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Was geht – Was geht nicht?

Möglichkeiten und Grenzen der rechtlichen Kritik am präventiven Sicherheitsstaat

Carsten Gericke

 
Der zu Beginn des Jahres 2009 erschienene Sammelband »Kontrollverluste «, herausgegeben von der Gruppe Leipziger Kamera - Initiative gegen Überwachung, enthält 33 Beiträge, die sich kritisch mit den ausufernden Kontrollpraktiken durch Staat und Wirtschaft auseinandersetzen. Das Themenspektrum reicht von theoretischen Texten zur stetigen Entwicklung in Richtung Sicherheitsstaat (Tobias Singelnstein/Peer Stolle), dem sich wandelnden Verhältnis von Prävention und Repression (Peter Ullrich) und den damit einher gehenden Herrschaftslogiken (Andreas Fisahn) über die - einmal mehr - gestellte mehr - Frage »Sind wir alle § 129a?« (Gruppe Fels, Andrej Holm, Anne Roth, Critical Art Ensemble) bis zur Kritik an der »Europäischen Sicherheitsarchitektur« (Gipfelsoli/Prozessbeobachtungsgruppe Rostock/ MediaG8Way) und der Grenzschutzagentur Frontex (Ulla Jelpke). Zudem stellen zahlreiche Gruppen, die in den vergangenen Jahren in die Auseinandersetzung eingegriffen haben, ihre Ansätze und Praktiken zur Diskussion (u.a. Gruppe Ligna, Surveillance Camera Players).

Die Stärke dieses Sammelbands markiert zugleich ein zentrales Manko: »Kontrollverluste « bietet einen guten Überblick über aktuelle Diskussionen und Positionen. Angesichts der Vielzahl kurzer Beiträge bleiben allerdings zahlreiche bedeutsame Aspekte vernachlässigt oder fragmentarisch. Dies gilt etwa für die Bedeutung europäischer Rechtssetzungsprozesse bei der Ausweitung von Überwachungs- und Kontrollpraktiken. Ob Vorratsdatenspeicherung, Visa-Warn-Datei, sog. Nacktscanner oder biometrische Pässe: Zentrale Verschärfungen verdanken ihre Realisierung den übergreifenden politischen Prozessen in der EU sowie internationalen Kooperationen. Für einen Sammelband zur Kritik an der Überwachungsgesellschaft wäre es daher gewinnbringend gewesen, die Entwicklungen von »Überwachung und Repression « und den Ausbau präventiv ausgerichteter Kontrollpraktiken stärker an die voranschreitende Europäisierung zu binden.

Kritik an der Kritik

Einen thematischen Schwerpunkt des Bandes bilden mehrere Artikel, die die vorherrschende Kritik an den Überwachungspraxen unter die Lupe nehmen. Unter dem Titel »Die Gerichte werden uns nicht befreien. Die Vorratsdatenspeicherung vor Gericht« moniert Elke Steven, dass die Mehrheit der etwa 30.000 Beschwerdeführer im Rahmen der Massenverfassungsbeschwerde im Jahr 2008 keine grundlegende Kritik an den derzeitigen Entwicklungen hin zu einem präventiven Sicherheitsstaat vorgetragen habe. »Angeklagt wird die fehlende rechtsstaatliche Grundlage. Der Erforderlichkeitsgrundsatz werde missachtet und der Nutzen sei fragwürdig«. Hierbei handele es sich jedoch nur um »immanente Argumentationen, die weder nach dem Verhältnis des Staates zum vorgegebenen Ziel fragen, noch die gesellschaftlichen Machtverhältnisse infrage stellen. »Argumente zur Rechtsstaatlichkeit versuchen zwar, staatliches Handeln zu begrenzen und die BürgerInnen vor Willkür und unbegrenzten Eingriffsbefugnissen zu schützen. Sie bleiben jedoch formal und vollziehen letztlich den schleichenden Bedeutungswandel mit«. Um diesem Bedeutungswandel etwas entgegenzusetzen, müsse man, so Steven, »die Entwicklung insgesamt in den Blick nehmen« und die Begründungen der Notwendigkeiten für Maßnahmen der inneren Sicherheit selbst angreifen.

