeutet: »Hunderttausende Ausländer weigern sich, oft aus religiösen Gründen, sich bei uns einzugliedern« (BILD vom 1.4.2006). Die so entstandene »Parallelgesellschaft«, der Verstoß gegen die »Bringschuld zur Integration« – eine Wendung, die sich nun in zahllosen Äußerungen der Politik findet – werde zu einer Bedrohung für die Gesellschaft als Ganzes.

Parallel dazu wird dieses Argument der Verweigerung von Integration im Kontext eines weiteren Medienereignisses nochmals akzentuiert, und zwar in Folge des im April 2006 ergangenen Urteils im Berliner »Ehrenmord-Prozess«, also der Gerichtsverhandlung zum Mord an Hatun Sürücü im Jahr 2005.15 Die Tatsache, dass ein derartiger so genannter »Ehrenmord« in Berlin passieren könne, zeige, dass in Deutschland Menschen in einer »Parallelwelt« lebten –und darin leben wollten! Dies wird als Ergebnis kultureller Differenz gedeutet: Hier herrschten archaische Werte vor, die das Recht des Individuums und besonders der Frau nicht achteten. Von konservativen und sozialdemokratischen (Innen-)PolitikerInnen wurde daher erklärt, dass bei derartigem, die Grundwerte der deutschen Gesellschaft ablehnendem Verhalten eine Ausreise der betreffenden Personen notwendig sei. Denn anhand der gegenüber der vermeintlichen »deutschen« Normalvorstellung divergenten Vorstellung von Ehre werde je erkennbar – so diese Argumentation –, dass eine Weigerung vorliege, »sich zu integrieren«.

Damit werden mehrere Argumente folgendermaßen miteinander verknüpft: Wenn Integration aktiv erreicht werden muss, wird unvollständige Integration zu einem aktiven Verstoß gegen die »Integrationspflicht«. Wenn nun Integration gesellschaftlich notwendig sei, wird die Weigerung, sich zu integrieren, als Feindschaft gegenüber der Gesellschaft gewertet. Folglich ist auch deren Sanktionierung denkbar: als Verweisung aus der Gesellschaft hinaus, wohin sich die »Integrationsverweigerer« dieser Logik nach ja selbst schon stellen würden.

Implizit wird ein Gegenüber von des-integrierten »Ausländern« und einer »integrierten deutschen« Gesellschaft konstruiert. Und diese Logik, die erzeugte Bedrohung mit Hilfe der Ausweisung abzuwenden, materialisiert sich schließlich in Form der neu eingeführten Ausweisungsgründe, die seit 2007 geltendes Recht sind. Seit dem kann u. a. ausgewiesen werden, wer:

»9. auf ein Kind oder einen Jugendlichen gezielt und andauernd einwirkt, um Hass auf Angehörige anderer ethnischer Gruppen oder Religionen zu erzeugen oder zu verstärken,

10. eine andere Person in verwerflicher Weise, insbesondere unter Anwendung oder Androhung von Gewalt, davon abhält, am wirtschaftlichen, kulturellen oder gesellschaftlichen Leben in der Bundesrepublik Deutschland teilzuhaben, oder

11. eine andere Person zur Eingehung der Ehe nötigt oder dies versucht.« (§55, Abs.2, neue Nr. 9-11 AufenthG2004)

In der Begründung des Gesetzentwurfes heißt es, die Verweisung vom Staatsgebiet würde ein Verhalten mit »besonders integrationsfeindlichem Charakter« (BtDrs.16/5065: 180) sanktionieren und diese neu eingeführten Tatbestände würden »an schwerwiegende Verstöße gegen die Integrationsverpflichtung anknüpfen« (ebd.). Damit wird explizit die Existenz einer »Integrationsverpflichtung« behauptet, die sich allerdings in keinem anderen Gesetz findet.

