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Merkblatt für Opfer rechtswidriger Polizeigewalt

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Amnesty International – Sektionskoordinationsgruppe Polizei

Sie sind Opfer einer Misshandlung durch Polizeibeamte oder eines polizeilichen Übergriffes geworden? Was können Sie tun, was sollten Sie tun?

1. Ganz wichtig: Sofort alles aufschreiben!

Schreiben Sie sich alles auf, was mit dem Vorfall zusammenhängt: Wann und wo geschah der Vorfall? Wie kam es dazu? Was haben Sie zu diesem Zeitpunkt gemacht? Was genau wurde mit Ihnen gemacht? Welche Folgen hatte das polizeiliche Handeln? Wenn Sie inhaftiert wurden, notieren Sie sich den Ort der Dienststelle (Wache). Notieren Sie sich auch den Grund für die Anordnung der Gewahrsamnahme und die Dauer des Gewahrsams. Notieren Sie, ob ein Richter eingeschaltet wurde und welche Gründe es für Ihre Entlassung angegeben wurden. Erhielten Sie Gelegenheit Ihre Angehörigen zu benachrichtigen, wurde Ihnen Gelegenheit gegeben, einen Anwalt zu kontaktieren und wurden Sie medizinisch versorgt?

Notieren Sie Namen und Anschriften, Telefonnummern von Personen, die das Geschehen gesehen haben oder haben könnten (Zeugen). Machen Sie möglichst genaue Angaben zu den handelnden Polizeibeamten und ihren Handlungen und Anweisungen. Schreiben Sie die Namen der Polizeibeamten auf, die beteiligt waren und wenn sie es erfahren können, auf welchen Dienststellen sie Dienst verrichten. Notieren Sie auch die Namen anderer Beteiligter, wie z.B. Notarzt oder Sanitäter. Wenn Sie die Namen der Polizeibeamten nicht erfahren können, notieren Sie Details, die der Identifizierung der Polizeibeamten dienen könnten: Was fiel Ihnen an den Polizeibeamten auf? Uniform, Einsatzanzug, Zivil? Farbe der Uniform? Landeswappen oder Kennnummern auf der Uniform? Welche und wie viele »Sterne« oder »Streifen« waren auf den Schulterstücken - es gibt grüne, silberne und goldene und es können jeweils zwischen einem und vier sein. Beschreibung Sie alle erinnerten Details zu den Polizeibeamten, wie Größe, Aussehen, Kleidung, Haltung, Sprache, Alter, gesprochene Anweisungen oder sonstigen Formulierungen.

Ansatzpunkte zur Identifizierung können auch mitgeführte Fahrzeuge der Polizei sein. Notieren Sie deshalb auch die Kennzeichen der Einsatzfahrzeuge. Können Sie die Kennzeichen nicht mehr erinnern, notieren Sie, welche Art von Fahrzeug genutzt wurde (Bus, Funkstreifenwagen, Zivilwagen) und gegenbenenfalls welche Farbe es hatte? Auch die Anzahl der Polizeibeamten ist von Interesse? Haben die Polizeibeamten während des Vorfalls über Funk mit der Zentrale Kontakt aufgenommen? Wenn ja, was wurde besprochen?

2. Ärztlich Attest?

Wenn Sie verletzt wurden, gehen Sie sofort zu einem Arzt (am besten zu Ihrem Hausarzt, notfalls auch ins Krankenhaus) und berichten Sie dem Arzt von dem Vorfall. Lassen Sie sich eine Bescheinigung (ein »Attest«) über Ihre Verletzungen geben. Wenn möglich, lassen Sie Fotografien vom Arzt oder einem Anwalt anfertigen. Keine Digitalfotos verwenden, da der Vorwurf der Manipulation entstehen könnte. Per Maßband etc. sollte die Größe der Verletzung(en) dokumentiert sein und der Arzt sollte aufgefordert werden zu notieren, ob die Verletzungen von dem geschilderten Vorfall herrühren können.

