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Die Harmonisierung des Asylrechts in Europa

Hohe Schutzstandards und gleiches Rechts für überall?

Berenice Böhlo

 

Der schwedische Migrationsminister Tobias Billström kam 2009 im Rahmen der schwedischen Ratspräsidentschaft zu folgendem Ergebnis: In welchem EU–Land man seinen Asylantrag einreiche, sei mittlerweile wichtiger als die Frage, warum man überhaupt Asyl beantrage. (1) Sowohl der Kommission als auch dem Rat ist klar, dass Asylsuchende nicht überall in Europa ein faires und effizientes Asylverfahren entsprechend internationaler Mindeststandards erhalten. Im Gegenteil: In Griechenland beispielsweise finden Asylverfahren vor allem auf Griechisch statt und es besteht eine Anerkennungsquote von annähernd Null Prozent. Dennoch schickt Deutschland im Rahmen der Dublin–II–Verordnung des Rates Flüchtlinge nach Griechenland zurück, die über dieses Land nach Deutschland eingereist sind, damit sie dort ein Asylverfahren betreiben, welches es faktisch nicht gibt.

Ein Blick auf das europäische Asylrecht macht schnell klar, dass trotz bereits erfolgter Rechtsetzung viele entscheidende Fragen nach wie vor offen sind. Wird es ein einheitliches Asylverfahren geben? Wenn ja, auf welchem Niveau? Wird es einheitliche soziale Rechte für Asylsuchende in Europa geben, die nicht gegenüber EU–Staatsangehörigen diskriminieren? Welche Kompetenzen wird eine künftige europäische Asylbehörde haben? Wie wird Europa künftig mit Flüchtlingen umgehen, sollen diese weiter an den Außengrenzen abgewehrt werden? Werden Grenzkontrolle und Grenzsicherung um jeden Preis die Perspektive auf das Asylrecht bestimmen? Der vorliegende Beitrag möchte einige Eckdaten und Grundlagen der Entwicklung des europäischen Asylrechts skizzieren. Auch wenn noch kein einheitliches europäisches Asylverfahren besteht, hat die europäische Asylpolitik und Rechtsetzung massiven Einfluss auf das deutsche Asylrecht, was am Beispiel der bereits erwähnten Dublin–II–Verordnung deutlich wird.

Der Beginn eines europäischen Asylsystems

In einem Zwei–Phasen–Programm sollte nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam im Jahr 1999, der erstmals eine Rechtsgrundlage der Gemeinschaft im Bereich des Asylrechts begründete, ein europäisches Asylsystem errichtet werden. In der ersten Phase sollte gemäß dem vom Rat der Regierungschefs angenommenen Programm von Tampere von 1999 bis 2004 eine materiell–rechtliche Angleichung zwischen den Mitgliedstaaten erfolgen. (2) Es ging darum, welche Idee Europa vom Asylrecht hat. Vier zentrale Rechtstexte wurden erlassen: die sog. Aufnahmerichtlinie für einheitliche Mindeststandards bei der Aufnahme von Asylbewerbern (RL EG 2003/9); die sog. Qualifikationsrichtlinie (RL EG 2004/83) für einheitliche Kriterien bei der Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzes; die Asylverfahrensrichtlinie für vergleichbare Mindeststandards und Verfahrensgarantien für Asylbewerber (RL EG 85/2005 und als viertes zentrales Rechtsinstrument der ersten Harmonisierungsphase die so genannte Dublin–II–Verordnung (VO Nr. 343/2003), mit Zuständigkeitsregelungen innerhalb der EU in Bezug auf Asylsuchende. Sämtliche Rechtstexte sind mittlerweile in Kraft getreten.

Dem Programm von Tampere ließ der Rat im November 2004 das Haager Programm folgen, gültig für den Zeitraum von 2004 bis 2009. Nach Abschluss der ersten Harmonisierungsphase sollen in der zweiten Phase die Vorschläge für ein umfassendes Gemeinsames Europäisches Asylsystem bis Ende 2010 verabschiedet werden. (3) Das Haager Programm beschäftigt sich vordringlich mit Fragen der Grenzsicherung und »externen Dimension« der Asylpolitik. Flucht und Asyl werden mit dem Thema Steuerung und Kontrolle von Migration verbunden, wozu insbesondere die Bekämpfung der illegalen Migration und die Rückführung von Drittstaatsangehörigen gehört. Der Grenzschutz soll zwar weiterhin eigenverantwortlich im Aufgabenbereich der Mitgliedstaaten bleiben, eine Grenzschutzagentur »Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen« (FRONTEX) jedoch die nationalen Behörden unterstützen. Außerdem wurden Maßnahmen zur Einführung des Visa–Informationssystems (VIS) und zur Einführung von Visa mit biometrischen Daten beschlossen.