Neu-Aufladung eines Begriffes

Was sich hier durchgesetzt hat, ist eine Umdeutung des Begriffes »integrationsfeindlich«. Der Terminus »integrationsfeindliche Haltung« war ja bis dato der Kritik an ausgrenzender (Innen-)Politik und Verwaltung vorbehalten. Bisher dachten die meisten Menschen, wenn sie »integrationsfeindlich« hörten, an Strukturen oder Handlungen, die es MigrantInnen schwer machten, in Deutschland zu leben, etwa: Wer Flüchtlinge räumlich oder symbolisch isoliert verwehre ihnen die Integration; wer ein Bleiberecht verhindert, handle integrationsfeindlich.

Nun wandelt sich die Bedeutung dieses Wortes komplett: In der Presse referieren zahlreiche verschiedene Artikel die »Integrationsverweigerung«, manchmal sogar, ohne das Bezeichnete überhaupt noch in Anführung zu setzen, denn es ist zu einem Schlagwort geworden, dass mit einer spezifischen Bedeutung allgemeinverständlich geworden ist. Assoziiert wird nun, dass mit »fehlender Integration« eine Bedrohung für die Gesellschaft einhergeht. Nun handelt es sich sogar um ein Bedrohungsszenario, das der Gefährdung durch Kriminalität, Gewalt oder sogar Terror gleich kommt. Die Abweichung derer, die nicht integriert sind, stellt in dieser Lesart den Zusammenhalt der deutschen Gesellschaft in Frage. Im Effekt dieser Diskurslogik muss nun nicht mehr explizit begründet werden, weshalb die Sanktionierung durch Ausweisung legitim und geboten scheint; die Verbindung zwischen »nicht integriert« und »raus!« ist bereits diskursiv als ›sinnvoll‹ etabliert.

Was damit meines Erachtens deutlich wird, ist dass die legislative Intervention eine Fortschreibung öffentlicher Debatten war. Und das gilt nicht nur im Fall der jüngsten Verschärfung des deutschen Ausweisungsrechts, dabei aber besonders deutlich. Sie spiegelt eine veränderte Ordnung des Wissens wieder, die gewissermaßen ›hinter‹ der Einzelnorm des positiven Rechts steht. Die Legitimation der dargestellten Verschärfung der Ausweisungsregelung erwächst in erster Linie der Setzung einer imaginierten »Integrationspflicht«. Diese Begründungsfigur ist neu, denn mit ihr wird das Ausweisen als eine Sanktion konzipiert, die ›integrierend‹ wirken soll. Gemeint ist aber: Sie soll Zwang zum konformen Verhalten ausüben und gleichzeitig Ausschluss bewirken.

Ausschluss soll integrieren? Angesichts dieses offensichtlichen Gegensatzes ist es nötig, die Verwendung des Begriffs der Integration, und kontrastiv dazu die Assimilation, zumindest kurz zu kommentieren. Wenn von »Integration« gesprochen wird wäre es m.E. vorteilhaft jeweils genau zu bestimmen, auf welchem Gebiet oder in welcher Hinsicht »integriert« werden soll. Dann würden wir von der Arbeitsmarktintegration, von einer Integration ins Bildungssystem usw. sprechen. Aber gebräuchlich ist eine andere Verwendung: Dieser Begriff soll zumeist eine vollständige gesellschaftliche Integration ausdrücken.16 Dies ist aber keine tragfähige Begriffsverwendung, denn was mit Integration dann überhaupt gemeint sein soll kann niemand mehr sagen. Denn wirklich vollständig integriert zu sein hätte eine Angleichung zur Folge. Für den Einsatz des Begriffes »Integration« bedarf es aber notwendigerweise einer Unterscheidbarkeit dessen, was integriert sein oder werden soll, zu den anderen Einheiten, die schon integriert sind. Diese Differenz ist die Grundbedingung dafür, dass die Notwendigkeit zur Integration überhaupt besteht. »Gesamtgesellschaftliche Integration« ist daher ein Oxymoron. Dass dieser problematische Einsatz des Begriffes so geläufig ist, erklärt sich vielleicht dadurch, dass bei »Integration« nicht wirklich eine Gleichheit der Elemente angenommen wird, sondern eine irgendwie geartete Differenz immer weiter zu bestehen scheint – dass also etwa die nebulöse »kulturelle Integration« noch nicht geglückt sei.

