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Neue "Sicherheitsarchitektur" für Deutschland?

Heiner Busch

Im Juni 2004 lancierte der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) über die Medien seine Forderungen nach einer massiven Zentralisierung der „Sicherheitsbehörden“. Das Bundeskriminalamt (BKA) sollte Weisungsbefugnisse gegenüber den Landeskriminalämtern erhalten, das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) gegenüber den Landesämtern – all das, um „Überschneidungen, Doppelarbeit, Reibungsverluste und Informationsdefizite“ in der Terrorismusbekämpfung zu vermeiden. Was folgte, war ein sicherheitspolitisches „Jeder kann mitmachen“ quer durch die etablierte Parteienlandschaft, bei dem sich die Beteiligten gegenseitig mit Vorschlägen und Forderungen nach mehr „Sicherheit“ überboten. Einig war man sich darüber, dass die „Sicherheitsbehörden“ noch enger zusammenarbeiten, Informationen noch besser austauschen etc. sollten. Uneinigkeit herrschte über den anzustrebenden Grad der Zentralisierung – vor allem die Ländervertreter beharrten auf der Erhaltung ihrer „Standorte“. Strittig war auch, was denn alles zu den „Sicherheitsbehörden“ zu rechnen sei. Die CDU optierte – wie schon häufig zuvor – für den Einbezug des Militärs in den „Heimatschutz“.

Die Debatte im Juni 2004 war die erste, die unter dem Titel „Sicherheitsarchitektur“ geführt wurde. An ihrem vorläufigen Ende stand der Beschluss der Innenministerkonferenz, eine „Islamistendatei“ aufzubauen, wobei man sich auch hier nicht darüber einig war, ob es denn eine Fundstellen– oder eine Volltextdatei werden sollte. Die Diskussion zog sich noch über weitere zwei Jahre hin, bis es dann wieder einmal ganz eilig wurde. Im Herbst 2006 jagten die Koalitionsfraktionen unter dem neuen Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) das „Gemeinsame-Dateien-Gesetz“ über die parlamentarische Bühne.

„Geregelt“ ist darin zum einen die am 1. März 2007 in Betrieb genommene „Anti-Terror-Datei“, die sowohl von Polizei und Geheimdiensten gefüttert, als auch von beiden Seiten abgerufen werden soll. „Geregelt“ in Anführungszeichen, weil aus dem semantisch kaum mehr nachvollziehbaren § 2 des Anti-Terror-Datei-Gesetzes (Art. 1 des Gemeinsame-Dateien-Gesetzes) nur noch hervorgeht, dass der Kreis der zu erfassenden Personen so breit wie irgend denkbar sein soll. Vorfelddaten sollen erfasst werden, und das Vorfeld liefern hier nicht nur die Geheimdienste, die sich per Definition im Vorfeld bewegen, sondern auch die beteiligten Polizeien. Ansatzpunkt auf der polizeilichen Seite sind Mitglieder und Unterstützer/innen „terroristischer Vereinigungen“ nach den §§ 129 a und b StGB, die im Inland aktiv seien und einen Auslandsbezug hätten oder umgekehrt im Ausland aktiv seien und einen Bezug zum Inland hätten. Als wäre das nicht schon Vorfeld genug, verlangt derselbe Paragraf zusätzlich, dass auch Informationen über Mitglieder und Unterstützer/innen von Gruppierungen, die eine terroristische Vereinigung unterstützen, in der neuen Datei zu speichern sind – Unterstützer/innen von Unterstützer/innen, das verstehe, wer will. Die Koalitionsfraktionen haben im Innenausschuss selbst eine redaktionelle Überarbeitung abgelehnt.

Weiter ermächtigt das Gemeinsame-Dateien-Gesetz BKA, BfV und Bundesnachrichtendienst (BND) zum Betreiben gemeinsamer „Projektdateien“. Legalisiert werden damit zugleich die seit 2002 betriebenen gemeinsamen „Projekte“ im Bereich der „Terrorismusbekämpfung“. Bis zur Verabschiedung des Gesetzes waren die beteiligten Behörden dazu gezwungen, den gemeinsamen Bestand von polizeilichen und geheimdienstlichen Daten aus diesen Projekten jeweils doppelt zu führen und regelmäßig aufzudatieren. Diese Mühe wurde ihnen nun abgenommen.