Grünbuch der Kommission (2007)

Im Juni 2007 veröffentlichte die Kommission ihr Grünbuch, um so den Harmonisierungsprozess zu beschleunigen und an dem Ziel der Erreichung eines europäischen Asylsystem bis 2010 festzuhalten, obwohl die erste Harmonisierungsphase weder hinreichend abgeschlossen noch umfassend ausgewertet worden war. Die Kommission stellte fest, dass die Mitgliedstaaten die Rechtstexte der ersten Phase nicht nur sehr unterschiedlich, sondern teilweise auch so auslegten, dass sie dem eigentlichen Ziel der Regelung zuwiderliefen. Sie formulierte weiteren Regelungsbedarf und entwarf ein »integriertes, umfassendes Asylkonzept« zu dessen Erreichung alle Phasen des Asylprozesses »verbessert« werden müssten. (4) Tatsächlich war die EU im Jahr 2007 noch weit von einheitlichen Standards hinsichtlich der Rechtsakte der ersten Phase entfernt. Die Kommission nennt vier Bereiche, in denen vordringlicher weiterer Handlungsbedarf bestehe: Rechtsinstrumente und Durchführung; Begleitmaßnahmen; Solidarität und Lastenteilung; externe Dimension der Asylproblematik.

Die »externe Dimension« ist ein Begriff der Kommission und des Rates. Darunter wird die Entwicklung von Konzeptionen verstanden, deren Ziel es ist, dass Flüchtlinge in ihren Herkunftsregionen bleiben. Über regionale Schutzprogramme soll der Flüchtlingsschutz ausgelagert werden. In diesen Regionen sollen nach Auffassung der Kommission Asylsysteme aufgebaut werden. Zur externen Dimension gehört auch die Einbindung von Drittstaaten über Rücknahmeabkommen, die die EU seit dem Vertrag von Amsterdam abschließen kann. Die Grenzkontrolle wird an Nachbarstaaten der EU delegiert und von deren Erfolg eine Beitrittsperspektive dieser Staaten abhängig gemacht.

Im Oktober 2007 führte die Kommission eine öffentliche Anhörung durch, an der sich zahlreiche NGOs mit Stellungnahmen beteiligten. Nach diesem Konsultationsverfahrens wurde im Jahr 2008 ein Strategieplan vorgestellt.

Papier der Kommission über die künftige Asylstrategie (Juni 2008)

Die Kommission schlägt in ihrem Papier vom 17. Juni 2008 (5) eine Drei–Punkte–Strategie vor, wonach bis spätestens 2012 ein einheitliches Asylverfahren und ein einheitlicher Rechtsstatus für Flüchtlinge sowie für Begünstigte des subsidiären Schutzes verwirklicht werden soll. Hierzu gehören die Reform bestehender rechtlicher Regelungen, wie die Einführung eines gemeinsamen europäischen Asylverfahrens sowie die Schaffung eines einheitlichen Status für Asyl und subsidiären Schutz. Als zweiten Punkt sah die Kommission die Förderung der »Verantwortung und Solidarität« im Verhältnis der Mitgliedstaaten zueinander sowie zwischen der EU und Drittstaaten vor, wobei ein europaweites Resettlement–System und verbindliche Solidaritätsmechanismen geschaffen werden sollen. Der dritte Punkt sah die Einrichtung einer zentralen europäischen Asylbehörde vor. Ziel war es, die Mitgliedstaaten in allen drei Punkten zu drängen, möglichst verbindliche Regelungen zu schaffen, die nicht jedweder Auslegung und Umdeutung offen waren. Andererseits legte die Kommission im Frühjahr 2008 ein Papier über die »Integrierte Grenzverwaltung« vor, dessen Thema Maßnahmen für eine zukünftige Kontrolle der Migration und die Grenzabschottung waren. (6) Inhaltlich ist dies darauf angelegt, möglichst keine Flüchtlinge mehr nach Europa zu lassen. Der Weg hierzu führt über Überwachung und Datenaustausch sowie den Aufbau von FRONTEX.