In die gleiche Kerbe schlägt Ron Steinkes Polemik »Radikal wie Karlsruhe«, in der er einen »Konformismus der deutschen Bürgerrechtsbewegung « beklagt. In dem Bemühen, das Bundesverfassungsgericht für sich einzunehmen, würden nicht wenige KritikerInnen vorrangig mit Stichworten aus Karlsruhe argumentieren. Die Diskussion um die Einführung neuer Überwachungsmaßnahmen wie etwa der Online-Durchsuchung fokussiere deshalb vornehmlich auf »verfassungsrechtliche Knackpunkte« und rechtliche Einwände anstatt auf den »politischen Gehalt der Entwicklung «. In Folge dessen gäbe das Bundesverfassungsgericht die Kritik vor: Zugleich würden »liberal-rechtsstaatlich argumentierende BürgerrechtlerInnen sich weniger für eine grundsätzliche Zurückdrängung des Staates engagieren als vielmehr für die Stärkung der Dritten Gewalt im Staate gegenüber der zweiten«. Ein großer Teil der Empörung bestehe oft darin, dass die ›Exekutive‹ es an Respekt vor Gerichtsurteilen mangeln lasse: »Bundverfassungsgericht gut, Politik böse« (Steinke). Dies führe zu einer Hilflosigkeit, wenn das Bundesverfassungsgericht schließlich kritisierte Grundrechtseingriffe billige. AktivistInnen sollten nach Auffassung von Steinke »statt sich mit liberalen Ex-Innenministern oder staatlichen Datenschützern in die Arme zu fallen, erkennen, wie wenig dieses Bündnis im Bereich staatlicher Überwachung gebracht hat, wie dominierend es aber gleichzeitig im Diskurs geworden ist«.

In die gleiche Richtung weist schließlich auch der Beitrag von Ulf Treger: »Das Monster beschwören. Problemstellen der derzeitigen Überwachungskritik.« Zu Recht weist er darauf hin, dass die Urteile des BVerfG weder die verhandelten Sicherheitsgesetze entscheidend in Frage gestellt haben, noch zwingende Auswirkungen auf kommende Kontrollexzesse zeitigen. Zutreffend benennt Treger damit die Funktion des BVerfG, eben nicht zentrale politische Weichenstellungen vorzunehmen, sondern vielmehr nur Übertreibungen der Politik zu nivellieren. Daraus folgert Treger, dass Kampagnen, die staatliche Institutionen durch Unterschriftenkampagnen und Sammelklagen zur Besinnung bringen wollen, nicht nur einen begrenzten, sondern schlechterdings einen kontraproduktiven Nutzen haben. »In diesen Beschwörungen steckt das Potenzial, kritische und der Komplexität des Themas angemessene Debatten zu verhindern«.

Die drei Beiträge von Steven, Steinke und Treger üben eine berechtigte Kritik und vermögen hoffentlich, für diese Problematik zu sensibilisieren. Sie verharren jedoch in nahezu identischer Manier auf der Ebene der Appellation. Die Chance, hier konkretere Fragestellungen, Perspektiven oder Anregungen für zukünftige »Bürgerrechtspolitik« aufzuwerfen, wird damit vertan.