Ein dazu oft parallel benutzter Begriff ist »Assimilation«, und für diesen gilt nun genau das Gegenteil: In der geläufigen Verwendung ist er hoch problematisch, denn die Forderung von Assimilation wird allgemein als unzulässig betrachtet. Gemeint ist in diesen Fällen aber die Aufgabe der »kulturellen Besonderheiten« einer Gruppe, die sie von der Mehrheitsgesellschaft unterscheidet. Eine derartige »kulturelle« oder »identifikative Assimilation« gilt dann als verboten, wenn sie unter Zwang oder durch andere Maßnahmen, die Druck erzeugen, erreicht wird. Assimilation kann aber auch ein normativ unmarkiertes Konzept sein, das ganz einfach beschreibt, dass Unterschiede verschwinden. Diese Begriffsverwendung finden wir eher in der Soziologie. Beispielsweise können wir von »ökonomischer Assimilation« sprechen, wenn EinwanderInnen nach einigen Generationen nicht mehr durchschnittlich weniger verdienen als vergleichbare Gruppen, die nicht migriert sind. Das wäre in meinen Augen ein durchaus positiver Effekt, und diese Art der Assimilation lässt sich auch nicht erzwingen, sondern sie beschreibt strukturelle Gegebenheiten.

So problematisch Assimilation also sein mag: Sie löst Unterschiede auf, während Integration Unterschiede aufrechterhält. Integration ist damit eine Strategie, die immer deutlich machen muss, dass die Anderen von der Gesellschaft, in die sie integriert werden sollen, unterscheidbar bleiben.

Da wir aber nicht frei definieren können, was die verwendeten Begriff meinen sollen, sondern uns an dem orientieren müssen, was in der öffentlichen Kommunikation unter ihnen verstanden wird, so müssen wir uns klarmachen, dass der Bedeutungsgehalt von »Integration« einer permanenten Aushandlung unterliegt. In deren Verlauf wird das Konzept des Nicht-Integriert-Seins laufend neu konstruiert.

Wie aber wird der Begriff im konkreten Fall des deutschen Ausweisungsdiskurses verwendet? Als Einwanderungsgesellschaft begreift sich Deutschland als geordnetes Zusammenleben von voneinander unterscheidbaren Kulturen unter der Dominanz der »deutschen Kultur«. Aus dieser »deutschen Kultur« würden sich die Normen ergeben, an denen das Andere gemessen werden könne. Abweichung ist dabei in einer Einwanderungsgesellschaft nicht mehr komplett ausgeschlossen, sondern bis zu einem gewissen Grad zulässig. Die Abgrenzung des Zulässigen vom Unzulässigen ist aber prekär, also nicht genau und für alle Zeit festgelegt. Im Ausweisungsdiskurs wird sichtbar, wo eine entsprechende Abgrenzung vorgenommen wird. Demnach können in diese »deutsche Gesellschaft« jene Anderen einbezogen sein, die sich nicht ›bedrohlich‹ verhalten. Verweigerung von »Integration« wird als gesellschaftlicher Bedrohungszustand gedeutet, jegliche Fremdheit darf also nur »integriert« existieren – und das bedeutet, an die »deutschen Gesellschaft« angepasst. Mit der »Integrationspflicht« wird also zur kulturellen Angleichung an eine diffuse hegemoniale Norm verpflichtet, was in der Regel als »kulturelle Assimilation« bezeichnet wird. Erst damit erklärt sich auch das Paradox, den Exklusionsvorgang des Ausweisens als Technik der »Integration« einzusetzen: Im gegenwärtigen Mainstream des Einwanderungsdiskurses hat eine semantische Verschiebung der Bedeutung von »Integration« stattgefunden, hin zu einem assimilationistischen Gehalt. Mit anderen Worten: Die verschärfte Abwehr des »kulturell Fremden«, der Ausschluss des schädlichen und gefährlichen Anderen, wird als gesellschaftliche »Integration« ausgegeben.