Europäischer Pakt zu Einwanderung und Asyl (Oktober 2008)

Im Oktober 2008 trafen sich die Justiz– und Innenminister in Paris. Der Strategieplan der Kommission lag vor und die Frage war, ob die Minister sich zu einer Einigung über verbindliche Veränderungen im europäischen Asylrecht würden durchringen können. Auch die Minister stellten fest, dass zwischen ihren Ländern immer noch erhebliche Unterschiede bestehen. Verabschiedet wurde schließlich der »Europäische Pakt zu Einwanderung und Asyl«, der mangels Einigung nur allgemeine und unverbindliche Leitlinien für die künftige Gestaltung der europäischen Einwanderungs– und Asylpolitik enthielt. (7) Bis spätestens 2012 soll nun endgültig ein einheitliches Asylverfahren für Flüchtlinge geschaffen werden. Die Grenzkontrollen sollen ausgebaut werden, in Krisenfällen sollen künftig schutzbedürftige Flüchtlinge auf »freiwilliger und koordinierter Basis« zwischen den Mitgliedstaaten umverteilt werden können. Eine verbindliche Regelung, wie vor allem von Malta, Griechenland, Spanien und Italien gefordert, Flüchtlinge aus anderen Mitgliedstaaten aufzunehmen, blieb aus. Insbesondere Länder wie Deutschland fürchteten, dass diese Staaten sich anderenfalls weniger zur Sicherung ihrer Außengrenzen veranlasst sehen würden. Der Pakt enthält auch die Aufforderung an die Mitgliedstaaten, zukünftig Massenlegalisierung von Ausländern ohne Aufenthaltsstatus zu unterlassen. Die französische Präsidentschaft hatte den Vorschlag der Kommission zur Errichtung einer europäischen Asylagentur mit der Kompetenz zur Entscheidung in Einzelfällen aufgenommen, ließ sie aber nach deutschem Widerstand fallen. Die Agentur soll nun beratend und koordinierend tätig werden.

Am Rande des Gipfels protestierten mehrere Tausend Vertreter von etwa 300 Organisationen aus Europa und Afrika.

Gegenwärtiger Stand der Europäischen Harmonisierung

Im Dezember 2008 machte die Kommission insgesamt fünf Vorschläge für neue bzw. veränderte Verordnungen und Richtlinien. An ihrem Befund hatte sich nichts geändert, die »Asyl– Lotterie« (EU–Justizkommissar Jacques Barrot) sollte nunmehr endgültig beendet werden. Noch bestünden »beträchtliche Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten«. Ein Asylbewerber könne in einem Land aufgenommen, im anderen abgelehnt werden. An folgenden Vertragswerken wurden Änderungen vorgeschlagen: die Richtlinie über die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber, die Dublin–II–Verordnung, die Eurodac– Verordnung, die Verordnung über die Einrichtung eines Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen und die gemeinsame Neuansiedlungsregelung der EU. (8)

Das Parlament äußerte sich im Mitentscheidungsverfahren ausführlich zu den Vorschlägen der Kommission. (9) Danach sei das Konzept des Asyls auf Kosten der Menschenrechte und des Schutzes der Asylbewerber stark »ausgehöhlt« worden. Es sollten tatsächlich einheitliche Asyl-verfahren geschaffen werden und Asylsuchende grundsätzlich nicht in Gewahrsam genommen werden. Begrüßt wurde die Einrichtung eines Europäischen Unterstützerbüros, welches eng mit NGOs und dem UNHCR zusammenarbeiten soll. Es müssten einheitliche Kontrollen an den EU–Außengrenzen installiert werden, um Asylsuchende besser identifizieren können und leichteren Zutritt zu gewähren. Das Mandat der EU– Agentur für Grenzsicherung FRONTEX müsse überarbeitet und »Schutz– und Menschenrechts-belange« in die Mission von FRONTEX integriert werden. Die Grenzüberwachung soll zukünftig außerdem detaillierte Berichte über die abgefangenen Personen und ihre einzelnen Schicksale vorlegen. Ziel müsse auch sein, das gemeinsame Asylsystem mit »den Zielen und Aktivitäten im Bereich des Flüchtlingsschutzes (...) für die Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern« sowie mit den entsprechenden Partnerschaftsabkommen in »Einklang« zu bringen. Damit sei auch verbunden, eine Wiederansiedlung von Flüchtlingen in ihren Herkunftsländern zu fördern. Mit scharfer Kritik wandte sich das Parlament gegen die derzeit gültige Dublin-II–Regelung. Das Parlament will schließlich durchsetzen, dass Personen, deren Schutzbedürftigkeit anerkannt wurde, auch in einem anderen Land der EU leben können. Das Parlament folgte teilweise dem Änderungsvorschlag der Kommission für die Aufnahmerichtlinie. Deren Vorschlag, dass Sozialleistungen für Asylbewerber dem Betrag der Grundsicherung entsprechen müssen, der den Staatsangehörigen der jeweiligen Mitgliedsstaaten gewährt wird, wurde abgelehnt. Eine Festlegung auf Geldleistungen sei zudem »ein gewichtiger Pull–Faktor, der zusätzliche illegale Einwanderung verursachen dürfte«. Das Parlament stimmte der Kommission aber zu, dass Asylbewerber spätestens nach sechs Monaten Zugang zum Arbeitsmarkt, Anspruch auf eine kostenfreie Rechtsberatung und – vertretung sowie auf medizinische und psychologische Versorgung erhalten sollten.