Mit der Kritik an der inhaltlichen Stoßrichtung überwachungskritischer Initiativen vermengen die AutorInnen zugleich Stellungnahmen zum Verhältnis von Recht und Politik, der Rolle des Bundesverfassungsgerichts, den vermeintlichen oder tatsächlichen Erwartungen an die jüngeren Beschwerdeverfahren sowie deren mediale Rezeption. Für eine weiterführende Auseinandersetzung wäre es notwendig gewesen, diese unterschiedlichen Problemkreise deutlicher zu trennen und jeweils genauer zu analysieren. So dürfte weitgehend unstrittig sein, dass das emanzipatorische Potential von Kampagnen oder Initiativen, die sich darauf beschränken, ihre Forderungen und Visionen aus den Leitsätzen der Verfassungsgerichtsentscheidungen zu entwickeln, erheblich eingeschränkt ist. Da sich diese Kritik aber vornehmlich an den Initiativen gegen die Online-Durchsuchung und die Vorratsdatenspeicherung festmacht, wäre es nahe liegend, die in diesem Zusammenhang entstandenen Publikationen und Stellungnahmen auf die Forderungen, Strategien und Argumentationen zu untersuchen, anstatt sich, wie Steinke, in einer Pauschalkritik über die vermeintliche »Liebe von BürgerrechtlerInnen zum Bundesverfassungsgericht« zu verlieren, die nur sich mit Innenministern darüber streiten würden, wer wie »wahren VerfassungspatriotInnen « seien.

Auch wird in der Tat wohl kaum jemand ernsthaft erwarten, das Bundesverfassungsgericht werde »uns« - wovon auch immer - »befreien«, geschweige denn ex cathedra die staatlichen Überwachungsexzesse beenden. Hieraus allerdings abzuleiten, dass Gerichtsverfahren per se ungeeignet seien, um derartige Missstände anzugreifen, erscheint kurzschlüssig und verkennt ihr Potential für eine emanzipatorische Rechtspolitik. Möglicherweise müssen allerdings sowohl die politischen Bewegungen wie auch die mit ihnen assoziierten Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte Funktionsweisen von Recht und seinem Verhältnis zu Politik und Staat und Politik ebenso neu überdenken (vgl. hierzu Sonja Buckel, »Zwischen Schutz und Maskerade - Kritik(en) des Rechts« in diesem Heft) wie die Chancen und Risiken, die mit Gerichtsverfahren und Verfassungsbeschwerden im Kontext gesellschaftlicher Auseinandersetzungen verbunden sein können.

Gerichte als »Foren des Protests«

Wertvolle Anregungen für diese - dringend notwendige - Auseinandersetzung lassen sich der US-amerikanischen Diskussion entnehmen, trotz des unterschiedlichen und generell offeneren Rechtssystems. Hier ist das Verhältnis von Recht, Gerichtsverfahren und politischen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit sozialen Bewegungen bereits seit längerem ein Thema der Sozial- und Rechtswissenschaften. Einer der zentralen und lesenwerten Ansätze stammt von Jules Lobel, Rechtsprofessor an der Universität Pittsburgh (Jules Lobel, Courts as Forums for Protest, März/2004, bepress Legal Series. Working Paper 213. law.bepress.com expresso/eps/213). Lobel unterscheidet drei Modelle gerichtlicher Verfahren: Das traditionelle Modell sieht die Rolle der Gerichte darin, Streitigkeiten über Einzelinteressen von Privatpersonen zu entscheiden. Im Zuge der Reformbewegungen der 1960er und -70er Jahre habe sich dieses Verständnis von Gerichtsverhandlungen gewandelt. Fortan seien sie nicht mehr nur als Forum für private Auseinandersetzungen, sondern auch als Instrument sozialer Veränderungen angesehen worden (public law litigation). Dieses neue Verständnis rechtlicher Verfahren hob die Möglichkeit der Gerichte hervor, strukturell bedingten Rechtsverletzungen oder verfassungswidrige Rechtsentwicklungen entgegen zu wirken.