3. Strafanzeige gegen Sie?

Wurde gegen Sie im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit den Polizeibeamten eine Anzeige erstattet oder wurde diese angedroht? Wenn ja, ist von Interesse weshalb (Widerstand, Körperverletzung, Beleidigung). Jeder Vorgang erhält bei der Staatsanwaltschaft und der Polizei ein Aktenzeichen. Die Aktenzeichen sind jeweils unterschiedlich. Registriert wird auch das jeweilige Eingangsdatum der Strafanzeige. Wurde gegen Sie eine Strafanzeige erstattet oder haben Sie selbst eine Strafanzeige gestellt (siehe Ziff. 4), sollten Sie das Aktenzeichen kennen? Wenn nicht: Versuchen Sie die Aktenzeichen bei der für den Vorfall zuständigen Staatsanwaltschaft oder Polizeidienstelle zu erfragen. Für den Rechtsanwalt ist das Aktenzeichen der Staatsanwaltschaft wichtig. Wurden Sie im Zusammenhang mit ihrer Inhaftierung über den Grund der Inhaftierung informiert und über ihre Rechte belehrt (Benachrichtigung der Angehörigen, Aussageverweigerungsrecht, Hinzuziehung eines Anwaltes, medizinische Versorgung). Auch vor Ihrer ersten Vernehmung müssen Sie ausführlich über Ihr Aussageverweigerungsrecht belehrt worden sein. Als eine beschuldigte Person müssen Sie nur Ihre Personalien angeben - sonst nichts!

4. Strafanzeige gegen die Beamten?

Bevor Sie selbst Anzeige erstatten: Dies sollte gut überlegt sein, vor allem, wenn (noch) keine Anzeige gegen Sie erstattet wurde und es sich um einen eher leichten Übergriff ohne (nachweisbare) Folgen gehandelt hat. Sie haben zwar das Recht, eine solche Anzeige zu erstatten; oftmals reagieren die Polizeibeamten aber auf Ihre Anzeige mit einer Gegenanzeige, die sie ansonsten vielleicht unterlassen hätten. Im Zweifel also einen Anwalt fragen (s. a. Ziff. 5) Wenn Sie eine Anzeige erstatten wollen, tun Sie das nach Möglichkeit nicht bei einer Polizeidienststelle. Sie sollten die Anzeige schriftlich an die zuständige Staatsanwaltschaft senden (Adresse im Telefonbuch oder beim nächsten Amtsgericht erfragen) und dabei ihre Personalien und telefonische Erreichbarkeit angeben. Die Strafanzeige selbst ist an keine Form gebunden. Eine ausführliche Sachverhaltsdarstellung ist ausreichend. Sie müssen keinen Beweis für die Richtigkeit Ihrer Darstellung liefern. Ihre Aussage ist Beweis. Zur Beurteilung der Sache wird die Staatsanwaltschaft als »Herrin des Ermittlungsverfahrens« eigene, weitere Ermittlungen durchführen lassen. Fügen Sie der Strafanzeige ggf. eine Kopie des Attestes bei und wenn Sie können, benennen Sie in der Strafanzeige mögliche Zeugen des Vorfalls. Zeugen sind vor Gericht zur wahrheitsgemäßen Auskunft verpflichtet. Zeugen können auch Polizeibeamte sein, die am Einsatzort waren, aber nicht direkt gehandelt haben.

5. Anwalt einschalten?

Überlegen Sie, ob Sie einen Rechtsanwalt einschalten. Namen und Adressen von Anwälten, die sich auf solche Verfahren spezialisiert haben, erhalten Sie über die Deutsche Anwaltsauskunft (Tel. 01805-181805) oder im Internet. Informationen über eingerichtete Anwalts-Notdienste können Sie auch über den Republikanischen Anwaltsverein, Berlin erhalten, Erreichbarkeit über: www.rav.de; Email: kontakt@rav.de

Bitte fragen Sie nach Anwälten, die sich auf Strafrecht und/oder Verwaltungsrecht spezialisiert haben und bei dem für Sie zuständigen Landgericht zugelassen sind. Die Kosten für den Anwalt müssen Sie meist erst einmal selbst tragen, ggf. kann Beratungs- und später Prozesskostenhilfe beantragt werden, wenn Sie nicht über die notwendigen finanziellen Mittel verfügen. Den Antrag auf Beratungshilfe können Sie beim zuständigen Amtsgericht oder auch beim Anwalt selbst stellen (dies ist aber in den Bundesländern unterschiedlich geregelt!). Nähere Informationen dazu finden Sie in einem Ratgeber des Justizministeriums NRW, der ebenfalls über das Internet abrufbar ist. Wenn es zu einer Verurteilung des oder der Beamten kommt, können Sie ggf. versuchen, diese Kosten (zivilrechtlich) zurückzufordern. Übrigens: Rechtsschutzversicherungen zahlen in der Regel nicht, wenn gegen Sie selbst der Vorwurf eines »Vorsatzdeliktes« - z. B. »Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte« oder »Körperverletzung« im Raum steht.