Die Vorschläge wurden, wie bei Mitentscheidungsverfahren vorgesehen, vom Europaparlament an den Europäischen Rat übermittelt. Stimmt dieser den legislativen Entwürfen des Parlaments zu, könnten sie mit qualifizierter Mehrheit gebilligt werden. Ein Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens war ursprünglich für 2009 erwartet worden. Der Parlamentsausschuss debattierte Ende 2009 über die festgefahrenen Verhandlungen mit dem EU–Rat über die fünf Regulierungsvorschläge zur Asyl– und Flüchtlingspolitik. Der spanische Abgeordnete Antonio Masip–Hidalgo fragte, wieso die Verhandlungen im Rat in einer Sackgasse stecken. Ein Vertreter des EU–Rates antwortete, dass der Rat noch so weit von einer gemeinsamen Position entfernt sei, dass auch informelle Gespräche mit dem Parlament nicht möglich seien.

Erklärung der Kommission zu weiteren vorzunehmenden Änderungen

In ihrer Erklärung vom 21. Oktober 2009 (10) kommt die Kommission zu dem Ergebnis, dass auf dem Gebiet des internationalen Schutzes immer noch beträchtliche Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bestehen. Die Kommissionsvorschläge zur Qualifikations– und Asylverfahrensrichtlinie würden entscheidend zu besseren Schutzstandards, einheitlicheren Rahmenbedingungen in den einzelnen EU–Ländern sowie einem effizienteren und kohärenteren System beitragen, welches also bis dato nach Auffassung der Kommission immer noch nicht besteht. (11) Die Qualifikationsrichtlinie soll nach Auffassung der Kommission u.a. wie folgt geändert werden:

  • »Präzisierung einiger Rechtsbegriffe, mit denen die Schutzgründe definiert werden, wie ›Akteure, die Schutz bieten können‹, ›interner Schutz‹ und ›Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe‹: So kann geschlechtsspezifischen Aspekten bei der Antragsprüfung besser Rechnung getragen werden. Gleichzeitig wird den einzelstaatlichen Behörden ermöglicht, die Kriterien konsequenter anzuwenden und rascher zu bestimmen, wer tatsächlich Schutz benötigt.«
  • »Beseitigung der nicht mehr als gerechtfertigt anzusehenden Unterschiede bei den Rechten, die Flüchtlingen und Personen mit Anspruch auf subsidiären Schutz zuerkannt werden: Die Änderungen betreffen die Dauer der Aufenthaltstitel sowie den Zugang zur Sozialhilfe, zur medizinischen Versorgung und zum Arbeitsmarkt.
  • Berücksichtigung der speziellen Integrationsprobleme, denen sich Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz gegenübersehen, um sicherzustellen, dass diese Personen die in der Richtlinie vorgesehenen Rechte auch tatsächlich in Anspruch nehmen können.(...)«

Für die Asylverfahrensrichtlinie schlägt die Kommission im Wesentlichen folgende Änderungen vor:

  • »Vereinfachung und Rationalisierung der Asylverfahren sowie Verringerung des Verwaltungsaufwands für die Mitgliedstaaten durch Einführung eines einzigen Prüfungsverfahrens pro Antrag.«
  • »Erleichterung des Zugangs zum Prüfungsverfahren: Für Personen, die bereits bei ihrer Einreise in das Hoheitsgebiet oder kurz danach einen Antrag auf internationalen Schutz stellen wollen, sollten entsprechende Informationen und Beratungsleistungen bereitgestellt werden. Grenzschutz– und Polizeibeamten sowie Bediensteten anderer Behörden, die als Erste mit Personen in Kontakt kommen, die um internationalen Schutz nachsuchen, soll eine klarere Vorstellung davon vermittelt werden, wie sie mit diesen Personen umzugehen haben.«
  •  »Effizientere Antragsprüfung: Einführung einer allgemeinen Frist von sechs Monaten für die Erledigung erstinstanzlicher Verfahren (...)«.
  • »Bessere Qualität asylrechtlicher Entscheidungen: Die Verfahrensgarantien, insbesondere für schutzbedürftige Personen wie Folteropfer oder unbegleitete Minderjährige, werden gestärkt. (...)«.
  • »Gewährleistung eines wirksamen Rechtsbehelfs für Asylbewerber: Nachprüfung erstinstanzlicher Entscheidungen durch ein Gericht sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht, aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen«.

Vertrag von Lissabon und Stockholm-Programm

Seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon zum 1. Dezember 2009 sind Art. 67 Abs.2 und insbesondere Art. 78 AEUV die Rechtsgrundlage für den Aufbau eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Es hat jetzt immer die Mitentscheidung durch das Europäische Parlament gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren zu erfolgen. Der Rat kann mit qualifizierter Mehrheit entscheiden. Weiterhin ist der Europäische Gerichtshof jetzt auch für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Handelns der Organe der Union zuständig und überprüft zudem die Vereinbarkeit mit der nun rechtsverbindlichen Grundrechtscharta, die ja in Art.18 das Asylrecht aufführt. Die zuvor bestehenden Einschränkungen des Rechtsschutzes im Bereich innenpolitischer Fragen sowie beim Individualklagerecht entfallen.

Im Dezember 2009 verabschiedete der Rat das Stockholmer Programm, das von 2010 bis 2014 gelten soll und die Nachfolge des Haager Programms antritt. (12) Wieder wird der Ausbau eines europäischen Asylsystems als Ziel benannt. Allerdings muss auch der Rat wieder feststellen, dass die entsprechenden Richtlinien und Rechtsakte noch immer nicht in allen Mitgliedstaaten voll implementiert wurden und gleiche Verfolgungsschicksale nach wie vor nicht gleiche Entscheidungen der Asylbehörden nach sich ziehen, geschweige davon, dass in ganz Europa die gleichen Aufnahmebedingungen herrschen würden.

Konkret wird der Rat in folgendem Punkt: FRONTEX soll ausgebaut und weiter nicht durch das Parlament kontrolliert werden können. Eine europäischen Asylbehörde mit eigenen Kompetenzen, wie ursprünglich von der Kommission vorgesehen, wurde endgültig abgelehnt. Stattdessen einigten sich die Mitgliedsstaaten darauf, ein Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) mit beratendem Mandat einzurichten. Die »externe Dimension« der Asylpolitik solle ausgebaut werden und die EU gemeinsam mit Aufnahmeländern von Flüchtlingen zusammenarbeiten und hierbei vom EASO unterstützt werden. Bei den Plänen für ein gemeinsames EU– Programm zur Neuansiedlung von Flüchtlingen aus Erstzufluchtsländern wird der Rat wieder vage, es werden Überlegungen zu einem sog. Resettlement–Programm angestellt. Drittstaaten sollen dabei unterstützt werden, ihre Aufnahmekapazitäten auszubauen. In Reaktion hierauf warnte der UNHCR, beim Asyl–Zugang in wichtigen Transitstaaten, vor allem jenen entlang der südlichen und östlichen EU–Außengrenzen, nicht zu vergessen, dass in einigen Transitstaaten nicht die notwendigen Bedingungen dafür gegeben seien, die grundlegenden Rechte von Asylsuchenden und Flüchtlingen gewährleisten zu können.

Nun steht an, dass die Kommission 2010 einen Aktionsplan zur Implementierung des Stockholmer Programms vorlegt, wie vom Rat verlangt, und vor Juni 2012 einen Überblick über die Umsetzung des Stockholm–Programms liefert.