Im Zuge der Auseinandersetzungen um diese beiden Modelle, die sich im Ergebnis für politische Bewegungen in den USA vielfach als ineffektiv, wenn nicht sogar kontraproduktiv erwiesen hatten, sei - so Lobel - ein drittes Modell vernachlässigt worden: Die Gerichtsverhandlungen könnten auch ein »Forum für gesellschaftliche Proteste« darstellen. Folgt man diesem Ansatz, geht es vor Gericht weder ausschließlich darum, private Streitigkeiten zu lösen, noch Gerichtsentscheidungen zum zentralen Motor für gesellschaftliche Veränderungen zu stilisieren. Vielmehr müsse man die Verfahren vorrangig als eine Arena sehen, in der politische oder soziale Bewegungen hervorragend für ihre politischen und rechtlichen Ziele werben könnten. Mit dieser Herangehensweise verändern sich allerdings die Ziele im Gerichtssaal. Obgleich die KlägerInnen und ihre AnwältInnen selbstverständlich auf einen Sieg hinarbeiten, steht der juristische Erfolg nicht im Vordergrund. Das vordringliche Ziel besteht vielmehr darin, die Mittel des Rechts zu nutzen, um die Öffentlichkeit über Missstände zu informieren, politische Bewegungen zu unterstützen und zu vergrößern. Die rechtliche Auseinandersetzung wird als Teil einer weitergehenden Kampagne verstanden, ohne daran die Erwartung zu knüpfen, dass auf diesem Weg reale Veränderungen erreicht werden können und müssen. Beispiele für diesen Ansatz findet Lobel nicht nur in den Kämpfen der US-Bürgerrechtsbewegung und der Arbeiterbewegung, sondern auch in den seit 2002 andauernden Initiativen des Center for Constitutional Rights (CCR) gegen eine vermeintliche Rechtlosigkeit der Gefangenen in Guantanamo.

Um dieses Modell sinnvoll zu nutzen, muss man allerdings ein neues Verständnis von Gerichtsentscheidungen und der Rolle der Richterinnen und Richter entwickeln. So kann selbst eine Niederlage im Gerichtssaal zum Erfolg werden, wenn es gelingt, im Zuge des Verfahrens die öffentliche Diskussion zu beeinflussen. Im besten Fall stellt eine juristische Niederlage nur einen Zwischenschritt in einer auch nach dem Ende des Gerichtsverfahrens fortgeführten Kampagne dar. Das letzte Wort eines Gerichtsverfahrens mag das Gericht haben, das letzte Wort einer politischen Kampagne ist damit jedoch nicht gesprochen, es gebührt und verbleibt bei den politischen Bewegungen. Wenn man dies als Prämisse zugrunde legt, verändert sich auch der Blick auf die Rolle der Richterinnen und Richter bei der Herstellung von Recht. Wer sein Schicksal, das Verständnis über seine Rechte oder seine freiheitlichen Ideen an eine Klage oder eine Verfassungsbeschwerde knüpft und diese damit in die Hände einiger weniger VerfassungsrichterInnen legt, die nur die richtige Entscheidung finden müssten, verfehlt den politischen Gehalt der Verfahren. In dem »Forum- Modell« stehen weder die Richterinnen und Richter noch ihre Entscheidungen oder inhaltlichen Begründungen im Mittelpunkt. Zwar sind diese mit erheblicher Autorität auch im politischen Diskurs ausgestattet; diese relativiert sich aber, wenn sie von den Klägern nicht als solche angerufen werden, sondern der politische Charakter der Herstellung von Gerichtsentscheidungen betont wird.

Das von Lobel vorgeschlagene erweiterte Verständnis von gerichtlichen Verfahren auch für die deutsche Diskussion in Betracht zu ziehen könnte nicht nur dabei helfen, die strukturellen Grenzen der bisherigen Bürgerrechtspolitik und der Verfassungsbeschwerden gegen die Online-Durchsuchung und vergleichbare Verfahren besser zu verstehen, sondern zugleich wichtige Impulse für zukünftige emanzipatorische Rechtspraxen geben.

 

Kontrollverluste. Interventionen gegen Überwachung, Leipziger Kamera Initiative gegen Überwachung (Hrsg.),
Unrast-Verlag, Münster, 2009, 256 Seiten, 18 Euro

 

Carsten Gericke ist Rechtsanwalt in Hamburg und Geschäftsführer des RAV.