 

Verpolizeilichung und Vergeheimdienstlichung

Der Gesetzgeber hat damit erneut eine datenrechtliche Form gewählt, um die enge personelle Zusammenarbeit von Polizei und Geheimdiensten abzusichern. Der institutionelle Rahmen des Gemeinsamen Terror-Abwehr-Zentrums (GT AZ), des Gemeinsamen Analyse- und Strategiezentrums illegale Migration (GASIM) und der diversen Untergruppen wie zum Beispiel der AG Status wird vorausgesetzt.

Am gleichen Tag, am 1. Dezember 2006, hat der Bundestag auch das „Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz“ angenommen, das die quasi-polizeilichen Befugnisse, die die Dienste fünf Jahre zuvor durch den „Otto-Katalog“ erhalten hatten, ausdehnt und auf weitere fünf Jahre verlängert.

Die beiden Gesetze werden nicht die Letzten ihrer Art bleiben. Sie bilden eine Art Zwischenstand eines seit langem anhaltenden Prozesses der Verpolizeilichung der Geheimdienste einerseits und der Vergeheimdienstlichung der Polizei andererseits. Letztere war verbunden mit der ständigen Vorverlagerung des Strafrechts – am deutlichsten sichtbar an den §§ 129 ff. des StGB, einer Ausweitung präventiver Befugnisse im Strafprozess– und im Polizeirecht, erkennbar an den vielen Ermächtigungen zum Einsatz verdeckter Methoden, die an die Aufgabe der „vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten mit erheblicher Bedeutung“ und ähnliche Uferlosigkeiten gebunden sind.

Gefährlich wird das eben nicht nur im Strafprozess, an der Beeinflussung von Verfahren durch geheimdienstliche Informationen, die nicht mehr überprüfbar sind, oder durch das Gegenteil, die Vorenthaltung von Informationen aus denselben trüben Quellen.
Gefährlich wird es vor allem da, wo es gar nicht mehr um die Frage von Schuld oder Unschuld geht, sondern der Verdacht ausreicht – wie zum Beispiel im neuen Ausländerrecht. Die AG Status und das bayerische Vorbild, die Arbeitsgruppe BIRGiT, setzen an den §§ 54 Nr. 5 und 6 und 54a des Aufenthaltsgesetzes an: BIRGiT heißt „Beschleunigte Identifizierung und Rückführung von Gefährder/innen aus dem Bereich des islamistischen Terrorismus/Extremismus“. Das praktische Ziel dieser konzertierten Aktion von Ausländerbehörden, Polizei und Verfassungsschutz lautet, die Betroffenen entweder auszuschaffen oder in die hinterletzte Ecke abzuschieben – mit ständigen Meldepflichten, ohne jegliche Kommunikation, am letzten Rand des Existenzminimums etc. Bei der Debatte um das Zuwanderungsgesetz ist die Union mit ihrer Forderung nach einer „Sicherungshaft“ nicht durchgekommen. Jetzt probieren es Schäuble & Co. mit Forderungen nach dem Vorbild der britischen Control Orders.

Bei all diesen immer wieder erweiterten Formen der Zusammenarbeit von Polizei und Diensten ist eines erstaunlich: dass die noch nach der Wiedervereinigung heftig geführte Debatte verstummt ist, ob das aus dem Polizeibrief der Militärgouverneure stammende Trennungsgebot noch Verfassungsrang habe oder nicht. Förmlich infrage gestellt wird dieses Gebot – zumindest vorerst – nicht mehr. Statt dessen hat man sich entschieden, es umzudefinieren und damit zu entwerten: Die organisatorische Trennung von Polizei mit exekutiven Befugnissen und Geheimdiensten ohne diese wird nun verstanden als umso dringlicheres Gebot der Zusammenarbeit.
Abreißen möchte man auch gerne die Trennwände zwischen Militär und Polizei – und zwar nicht nur bei Auslandseinsätzen. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar den im Luftsicherheitsgesetz vorgesehenen Abschuss ziviler Flugzeuge als verfassungswidrig bezeichnet. Die militärisch-polizeiliche Kooperation bei der Kontrolle des Luftraums steht nicht in Frage. Auch nicht der Einsatz von AWACS-Flugzeugen der NATO, sei es bei der Fußball-WM oder anlässlich des G8-Gipfels.