Mir ging es darum zeigen, dass die legislative Ausgestaltung der Ausweisungsnormen in den vergangenen 15 Jahren auf Debatten in der Öffentlichkeit reagiert hat und zwar, um vor allem einen Zweck zu erfüllen: symbolische Ausgrenzung zu verschärfen.

Das ist offensichtlich eine Form, um gesellschaftliche Probleme nicht strukturell zu lösen, sondern durch individualisierte Sanktionen so zu tun, also ob. Dies verschärft ein »Integrationsproblem« eher, indem nicht die Gesellschaft dafür sorgt, dass alle in ihr Lebenden gleiche Rechte haben, sondern ein bestimmtes individuelles Verhalten durch Repression erzwungen werden soll. Ausweisung ist also eine Technik der repressiv verstandenen Assimilationspolitik (die sich als »Integration« ausgibt). Das sind Gründe genug, das bestehende Ausweisungsrecht abzuschaffen.

 
Tobias Schwarz ist Soziologe. Er promoviert am Institut für Europäische Ethnologie an der Humboldt Universität Berlin.

Fußnoten

* Vortrag, gehalten auf der Veranstaltung "Ausweisung aus dem Recht" am 5.2.2010 in Berlin.

1   Begriffe wie etwa den »Ausländer« mache ich mir übrigens nicht zu Eigen sondern zitiere sie als Bestandteile des Diskurses, den ich untersucht habe.

2   Symbolisch bedeutet dabei keineswegs »nur gedacht« oder            gar unwirksam, sondern meint die Machtwirkungen, die aus der Definition von Zugehörigkeit und Ausschluss resultieren. Daher wird in diesem Zusammenhang auch von »Differenzierungsmacht« (Kastner 2007: 214) oder »Konstruktionsmacht« (Weiß 2001) gesprochen.

3   Bestes Beispiel dafür ist die Campagne contre la Double peine »Une peine point barre« (vgl. www.gisti.org) in Frankreich, die das Ausweisen als »Doppelbestrafung« skandalisierte und so 2003 eine gewisse Entschärfung des französischen Ausweisungsrechts erreichte.

4   (BtDrs. 16/5396 und 17)

5   Schon der 53. Deutsche Juristentag 1980 forderte einen absoluten Ausweisungsschutz für im Lande geborene und aufgewachsene Menschen ohne deutschen Pass; ähnlich äußerte sich auch die Rechtsberaterkonferenz 1999 und 2003, um nur einige Beispiele zu nennen.

6   Dieser Text basiert auf einer Auswertung überregionaler Tageszeitungen, der Boulevardpresse und Nachrichtenmagazinen. Daneben wurden auch Bundestagsdebatten, legislative Vorgänge (Gesetzentwürfe und Gutachten) sowie schließlich der Gesetzestext selbst untersucht; vgl. (Schwarz 2010).

7   Noch besser wäre es, vom Diskurs als einer Wissensordnung zu sprechen, die eher impliziten als expliziten Regeln folgt; vgl. dazu etwa (Diaz-Bone 2006: 73). Unter Diskurs verstehe ich generell nicht die kommunikative Handlung, sondern die Deutungen und Bedeutungen, die dem Denken und Sprechen zu Grunde liegen, denn es geht mir um die Struktur des sozial konstruierten und als legitim anerkannten Wissens (vgl. (Keller 2001: 113)).

8   Im Jahr 1994 waren nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland alle Feiern des kurdischen Neujahrsfestes (Newroz, 21. März), die der politischen Manifestation kurdischer Autonomie dienten, verboten. Auch in den Folgejahren nahmen die Proteste nicht ab, sondern angesichts des fortdauernden Bürgerkriegs in der Türkei auch in Deutschland eher zu (vgl. (Skubsch 2002: 209), (Rucht/Heitmeyer 2008: 587)).

