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Spitze Feder: Angst siedelt im Bauch

Thomas Uwer

„Du Scheiß Deutscher!“ Das soll einer der Schläger gesagt haben, die in der Münchener U-Bahn einen Mann zusammentraten. So zumindest war es zu lesen. Kaum, dass die Geschichte gedruckt war, trat auch Roland Koch zu. Eine „härtere Gangart“ müsse her, „Erziehungscamps“ für jugendliche Straftäter, „Warnschussarrest“, Anhebung der Höchststrafe, Abschiebung. Koch ist Hessischer Ministerpräsident und Spitzenkandidat einer abgerockerten Partei, die er damit durch den nächsten Landtagswahlkampf retten wollte.
Die Reaktionen kamen prompt und wie erwartet. Kochs Forderungen seien „reiner Populismus“ hieß es sofort, wie immer, wenn „mehr Härte“ gefordert wird. Was in solchen Fällen ebenfalls immer geschieht, konnte man bereits wenige Tage danach beobachten. Binnen Wochenfrist hatten die meisten Kritiker Kochs Forderungen im Kern übernommen und den Unterschied zum Original auf eine Frage der Semantik reduziert. Lange bevor Roland Koch eine Anhebung der Höchststrafe im Jugendstrafrecht von zehn auf 15 Jahre forderte, hatte das Bundesjustizministerium unter der Führung der Sozialdemokratin Brigitte Zypries bereits einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Einführung der Sicherungsverwahrung für Jugendliche plant und damit die härteste, sogenannte zweite Sanktionenschiene, auch für jene vorsieht, denen gegenüber der Staat nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in einer besonderen Verantwortung steht, Resozialisierung und Integration zu gewährleisten. Seit Jahren werden ausländische Straftäter abgeschoben, ganz gleich, ob sie aus einem unionsregierten Bundesland kommen oder einem mit rot-grüner oder rot-roter Regierung. Dass sie zuvor ihre Gefängnisstrafe absitzen müssen, ist parteiübergreifender Konsens unter den Innenpolitiker/innen, die eben nicht wollen, dass auch nur einer ohne Strafe davonkommt. Praktisch widerstandslos auch ging die sogenannte Föderalismusreform über die Bühne, mit der die Kompetenz in der Vollzugsgesetzgebung vom Bund auf die Länder übertragen wurde, mit dem Resultat, dass die Bedingungen in den Jugendhaftanstalten noch schlechter wurden, als sie ohnedies schon waren. Damit wurde der geschlossene Vollzug in vielen Bundesländern auch qua Gesetz Regelvollzug, neue Vollzugsziele, wie „die Ehrfurcht vor Gott“, erhielten auf einmal Gesetzesrang. Wenn Sozialdemokraten also den hessischen Ministerpräsidenten kritisieren und zugleich fordern, bestehendes Jugendstrafrecht endlich konsequent anzuwenden und „schwerstkriminelle Täter“ sofort in Haft zu nehmen, dann meinen sie nichts wesentlich anderes als Koch selbst. Es klingt nur besser. Das Gros dessen, was Koch fordert, existiert ohnehin bereits.

Wenn Koch jetzt Populismus vorgeworfen wird, dann trifft dies also nur die halbe Wahrheit. Dass das Jugendstrafrecht noch repressiver werden soll, ist nicht alleine dem kalt kalkulierenden Politstrategen zu danken, der Themen ausheckt, medial verbreitet und ahnungslose Bürger/innen mit teuflischen Marketingstrategien in die Irre führt. Koch greift vielmehr nur auf, was seine potenziellen Wähler/innen ohnehin wollen, und bringt es in eine politisch verwertbare Form. Denn würde auch nur ansatzweise realisiert, was die Bürger/innen sich wirklich wünschen, wenn sie abends, wenn der Nebel sich über dem Rheintal, dem Rodgau oder dem Vordertaunus senkt und sie angstvoll zwischen ihren Vorhängen hervor schauen, ob noch alles seine Ordnung hat, bräuchte man über ein Jugendstrafrecht nicht mehr diskutieren. Das Geheimnis rechtsstaatlicher Verfahren liegt in Deutschland eben darin, dass Urteile nur der reinen Form nach „im Namen des Volkes“ verkündet werden. Im Idealfall werden sie im Namen eines Rechtssystems gefällt, das in der Bundesrepublik immer besser war als die Bevölkerung und deshalb auch vor dieser geschützt werden muss.