Die Dublin-II-Verordnung

Der Dublin–II–Verordnung kommt eine Schlüsselfunktion im Rahmen des Europäischen Asylsystems (CEAS) zu, so steht es im Stockholmer Programm. Dublin regelt Kriterien zur Festlegung der Zuständigkeit und Verfahren für die Überstellung von Asylbewerbern innerhalb der EU. Zuständig ist der Mitgliedstaat, der an der Einreise eines Flüchtlings ins Hoheitsgebiet der EU »schuld« ist, weil er z.B. diesem ein Visum erteilt hat. In der Regel ist der Staat zuständig, zu dem der Flüchtling bei Einreise in die EU den ersten Gebietskontakt hatte, er es also wie auch immer geschafft hat, die Grenze eines EU–Staates zu passieren. Die Flüchtlinge werden, wenn sie in einen anderen als dem nach der Verordnung zuständigen Staat weiterreisen, in einem automatisierten Verfahren an diesen rücküberstellt. Dabei geht die Dublin–II–Verordnung von der Illusion aus, dass überall in Europa einheitliche Schutzstandards gelten würden, ein Flüchtling also überall in Europa gleiche Verfahren und Bedingungen findet.

Das Dublin System hat für das Asylsystem eine herausgehobene Bedeutung, weil es zwar eine EU–interne Regelung darstellt, sich aber direkt auf die Situation an den Außengrenzen auswirkt. Die Mitgliedstaaten, die an das Mittelmeer grenzen oder die östliche Grenze der EU bilden, wo die meisten Flüchtlinge ankommen, sehen sich auf Grund der Dublin–II–Verordnung unter erheblichem Druck. Die Antwort hierauf ist bisher aber nur der weitere Ausbau der Grenzsicherung. Im Gegensatz hierzu wollen Länder wie Malta in Anlehnung an die Kommission eine Regelung durchsetzen, die spätestens ab dem Jahr 2012 Asylsuchende mit einer verbindlichen Quotenregelung auf die EU–Staaten verteilt. Länder wie Deutschland weigern sich aber vehement, Flüchtlinge aufzunehmen, oder der teilweisen und temporären Aussetzung der Dublin–II–Verordnung zuzustimmen, wenn einzelne Mitgliedsstaaten überlastet sind. Deutschland und andere EU–Staaten wollen stattdessen ein unverbindliches Solidaritätsversprechen abgeben um zu verhindern, mehr Flüchtlinge aufnehmen zu müssen.

Für Deutschland ist das Dublin–System schon jetzt überaus bedeutsam, weil etwa ein Drittel der Flüchtlinge, die Deutschland überhaupt noch erreichen, so genannte Dublin–II–Fälle sind; Tendenz steigend. Der Großteil befindet sich in Haft, obwohl es sich um Asylerstverfahren handelt, wo sie auf ihre Überstellung nach Polen, Griechenland oder zum Beispiel auch Tschechien, Estland, Malta oder Frankreich warten.

Der Flüchtling kann gegen den die Überstellung anordnenden Bescheid zwar klagen. Die Klage hat aber keinen Suspensiveffekt. Das Asylverfahrensgesetz sieht vor, dass in Dublin– II–Verfahren einstweiliger Rechtsschutz per Gesetz unzulässig ist (vgl. §34a AsylVfG). Somit besteht gegen die Überstellung kein effektiver Rechtsschutz, kein anderer Staat der EU hat eine entsprechende Regelung. Der §34a AsylVfG bezieht sich auf §27a AsylVfG und die dort geregelte Drittstaatenregelung. Diese besagt, dass aus sicheren Drittstaaten einreisende Flüchtlinge – als diese gelten alle Mitgliedstaaten der EU – sich nicht auf Art.16a GG berufen können. Diese im Jahr 1993 eingefügte Änderung des GG hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in einer Entscheidung von 1996 für grundrechtskonform erklärt. (13) Es führte damals aus, dass in §27a AsylVfG eine normative Vergewisserung zum Ausdruck komme, welches besage, dass gegenwärtig und in absehbarer Zeit nicht davon auszugehen sei, dass in einem der Mitgliedstaaten der EU Menschen politisch verfolgt werden und Personen, die aus diesen Staaten in die Bundesrepublik einreisen, sich nicht auf politische Verfolgung berufen können. Das BVerfG sah in seinem Urteil nur unter ganz engen Voraussetzungen die Möglichkeit vor, von diesem Konzept der normativen Vergewisserung abzuweichen.

Rechtsschutzanträge gegen Überstellungen scheiterten daher durchgehend, weil Gerichte und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) entsprechend §34a AsylVfG von Gesetzeswegen annahmen, dass die menschenrechtlichen und in den europäischen Richtlinien festgelegten Mindeststandards in jedem europäischen Mitgliedstaat gelten würden.