Schon bei der WM konnte man sehen, wie die „technische Amtshilfe“ durch die Bundeswehr eine neue quantitative Dimension erhielt. Beim G8-Gipfel haben wir auch eine neue Qualität erlebt – Amtshilfe bei der „Aufklärung“ in Form von Tornado-Tiefflügen ... Das Weißbuch über die Zukunft der Bundeswehr sieht denn auch den Aufbau einer organisatorischen Struktur vor, die die Bundeswehr mehr und mehr zu einer Art Hilfspolizei macht.

Die Debatte über die „Sicherheitsarchitektur“ der BRD ist noch lange nicht beendet. Für 2008 sind Novellen des BKA- und des Bundespolizeigesetzes angesagt. Der Aufbau einer Art von technischer Servicestelle für sämtliche Formen der Telekommunikationsüberwachung ist geplant. Und mit Sicherheit wird es weitere Vorstöße über die Einbeziehung des Militärs in den Bereich der Inneren Sicherheit geben. Über die europäische Dimension wird unten noch zu reden sein.

Deutsche Kontinuität?

Insgesamt lässt sich diese Entwicklung unter verschiedenen Blickwinkeln diskutieren. Einer davon heißt Kontinuität. Allerdings ist diese Perspektive nur von begrenzter Reichweite: Am offensichtlichsten ist das hinsichtlich der Vorverlagerung des Strafrechts. Es ist klar, dass der § 129a StGB in einer Kontinuität des politischen Strafrechts in Deutschland steht. Allerdings gibt es bei dem Versuch, das Strafrecht vor zu verlagern auch keine riesige Auswahl. Der eine Ansatzpunkt ist die Kriminalisierung von Meinungen, der andere ist der organisatorische Zusammenhang. Beide Elemente wird man durchgängig seit dem Kaiserreich vorfinden. Dasselbe gilt für die Tatsache, dass politisches Strafrecht vergleichsweise wenige Verurteilungen erbringt, dass die „Bestrafung“ vielmehr in den Ermittlungen liegt, in der damit verbundenen Einschüchterung, in der Kontrolle über eine Bevölkerungsgruppe. All das ist eben wirklich nicht neu. Die Kontinuität existiert, aber sie erklärt nicht, was denn wirklich neu an der neuen Entwicklung ist.

Dasselbe gilt in ähnlicher Weise für die verstärkte Zusammenarbeit zwischen Polizei und Geheimdiensten. Sicher, das Trennungsgebot war eine Lehre aus dem deutschen Faschismus – eine Lehre, die vor allem die US-amerikanischen und britischen Besatzungsmächte den Deutschen mitgeben wollten. Die Lehre wäre viel weiter gegangen: Sie implizierte ursprünglich die Kritik an jeglichem politischen Strafrecht, die Ablehnung einer zentralisierten Polizei, die Ablehnung von Truppenpolizeien und natürlich von politischen Polizeien. Noch 1948 erklärte General Clay: „I would rather have the Communists, than a political police in Germany.“ Insofern ist das Trennungsgebot eine abgespeckte Version dieser Lehre.

Dass sie selbst in dieser reduzierten Form nicht beherzigt wurde, wissen wir seit langem. Regelungen über die Zusammenarbeit von Polizei und vor allem Verfassungsschutz ziehen sich durch die Geschichte der Bundesrepublik wie ein roter Faden: Da waren die Unkeler Richtlinien von 1953, die eine solche Kooperation schon in dieser frühen Phase der BRD verlangten. Allerdings spielte bei der Kommunistenverfolgung in der hohen Zeit des Kalten Krieges das neue politische Strafrecht und die politische Strafjustiz eine viel größere Rolle als die Aktivität der Verfassungsschutzämter. Deren Bedeutung stieg erst, als es darum ging, Tarn- und Nachfolgeorganisationen der verbotenen KPD aufzurollen.