9   Diese auch sozialwissenschaftlich spätestens 1996 vollständig ausgearbeitete These des »Konfliktimports« sieht die konkreten Konfliktursachen ausschließlich in exogenen Faktoren (»aus der Türkei importiert«), endogene Faktoren, wie die innen- und außenpolitischen Interessen der Bundesrepublik, bleiben unbeachtet. Etwa in Heitmeyers Studien der späten 1990er Jahre wurden die Konflikte als »innertürkische Auseinandersetzungen zur Kurdenfrage« (Heitmeyer 1996b: 11) definiert; er warnte vor dem »erheblichen Konfliktpotenzial« der »aus Herkunftsländern importierten Konflikte« (Heitmeyer 1996a: 48). Auch Brieden ging davon aus, dass »ein ›Import‘ des ethnischen Konflikts vom Herkunfts- zum Zuzugsland« stattfand (Brieden 1996: 19).

10  Noch im März 1996 verständigte sich das Bundeskabinett auf eine Reihe von »Maßnahmen«, die im Juni 1996 als Gesetzentwurf der Bundesregierung ins Parlament eingebracht wurden, um u. a. den »Ausschreitungen von gewalttätigen Ausländern« zu begegnen (BtDrs. 13/4948: 9). Nach Anrufung des Vermittlungsausschusses wurde das »Gesetz zur Änderung ausländer- und asylverfahrensrechtlicher Vorschriften« (BGBl. I S. 2585) erst im Juni 1997 vom Parlament verabschiedet und trat im Oktober 1997 in Kraft (vgl. (Huber 1998): B 100 § 47).

11  Die Mediananlayse dieser Phase ist ausführlich dokumentiert in (Schwarz 2010: 136-145).

12 Ich überspringe den sog. »Fall Mehmet« von 1998, denn auch dort waren öffentliche Debatten und Rechtssetzung miteinander verschränkt, jedoch mit anderen Folgen: es kam gerade deshalb zu keiner Änderung der formalen Normen, weil die dominante Denkweise sich noch nicht so weit geändert hatte, dass entsprechende legislative Pläne Erfolg haben konnten; vgl. (Schwarz 2010: 160-163).

13  Eine detaillierte Zusammenfassung der Gesetzgebungsverfahren zum TerrorBekG und ZuwG findet sich bei (Davy 2006): 210-245.

14  Zur Deutung der Potentialität als Faktizität vgl. (Schwarz 2010: 187-204).

15  Im Februar 2005 wurde eine alleinstehende 23-jährige Mutter von ihrem Bruder in Berlin auf offener Straße ermordet. Diese Tat wurde in der Öffentlichkeit als kollektive Reaktion der nächsten Angehörigen auf das die Familie vermeintlich »entehrende« Verhalten der jungen Frau gedeutet. Nach der Urteilsverkündung wurden die neunjährige Haftstrafe für den damals 18-jährigen Täter sowie der Freispruch seiner Brüder vielfach als zu gering bezeichnet; der Umstand einer kollektiven Entscheidung der Familie zum Mord an der Tochter/Schwester sei vor Gericht nicht ausreichend gewürdigt worden.

16  Im deutschen Recht existiert meines Wissens keine explizite Definition von »Integration«. Die Notwendigkeit, diesen Terminus in der Praxis zu operationalisieren führt aber zu einer m. E. durchaus brauchbaren teilsystemisch ausdifferenzierten Begriffsverwendung, wie etwa das Beispiel der »Grundprinzipien für die Politik der Integration von Einwanderer« des Rats der EU von 2004 zeigt: »Die Eingliederung … erfordert die Mitwirkung der Aufnahmegesellschaft, die Gelegenheiten für eine uneingeschränkte wirtschaftliche, soziale, kulturelle und politische Teilhabe der Einwanderer schaffen sollte« (Rat der EU 14615/04: 19).