Nur in Bezug auf die Überstellung von Flüchtlingen im Rahmen der Dublin–II–Verordnung nach Griechenland begann ein Teil der Verwaltungsgerichte dies anders zu sehen und stoppte in vorläufigen Rechtsschutzverfahren entgegen der Bestimmung des §34a AsylVfG die Überstellungen. Inzwischen gibt es auch einzelne entsprechende Entscheidungen zu anderen europäischen Ländern. Die Berichte über die katastrophale Situation für Flüchtlinge in Griechenland hatten sich unübersehbar gehäuft. Pro Asyl hatte im Jahr 2008 zusammen mit unzähligen NGOs und Einzelpersonen sowie mit Anwälten in Griechenland die dortige katastrophale Situation für Flüchtlinge umfassend dokumentiert. Danach stellen sich zwischen 2.000 und 3.000 Menschen wöchentlich bei der einzigen Anlaufstelle für Flüchtlinge in Athen an, die teilweise schon in der Nacht vor Ort warten. Aufgrund der begrenzten Kapazitäten werden wöchentlich jedoch maximal 350–400 Personen überhaupt zur Behörde vorgelassen. Asylsuchende werden auf Grund des Fehlens von Übersetzungsdiensten und Rechtsberatung noch immer oft in einer Sprache angehört, die sie nicht verstehen, und nicht über ihre Rechte beraten oder belehrt. Die größte Zahl von Asylsuchenden in Griechenland ist obdachlos. Asylentscheidungen werde ihnen daher nicht zugestellt, sondern öffentlich bekannt gemacht. Das BVerfG entschied vor diesem Hintergrund im August 2009, dass ein Rechtsschutzantrag gegen eine Überstellung nach Griechenland zulässig und diese vorläufig auszusetzen sei. (14) Danach sei das Konzept der normativen Vergewisserung, welches in der Drittstaatenregelung des §27a AsylVfG zum Ausdruck komme und auf welches sich §34a AsylVfG beziehe, nicht ohne weiteres auf Sachverhalte von Aufnahmebedingungen und Verfahrensrechten von Flüchtlingen, die um Asyl nachsuchen, zu übertragen und im übrigen sei angesichts des Vortrags zur Situation in Griechenland im Hauptsacheverfahren zu prüfen, wie sich die Situation dort für Flüchtlinge darstellt. Eine Entscheidung wird für Sommer 2010 erwartet. Trotz Entscheidung des BVerfG sehen sich das BMI und das BAMF bis heute nicht zu einer Änderung ihrer Haltung veranlasst und ordnen weiter Überstellungen an. Faktisch bedeutet dies, dass Flüchtlinge nur dann nicht nach Griechenland überstellt werden, wenn anwaltlicher Beistand im Verfahren ist.