In den 1970er Jahren wurde dann zwar nicht über eine „Sicherheitsarchitektur“ diskutiert, wohl aber um ein „System der Inneren Sicherheit“. Wie selbstverständlich konzipierte man den Aufbau der Datensysteme von Polizei und Verfassungsschutz als kommunizierende Röhren. Erst an der Wende zu den 1980er Jahren erhoben kritische Medienberichte die Zusammenarbeit von Polizei und Verfassungsschutz zum Problem, brachten die „Beobachtende Fahndung“ ins Gerede, deckten die „Sonderanweisung Grenzkontrolle“ auf etc. Die vollständige technische Trennung der polizeilichen und der geheimdienstlichen Datenverarbeitung fand erst Anfang der 1990er Jahre statt.

Typischerweise etablierte das Paket der Sicherheitsgesetze vom Dezember 1990 parallel dazu die gesetzliche Pflicht zur Zusammenarbeit von Polizei und Strafverfolgungsbehörden einerseits und Geheimdiensten andererseits. Während die Geheimdienste in den frühen 1990er Jahren personell etwas abgespeckt wurden, begannen sie andererseits sich neue Aufgaben zu suchen, die bezeichnenderweise in einem Bereich lagen, der bis dahin unbestritten der Polizei oblag. Der Verfassungsschutz bemühte sich um einen Anteil an der „Bekämpfung der organisierten Kriminalität“, was ihm in einigen Bundesländern gelang. Der BND begann geheime Gutachten über die Macht der internationalen Drogenkartelle anzufertigen, die er in Teilen an die Presse lancierte, er brillierte durch seinen Kampf gegen den Schmuggel von Plutonium, indem er solches nach München brachte ... Mit dem 11. September 2001 konnten die Dienste getrost zum angestammten Thema Terrorismus zurückkehren, was für den BND unter anderem bedeutete, dass er einen besonderen Platz in der „anti-terroristisch“ militarisierten Außenpolitik der BRD erhielt.

Die These der Restauration hat hier allenfalls bis in die 1960er Jahre hinein einen Erklärungswert. Schon die Reform der Apparate der Inneren Sicherheit in den 1970er Jahren kann nicht mehr als Rückkehr zu Weimarer oder gar faschistischen Verhältnissen interpretiert werden. Das zeigt sich umso mehr beim Verhältnis von Polizei und Militär. Der heutige Bedeutungszuwachs des Militärs folgt nicht dem Notstandsschema, das den Aufbau des Bundesgrenzschutzes und der Bereitschaftspolizeien als militarisierter Truppenpolizeien bis zu den Notstandsgesetzen prägte. Die Gründung des Bundesgrenzschutzes (BGS) in den 1950er Jahren war die Vorstufe zum Aufbau der Bundeswehr. Dem entsprachen die Manöver des BGS und der Bereitschaftspolizeien bis in die frühen 1970er Jahre. Nach den Notstandsgesetzen fand gerade eine Entmilitarisierung der Polizei und vor allem des Bundesgrenzschutzes statt. Der BGS wurde überhaupt erst im Inneren einsetzbar, als er entmilitarisiert wurde und die schweren Waffen abgegeben hat. Andererseits kann die neue Rolle des Militärs heute nicht mit dem Notstandsszenario analysiert werden. Seit der Verabschiedung der Notstandsgesetze 1968 hat es keinen Einsatz des Militärs gegeben, der in dieses alte Schema passen würde, das bis 1968 die rechtliche Debatte bestimmte. Es geht bei der neuen Beteiligung des Militärs an der Inneren Sicherheit eben nicht darum, dass Soldaten mit Maschinengewehren und Granaten gegen Menschenmassen vorrücken. Es geht vielmehr einerseits um eine Hilfspolizeirolle und andererseits um sehr spezifische „Dienstleistungen“ des Militärs. Und es geht um die Arbeitsteilung zwischen Militär und Polizei bei Auslandseinsätzen – also um die innere Sicherheit von Gebieten, in denen deutsches Militär im Kontext von EU-, Nato- oder UN-Einsätzen präsent ist.