6. Haben Sie eine Vorladung zur Polizei erhalten?

Wenn Sie aufgrund einer Beschuldigung von der Polizei vorgeladen werden, müssen Sie einer solchen Vorladung nicht folgen. Nur eine Vorladung vom Gericht oder von der Staatsanwaltschaft beinhaltet eine Erscheinungspflicht. Allerdings kann es sinnvoll sein, der Vorladung der Polizei zu folgen, um den Tatvorwurf frühzeitig konkret zu erfahren. Die Polizei muss Ihnen vor der Vernehmung den konkreten Tatvorwurf benennen. Sie können übrigens verlangen, dass die Polizei zu ihren Gunsten entlastende Ermittlungen vornimmt. Wenn Sie der Vorladung folgen, müssen die Fragen der Polizei nicht beantworten. Über ihr Aussageverweigerungsrecht müssen Sie vor der ersten Vernehmung belehrt werden. Sie sind allerdings verpflichtet, verpflichtet, Ihren Namen, Geburtsdaten und Ihre Adresse anzugeben. Wenn Sie als Zeuge von der Polizei vorgeladen werden, haben Sie zwar auch keine Erscheinungspflicht, aber ihr Erscheinen kann durch das Gericht oder die Staatsanwaltschaft angeordnet werden. Sie müssen der Vorladung dann folgen. Zudem haben Sie nur eingeschränkte Aussageverweigerungsrechte, nämlich immer nur dann, wenn Sie sich durch Ihre Aussage sich selbst oder Verwandte belasten würden.

7. Dienstaufsichtsbeschwerde?

Neben einer Strafanzeige können Sie auch eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Polizeibeamten einreichen. Bestimmte Abteilungen in der Polizei (die nicht identisch sind mit den Beamten, denen ein Verstoß vorgeworfen wird) haben die Dienstaufsichtsbeschwerde zu prüfen. Beinhaltet die Dienstaufsichtsbeschwerde strafrechtliches Fehlverhalten der Polizeibeamten und ist gegen diese noch kein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden, so führt die Dienstaufsichtsbeschwerde zwingend zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen die Polizeibeamten. Beinhaltet die Dienstaufsichtsbeschwerde zwar ein Fehlverhalten der Polizeibeamten, aber kein strafrechtlich relevantes Verhalten, können disziplinarrechtliche Untersuchungen und Maßnahmen eingeleitet gegen die Polizeibeamten eingeleitet werden. Die Dienstaufsichtsbeschwerde ist an den Dienstvorgesetzten zu richten, d.h. im Zweifel an den Polizeipräsidenten. Einer Dienstaufsichtsbeschwerde muss immer nachgegangen werden. Sie haben ein Recht auf die Bearbeitung ihrer Beschwerde. Sollten Sie parallel eine Strafanzeige erstattet haben, dann weisen Sie in ihrer Dienstaufsichtsbeschwerde darauf hin, ggf. unter Angabe des Aktenzeichens. Ist im Zusammenhang mit der Dienstaufsichtsbeschwerde ein Strafverfahren gegen einen Polizeibeamten oder gegen Sie anhängig, wird die Polizeibehörde erst einmal das Ergebnis des eingeleiteten Strafverfahrens abwarten, bevor Sie über die Dienstaufsichtsbeschwerde entscheidet. Der Ausgang der aufgrund ihrer Dienstaufsichtsbeschwerde eingeleiteten Untersuchungen ist Ihnen - allerdings ohne nähere Begründung - mitzuteilen.

