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Heiligendamm - zwei Resümees aus bürgerrechtlicher Sicht

Carsten Gericke

Zwei Anfang 2008 erschienen Bücher lassen das Geschehen rund um den G8-Gipfel in Heiligendamm noch einmal Revue passieren und diskutieren die sichtbar gewordenen Einschränkungen des Rechts auf Dissens und Protest:

Der vom RAV und dem Legal Team herausgegebene Sammelband „Feindbild Demonstrant – Polizeigewalt, Militäreinsatz, Medienmanipulation“ knüpft unmittelbar an an die vielfältigen Erfahrungen des Anwaltlichen Notdienstes mit Polizei und Justiz vor und während des G8-Gipfels. In 23 Aufsätzen von Rechtsanwält/innen und Journalist/innen werden unterschiedliche Facetten der „Entwertung bürgerlicher Freiheiten“ (Busch/Hilbrans) durch Versammlungsverbote, polizeirechtliche Maßnahmen oder strafrechtliche Schnellverfahren als Ausdruck eines modernisierten präventiven Sicherheitsstaates rechtlich analysiert und bewertet. Beleuchtet wird aber auch die anwaltliche Binnenperspektive. Peer Stolle stellt die Arbeitweise und Organisation des Anwaltlichen Notdienstes in Heiligendamm vor und wirft die wichtige Frage nach dessen Verhältnis zu den Sozialen Bewegungen auf. Heike Kleffner und Axel Hoffmann beschreiben anschaulich an dem Beispiel anwaltlichen Intervention bei der Enttarnung eines Zivilpolizisten am Rande einer Straßenblockade mögliche Rollenkonflikte, in die Rechtsanwält/innen während des Anwaltlichen Notdienstes verstrickt werden können. Das Buch lädt daher auch dazu ein – nicht zuletzt im Hinblick auf zukünftige Demonstrationen – das anwaltlichen Selbstverständnis und Agieren in derart emotional aufgeladenen Konfliktsituationen zwischen Demonstrant/innen und der Staatgewalt zu reflektieren.

Neben dem RAV hat auch das Komitee für Grundrechte und Demokratie wie zu vorangegangen Protestereignissen (1. Mai/Berlin, Castor-Transporte/Wendland) eine umfassende Dokumentation unter dem Titel „Gewaltbereite Politik und der G8-Gipfel“ zum Demonstrationsgeschehen rund um Heiligendamm vorgelegt. Gestützt auf die Berichte von 29 Demonstrationsbeobachter/innen gelingt es den AutorInnen Elke Stevens und Wolf-Dieter Narr, ein dichtes Bild von der Vielzahl unterschiedlicher Protestaktionen und handelnder Akteure während des G8-Gipfels zu zeichnen und das staatliche Vorgehen aus bürgerrechtlicher Sicht kritisch zu beleuchten. Zur Recht weisen auch Stevens und Narr darauf hin, dass dieses nur in Zusammenhang mit der Vorgeschichte des G8-Gipfels vollständig begriffen werden kann. Getrieben von dem Ansinnen, einer indizienlos ersonnenen islamistischen Terrorgefahr und brutaler Gewalt Herr werden zu müssen, waren Polizei und Politik von vornherein „Gefangene ihrer eigenen Gefahrenprognose“. Angesichts dessen erscheint für Stevens/Narr das Vorgehen von Polizei und Politik nahezu konsequent, wenn gleich nicht minder verfehlt. Wenig überraschend und dennoch beängstigend, dass auch die Justiz sich in beträchtlichem Maße in diesen Kokon hat einspinnen lassen und die ihr zugewiesenen Aufgaben einer rationalen, unabhängige und grundrechtsbewahrende Entscheidungsfindung dem herbeifabulierten „Ausnahmezustand“ und der Staatsräson untergeordnet hat.

Die bürgerrechtlichen Bewertung des staatlichen Umgangs mit dem globalisierungkritischen Protest ist vielschichtig und soll hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Um nur einen Punkt zu benennen, weisen Stevens und Narr das häufig wenig beachtete, praktisch aber ungemein bedeutsame, strafbewehrte „Vermummungsverbot“ (§ 27 Abs. 2 Nr. 2 VersammlG) als einen wesentlichen legislativen Störfaktor für die Wahrnehmung des Demonstrationsgrundrecht aus. Nach dieser Vorschrift des versammlungsrechtlichen Nebenstrafrechts – die aufgrund der Vorverlagerung der Kriminalisierung ins Vorfeld möglicher Rechtsgutverletzungen durchaus feindstrafrechtliche Züge trägt – macht sich strafbar wer „in einer Aufmachung, die geeignet und den Umständen nach darauf gerichtet ist, die Feststellung seiner Identität zu verhindern“ an einer Demonstration teilnimmt oder sich auf dem Weg dorthin befindet. Das bloße Mitsichführen von zur „Vermummung geeigneten und bestimmten Gegenständen“ ist als Ordnungswidrigkeit nach § 29 Abs. 1 Nr. 1a VersammlG sanktioniert. In der Tat erfolgt das polizeiliche Vorgehen gegen Demonstrationen insgesamt und das brutale Einprügeln auf einzelne Demonstrant/innen zu meist unter dem Vorwand, einzelne „Vermummte“ entdeckt zu haben und herauszugreifen zu müssen. Dies dürfte auch zur Eskalation der Auftaktdemonstration am 2 Juni 2007 und der faktischen Vereitelung der Migrationsdemonstration in Rostock am 4. Juni 2007 entscheidend mit beigetragen haben. Daneben stellte das Mitführen angeblich zur „Vermummung“ mitgeführter Gegenstände wie Sonnenbrillen, Mützen oder Kapuzenpullovern in einer Vielzahl von Fällen aber auch ein wesentliches Indiz zur Begründung polizeirechtlichen Ingewahrsamnahmen dar. Die eingeleiteten Ordnungswidrigkeiten- und Strafverfahren wegen Verstoßes das „Vermummungsverbot“ lassen sich vor diesem Hintergrund als Versuch nachträglicher Legitimierung des polizeilich Störverhaltens lesen.

Insgesamt vermittelt die Publikation des Grundrechtekomitees nicht nur einen ausführlichen Überblick über die Protesttage in Heilgendamm, sondern auch eine profunde Stellungnahme zur Verfasstheit des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit in Deutschland anno 2007.

RAV/Legal Team: Feindbild Demonstrant. Polizeigewalt, Militäreinsatz, Medienmanipulation. Der G8-Gipfel aus Sicht des Anwaltlichen Notdienstes. Verlag Assoziation A, Berlin 2007, 10 Euro. Zu bestellen über die Geschäftsstelle des RAV.

Komitee für Grundrechte und Demokratie: Gewaltbereite Politik und der G8-Gipfel. Demonstrationsbeobachtungen vom 2.-8. Juni 2007 rund um Heiligendamm. Köln 2007, 10 Euro.