 

Blick über den deutschen Tellerrand

Trennungsgebot: Spätestens bei einem Wechsel der Perspektive, nämlich dann wenn man über den deutschen Tellerrand hinaus schaut, wird deutlich, dass das was hierzulande geschieht, eben nicht eine deutsche Spezialität ist. Sowohl was das Verhältnis von Polizeien und Geheimdiensten, als auch die Trennung von Polizei und Militär anbetrifft, lässt sich umgekehrt behaupten, dass vielmehr das deutsche Beispiel rechtlich fixierter Trennung speziell ist. In vielen Staaten sind Inlandsgeheimdienste Teil der polizeilichen Organisation: Das gilt für die Renseignements Généraux in Frankreich ebenso wie für die Informationsabteilung der Guardia Civil in Spanien, die schwedische SÄPO oder den Dienst für Analyse und Prävention in der Schweiz. Großbritannien kennt zwar die organisatorische Trennung von Polizei und Geheimdienst. Allerdings sind zum einen die informatorischen Verbindungen zwischen den politischen Abteilungen der Polizei (Special Branch) und dem MI 5 immer sehr eng. Erst in den 1990er Jahren erhielt der MI 5 eine gesetzliche Grundlage. Sie enthält typischerweise „powers to bug and burgle“, also Befugnisse, die den Geheimdienst zum Wanzensetzen und zum Einbruch in (zur verdeckten Durchsuchung von) Wohnungen ermächtigen. Der britische Inlandsgeheimdienst kann also längst das wahrnehmen, was hierzulande „exekutive Befugnisse“ genannt wird. Ähnlich sieht es in den Niederlanden aus.

Polizei und Militär: In vielen europäischen Staaten gibt es neben der zivilen Polizei eine dem Militär angegliederte oder dem Verteidigungsministerium zumindest organisatorisch unterstellte Gendarmerie, die traditionell für den ländlichen Raum und für Grenzkontrolle und -überwachung zuständig ist, während die zivile Polizei sich auf die Städte konzentriert. Typisch dafür die spanische Guardia Civil, die Gendarmerie in Frankreich und Belgien, die Marechaussee in den Niederlanden oder die italienischen Carabinieri, in deren Reihen auch normale Rekruten ihren Wehrdienst ableisten. Dem Verteidigungsministerium untersteht in Italien auch die Guardia di Finanza. Nicht alle diese Polizeien sind insgesamt paramilitärisch. Allerdings stellt sich bei ihnen – anders als bei der Bundespolizei bzw. dem BGS – die Frage des Kombattantenstatus nicht, eben weil sie Teil des Militärs sind. Österreich hat lange Zeit sein Bundesheer zur Verstärkung der Überwachung an der Ostgrenze eingesetzt. Auch in Italien hat die Marine immer wieder solche Funktionen gehabt.