Ausblick

Derzeit kann man nicht davon ausgehen, dass Asylsuchende überall in der EU ein faires und effizientes Asylverfahren entsprechend internationalen Mindeststandards erhalten können. Schon die erste Harmonisierungsphase ist weitgehend gescheitert. Die EU–Mitgliedstaaten haben Richtlinien beschlossen, die zwar teilweise hohe Schutzstandards definieren und Rechte von Flüchtlinge benennen, in der Regel aber so auslegungsfähig sind, dass jeder Staat seine restriktive Praxis beibehalten kann. Die Dublin II– Verordnung verlagert die Verantwortlichkeit für Flüchtlinge einseitig auf die Mitgliedsstaaten an den Außengrenzen, was dazu führt, dass auch diese versuchen mit allen Mitteln den Flüchtlingsschutz auszulagern. Eine Änderung dieser Praxis ist in naher Zukunft nicht zu erwarten, was auch für die völkerrechtswidrigen und lebensgefährdenden Zurückweisungen auf hoher See gilt. Es ist in Bezug auf Europa daher weiter von einer »Festung« zur Flüchtlingsabwehr zu sprechen. Zwar wird diese Formulierung von der kritischen Migrationsforschung inzwischen hinterfragt. Die europäische Migrationspolitik würde auf diese Weise zu eindimensional beschrieben und der »Autonomie der Migration« nicht Rechnung getragen werden. Die Betroffenen würden vielmehr zum Objekt eines angeblich omnipotenten Staatsverbandes degradiert. (15) Zwar ist unbestritten, dass die Migrationspolitik ebenso wie die Flüchtlingspolitik Europas nicht die Macht hat, jede Form von Migration und Flucht unterbinden können. Dennoch erscheint diese Formulierung angemessen. Die europäische Migrationspolitik ist getrennt von der Flüchtlingspolitik Europas zu untersuchen und Flüchtlinge haben tatsächlich nur unter der Inkaufnahme höchster Gefahr die Möglichkeit nach Europa zu gelangen. Das Asylsystem belegt die Ambivalenz des europäischen Rechtssetzungsprozesses. Einerseits in Form von fortschrittlichen Rechtsakten, wie etwa der materiell–rechtlichen Ausweitung des Flüchtlingsschutzes, die sich positiv auf die Rechtslage in Deutschland auswirken. Andererseits wird ein spezifisches Vorenthaltungsrecht, ein Recht der Abschottung generiert. Die Europäische Kommission spielt zwei sehr unterschiedliche Rollen, in dem sie die Mitgliedstaaten zwar zur vollen Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention bringen will, andererseits die äußere Grenzsicherung und Abschiebepolitik der Mitgliedsstaaten teilweise vorantreibt oder aber zumindest begleitet. Dringend erforderlich ist, dass Europa einen effektiven Zugang zum Asylverfahren gewährleistet. Ein – wenn auch vor allem theoretischer – Weg hierzu wäre die Erteilung von Visa an Flüchtlinge in den Botschaften und die Neuansiedlung von Flüchtlingen aus Erstzufluchtsstaaten, das sog. Resettlement. Flüchtlinge sind auf hoher See zu retten und ihre Boote nicht länger völkerrechtswidrig zur Umkehr zu zwingen. Europa hat in den letzten Jahren für immer mehr Länder die Visumspflicht eingeführt, was eine für Flüchtlinge in der Regel nicht zu überwindende Hürde darstellt. Diese Politik muss ebenfalls zurückgenommen werden.

Berenice Böhlo ist Rechtsanwältin in Berlin, Mitglied im Vorstand des RAV und vertritt den RAV in der ständigen Arbeitsgruppe Foreigners’ Rights der Europäischen Demokratischen Anwälte (EDA).

Fußnoten

1 www.fr–online.de/in_und_ausland/politik/aktuell/1796798_
Interview–mit–Schwedens–Migrationsminister–
Asyl–Lotterie–gehoert–abgeschafft.html

2 Tampere Europäischer Rat, 15./16.10.1999, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Nr. 4, www.europarl.europa.eu/summits/tam_de.htm.

3 europa.eu/legislation_summaries/human_rights/
fundamental_rights_within_european_union/l16002_de.htm

4 eur–lex.europa.eu/smartapi/cgi/sga_doc?
smartapi!celexplus!prod!
DocNumber&lg=de&type_doc=COMfinal&an_
doc=2007&nu_doc=301;
www.emhosting.de/kunden/fluechtlingsrat–nrw.de
/system/upload/download_1770.pdf

5 europa.eu/legislation_summaries/
justice_freedom_security/
free_movement_of_persons_asylum_immigration/
jl0002_de.htm (KOM(2008) 360

6 KOM (2008) 69

7 ec.europa.eu/justice_home/news/intro/
doc/doc_13440_08_en.pdf (Pakt)

8 www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?
pubRef=–//EP//TEXT+TA+P6–TA–2009–0379+0+DOC+XML+V0//
DE,KOM(2009)
0066 – C6–0071/2009 – 2009/0027(COD))

9 593 Abgeordnete stimmten für den Bericht, 65 dagegen, 18 enthielten sich der Stimme, www.europarl.europa.eu/
news/expert/infopress_page/022–51322–068–03–11–
902–20090309IPR51321–09–03–2009–2009–false/
default_de.htm

10 europa.eu/
rapid/pressReleasesAction.do?reference=
IP/09/1552&format=
HTML&aged=0&language=DE&guiLangua
ge=en

11 europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=I
P/09/1552&format=HTML&aged=0&language=DE&guiLanguage=en

12 zu finden auf: www.statewatch.org/future–group.htm

13 Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14.05.1996 (2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – BVerfGE 94, 49)

14 BVerfG, Beschluss vom 11. August 2009, 2 BvR 56/09

15 Bojadzijev, Manuela/ Karakayali, Serhat, Autonomie der Migration – 10 Thesen zu einer Methode, S.203 in: TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe (Hrsg) Turbulente Ränder – Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, 2. Aufl. transcript Verlag, Bielefeld 2007, 252 S