8. Informationen an amnesty international?

Sie können auch Amnesty international über den Vorfall informieren (unabhängig davon, ob Sie eine Strafanzeige erstattet haben oder nicht). Das ist per Email, Brief oder Telefon möglich. Wir werden uns mit Ihnen in Verbindung setzen und den Eingang Ihrer Informationen bestätigen. Bitte wenden Sie sich an:

Amnesty International
Sektionskoordinationsgruppe Polizei
Greifswalder Straße 4
10405 Berlin
Email: info@amnesty-polizei.de
Tel.: 0170 4726033

Vermerken Sie auch in Ihrer Strafanzeige und in Ihrer Dienstaufsichtsbeschwerde, dass Sie Amnesty international über den Vorfall informiert haben. Informieren Sie uns über den späteren Ausgang des Verfahrens.

9. Was machen wir, was amnesty mit Ihren Informationen?

Amnesty Mitglieder in Deutschland werden grundsätzlich nicht selbst aktiv, um einen Fall in Deutschland zu recherchieren und zu betreuen. Hintergrund dieser Politik ist die Tatsache, dass der weltweit geltende Grundsatz von Amnesty international »Keine Arbeit zum eigenen Land« für viele Amnesty Mitglieder in einem Land mit einem totalitären Regime wichtigen Schutz bedeutet. Für jeden Grundsatz gibt es eine Ausnahme. Einzelne Fälle gravierender polizeilicher Übergriffe werden von einer Fachkommission der deutschen Sektion recherchiert. Die Ergebnisse der genauen Untersuchung eines polizeilichen Übergriffes können Eingang in öffentliche Berichte von Amnesty international nehmen. Die exemplarische, öffentliche Darstellung hilft, unseren Forderungen zur Minimierung ungesetzlicher Polizeigewalt Nachdruck zu verleihen. Diese Einzelfallrecherche und damit verbundene Öffentlichkeitsarbeit findet nur in direkter Absprache und mit Einverständnis des Betroffenen statt. Nur in diesen Ausnahmefällen werden Amnesty Mitglieder bei den verantwortlichen Behörden und Regierungsstellen nachfragen und die für die Misshandlungen verantwortlichen Beamten und Dienststellen auffordern, Stellung zu nehmen und die Rechtmäßigkeit des Handelns darzulegen. Zeugenbefragungen, das Anfordern von ärztlichen Attesten über Verletzungen der Opfer oder auch das Verfolgen von Gerichtsverfahren gegen die polizeilichen Täter können die Folge sein. Unabhängig von der Einzelfallrecherche bleiben wir darüber hinaus nicht untätig, wenn wir Hinweise über Menschenrechtsverletzungen erhalten. Wir sammeln und dokumentieren Informationen über ungesetzliche Polizeigewalt in Deutschland, um einen Überblick über das Ausmaß polizeilicher Übergriffe in der Bundesrepublik zu erhalten. Wir hoffen zudem, anhand der anonymisierten Dokumentation bestimmte Muster von Menschenrechtsverletzungen erkennen zu können. Beides hilft uns in der politischen Auseinandersetzung zur Umsetzung unserer Forderungen, z. B. der Einrichtung eines unabhängigen Untersuchungs- oder Beschwerdemechanismus bei polizeilichen Übergriffen. In jedem Fall werden Ihre Hinweise also ernst genommen und weiter verfolgt.

10. Persönliche Beratung?

Ein persönliches Beratungsgespräch von Amnesty Mitgliedern können Sie nur von Mitgliedern der Amnesty-Sektionskoordinationsgruppe Polizei erhalten. Mitglieder dieser Gruppe sind häufig selbst Polizeibeamte, die sich aktiv gegen Misshandlungen durch Polizeibeamte engagieren und deshalb besonders kompetenten Rat geben können. Wenn Sie ein persönliches Gespräch mit einem Mitglied dieser Gruppe führen möchten, nutzen Sie die oben angeführten Kontaktmöglichkeiten. Wenn Sie weitergehende persönliche und/ oder psychologische Beratung benötigen, stehen in allen größeren Städten entsprechende Hilfsorganisationen zur Verfügung. Finden Sie keine Organisation, die sich speziell mit rechtswidriger Polizeigewalt beschäftigt, können Sie sich z. B. auch an die die Caritas, das Diakonische Werk oder andere soziale Organisationen wenden. Auch auf der Homepage Ihrer Heimatstadt oder Ihrer Gemeinde finden Sie oftmals entsprechende Hinweise auf Beratungsstellen.