Europäisierung der Polizeisysteme

Alle (west-)europäischen Polizeisysteme haben in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten große Umstrukturierungen durchgemacht, die sich durchaus mit denen in Deutschland vergleichen lassen: Prozesse der Technisierung, Spezialisierung (insbesondere was verdeckte Operationen anbetrifft) und organisatorischen Zentralisierung. Sieht man sich die europäische Ebene an, so wird klar, dass da keineswegs von dem Modell Deutschland geredet werden kann. Modellhaft ist allenfalls die Form der Verrechtlichung. Hier hat sich das, was wir seit dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland an Gesetzgebung erlebt haben, in der Form wiederholt. Einerseits hat das Verfassungsgerichtsurteil über die Grenzen der BRD hinaus eine Anerkennung erfahren. In vielen europäischen Staaten gilt heute die Regel, dass auch informationelle Eingriffe einer formell gesetzlichen Grundlage bedürfen. Das britische Recht stellt hier – noch – eine Ausnahme dar. Andererseits hieß das seit Anfang der 1990er Jahre, dass sich nun auch auf europäischer Ebene immer wieder jene Art der Verdatenschützerung und Scheinvertatbestandlichung zeigte, die typisch für das neuere deutsche „Sicherheitsrecht“ ist. Die Europol-Konvention etwa – ein frühes Beispiel – listet im Einzelnen die Personengruppen auf, deren Daten das EU-Polizeiamt verarbeiten darf. Allerdings gibt es dabei keine Lücken. Praktisch kann Europol alle Personen speichern, die in irgendeinem Bezug zu seinen Fällen stehen: von den einschlägig Verurteilten über die Verdächtigen und die potenziell verdächtige Personen bis hin zu Zeugen, Hinweisgebern etc. In fast allen neueren Beschlüssen und Rahmenbeschlüssen des Rates finden sich solche rhetorischen Artikel zum „Datenschutz“, die die polizeiliche (und geheimdienstliche) Datenverarbeitung und -weitergabe nicht einengen, sondern den Zweck verfolgen, sie als „rechtsstaatlich“ zu legitimieren.

Sicherlich hat die BRD in der EU eine bedeutende Rolle, aber sie ist hier keineswegs die einzige treibende Kraft. Ein paar Beispiele: Ein großer Teil der Initiativen im Bereich Rechtshilfe und Auslieferung von Spanien aus, das auch dafür gesorgt hat, dass der Terrorismus bereits 1999 ins Europol-Mandat übernommen wurde. Das Konzept der Terrorlisten stammt zu einem großen Teil aus Großbritannien, das diese Art der administrativen Kriminalisierung bereits im Jahr 2000 in seinem nationalen Recht verankerte. Die Initiative zur Gründung der EU-Gendarmerie für „robuste“ Polizeiarbeit im Rahmen von EU-Auslandseinsätzen ging von Frankreich aus ...
Mehr und mehr kommen Initiativen jedoch von der EU-Kommission selbst oder von Gruppen von Mitgliedstaaten wie der G6 (BRD, Großbritannien, Frankreich, Italien, Polen, Spanien) oder jüngst der Vertrag von Prüm, den im Juli 2005 zunächst sieben Mitgliedstaaten (BRD, Frankreich, Österreich, Spanien und die Benelux-Staaten) unterzeichneten und der nun zu wesentlichen Teilen in EU-Recht überführt wird. Bereits ein kurzer Blick auf die Homepages des EU-Rates und der EU-Kommission in Sachen Innen- und Justizpolitik zeigt, wie breit mittlerweile der politisch-rechtliche Bereich ist, der von der EU gesetzt wird – oder besser gesagt: den die Mitgliedstaaten über die EU laufen lassen mit der Konsequenz, dass die im EU-Rahmen gefassten Entscheidungen mit wenigen Ausnahmen im nationalen Rahmen verbindlich sind.

Zugenommen hat damit auch die Europäisierung auf der „operativen“ Ebene: einerseits durch die wachsende supranationale Orientierung der nationalen Polizeien (und Geheimdienste), andererseits durch den Rahmen, den die europäischen Datenbanken (vom SIS über Eurodac und das demnächst in Betrieb gehende Visa-Informationssystem), Institutionen (von Europol und Eurojust über Frontex bis hin zum Gemeinsamen Lagezentrum der (Auslands-)Geheimdienste SitCen) und diversen Zusammenarbeitsgremien setzen. Dass bei der sich entwickelnden europäischen Staatlichkeit der besonderen Art Trennungsgebote und Grundsätze, die wir für eine demokratisch-rechtsstaatliche Entwicklung für zentral halten, keine Rolle mehr spielen, ist offensichtlich.
Wenn wir in Zukunft über „Sicherheitsarchitektur“ reden, werden wir nicht darum herum kommen, diese Großbaustelle im Auge zu behalten.

* Überarbeitete Fassung eines Vortrages, gehalten auf der Mitgliederversammlung des RAV in Berlin am 7. Dezember 2007.