Noch die gravierendsten Exzesse der Justiz – die Verfolgung von Kommunist/ innen in den 1950er und 1960er Jahren, die Stammheimverfahren inklusive Kontaktsperre – blieben weit hinter dem zurück, was „im Namen des Volkers“ gefordert wurde. Jährlich reichen Tausende frustrierte Kleingärtner/innen, Eigenheimbesitzer/innen und Hundehalter/ innen Verfassungsbeschwerden ein, von denen ein Großteil bereits in erster Prüfung als „rein querulatorisch“ aussortiert wird. Die Klagen inhaftierter Jugendlicher indessen, die an den Wochenenden wegen Personalmangel in ihren Zellen weggeschlossen werden oder mit der Abschiebung in ein Land zu rechnen haben, das sie noch nie gesehen haben, kann auch der Arbeiter vom Sägewerk an einer Hand abzählen.

Das macht Kochs Wahlkampf nicht besser, im Gegenteil. Die Trägheit von Recht und Institutionen hat in Deutschland immer auch die positive Wirkung gehabt, dass politische Willensentscheidungen nur zäh und gegen reichlich Widerstand durchzusetzen sind. Spätestens seit dem Antritt der rot-grünen Bundesregierung 1998 hat sich dies geändert. Der seinerzeitige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hat vorgemacht, wie man sich über alle institutionellen Grenzen und rechtlichen Hindernisse hinwegsetzt, als er zuerst forderte, Sexualstraftäter „wegzuschließen, und zwar für immer“ und im Anschluss sogleich das Sexualstrafrecht reformiert und die bis dahin fast bedeutungslose Sicherungsverwahrung zur Regelsanktion ausgebaut wurde. Das damit verknüpfte Versprechen lautet, tagesaktuell auf Ereignisse zu reagieren (damals ein getötetes Kind) und dabei notfalls auch die komplette Gesetzeslage auf den Kopf zu stellen. Auch damals hatte, wie heute, die zugrundeliegende Entscheidung nur den einen Bezug zur empirischen Wirklichkeit, dass sie die Angst der Bürger/innen bediente.

Angst ist offenkundig ein Lieblingsthema der Deutschen. Weder der Rentner, der über die „Scheiß Kanaken“ flucht, noch der Familienvater, der gegen die Zigeuner/innen in der Nachbarschaft Unterschriften sammelt, versäumen auf ihre Ängste zu verweisen. Je niederer ihr Anliegen, desto mehr Angst empfinden sie vor „Überfremdung“, vor Kriminalität, vor Gewalt oder vor dem drohenden Arbeitsplatzverlust. Da können Kriminolog/innen und Statistiker/innen noch so oft nachweisen, dass die Wahrscheinlichkeit, in einer deutschen Großstadt überfallen zu werden, allen Ängsten zum Trotz denkbar gering ist, es hört doch keiner zu. Die Angst unter der die Deutschen leiden, kommt nun einmal aus ihnen selbst heraus und zumal diejenige vor den „kriminellen Ausländer/innen“ ist nur ein Spiegel der Mördergrube, die sie in ihrem Inneren mit sich herumtragen. Weil die Sehnsucht nach drakonischen Strafen zugleich nur die veräußerlichte Gestalt der steten Unterdrückung darstellt, die nötig ist, die eigene brodelnde Gewalttätigkeit einzudämmen, geht auch jeder Appell an die empirische Wirkungslosigkeit harter Strafen ins Leere.

Angst siedelt bekanntlich im Bauch, nahe der Unterhose, wo die zweite Triebquelle politischer Meinungsbildung lauert. Beides, Sex und Angst, beschäftigt Menschen weltweit. Was Kochs Kampagne indessen auszeichnete, war die besondere regionale Note, die er der Verbindung von leiblichem Genuss und Angst verlieh. Im Gegensatz zu anderen Themen, wie dem notorischen Kinderschänder oder den angeblich 40.000 Zwangsprostituierten während der Fußballweltmeisterschaft (von denen am Ende fünf Ermittlungsverfahren blieben) lag der sexuelle Appell im Fall der Münchner U-Bahnschläger nicht ganz so offen zutage. Einzig Roland Koch hat sofort den so oft zitierten Ausspruch vom „Scheiß Deutschen“ als sinnlichen Appell verstanden, als die Umkehrung des „Scheiß Kanaken“, den abzuführen eine urdeutsche Lösung ist. Nicht, weil es „nötig“ ist, sondern weil es Lust bereitet, wälzte sich die Öffentlichkeit wochenlang durch das unerfreuliche Thema jugendliche Kriminalität. Und nicht, weil es anders nicht ginge, sondern einzig aus schierer Freude an der eigenen Hartherzigkeit, fordert heute jeder, der gefragt wird, harte Strafen. Und Koch ist nur einer von ihnen.