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Diskriminierungserfahrungen

Diskriminierungserfahrungen

Rollenbilder in der juristischen Arbeitswelt

Nele Kliemt, Betül Gülşen, Linh Steffen

Das Anwaltsblatt des Deutschen Anwaltvereins titelte am 28. Mai 2019, »Die Zukunft der Anwaltschaft ist weiblich«.(1) Und tatsächlich sind 2017, erstmals seit der Zulassung von Frauen zur Anwaltschaft im Jahr 1922, mehr Frauen als Männer zugelassen worden. Der Gesamtanteil von Frauen betrug zum 1. Januar 2019 allerdings immer noch nur 35,13 Prozent (von insgesamt 166.375 Mitgliedern der BRAK).(2) Egal wie die Zukunft aussehen mag, der Anwaltsberuf ist nach wie vor männlich dominiert. Und das bekommen – zumal junge – Anwältinnen im Umgang mit Ausbildern, Kolleg*innen, Mandant*innen und Richter*innen oder Staatsanwält*innen immer wieder zu spüren.
Durch die Mandant*innen, die ganz selbstverständlich davon ausgehen, die junge Frau, die sie in der Kanzlei oder am Telefon begrüßt, sei die Empfangskraft und nicht die Anwältin, durch Chefs, die gönnerhaft das gute Aussehen loben, das über angebliche fachliche Mängel ja hinweghelfe, durch Kollegen, die meinen, die Sache mit dem Richter klären zu können, ohne die Kollegin zu fragen, durch Gerichte die Einwände von Anwältinnen erst gar nicht ernst nehmen und Verfahren so unnötig in die Länge ziehen. Ganz zu schweigen von offener Ablehnung.
Auch in der Ausbildung zeichnet sich seit Jahren der Trend ab, dass sich mehr Frauen als Männer für das Jura-Studium entscheiden. Diese rein formale Gleichstellungsperspektive lässt aber die unterschiedlichen Erfahrungen von Männern und Frauen während der Ausbildung außer Acht. Sexistische Fallgestaltungen gehören noch genauso zum Universitätsalltag vieler Studentinnen wie sexistische Witze von Professoren in der Vorlesung. Auch schneiden Frauen (genau wie Menschen mit zugeschriebener Migrationsgeschichte) wesentlich schlechter in den Staatsexamina ab, was den weiteren beruflichen Werdegang enorm beeinflussen kann.
Diskriminierung kommt oft subtil und unscheinbar daher und wird von denen, die nicht von ihr betroffen sind, als bloße Unachtsamkeit abgetan, als Missverständnis, als verständliches und womöglich sogar begründetes Vorurteil. Das ist falsch. Auch subtile und gut gemeinte Diskriminierung entfaltet eine emotionale und faktische Kraft, die das Recht der betroffenen Person auf Anerkennung in vielfältiger Weise beeinträchtigt. Diskriminierung zielt darauf ab, bestehende Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten und zu rechtfertigen.

DISKRIMINIERUNG SCHADET. ALLEN.

Diskriminierung schadet. Allen. Nicht nur den Anwältinnen, die das Mandat nicht bekommen, die Stelle nicht bekommen, weil sie eine Frau sind, die klein gemacht und auf ihr Äußeres reduziert werden, die verletzt werden. Diskriminierung schadet auch den Mandant*innen, die fachliche Kompetenz ablehnen, deren Anwältinnen von Gerichten oder Kollegen nicht ernst genommen werden – oder deren Interessenvertreter die Gegenseite nicht ernst nehmen, weil sie von einer Frau vertreten wird. Es schadet unserer Gesellschaft, wenn Frauen knapp 100 Jahre nach ihrer Zulassung zur Rechtsanwaltschaft nach wie vor in Frage gestellt werden, weil sie Frauen sind. Wir möchten deshalb dazu beitragen, durch Sichtbarkeit ein Bewusstsein für die Ausprägungen von Geschlechterdiskriminierung zu schaffen und damit die Debatte anzustoßen, wie wir als Verein, als Gesellschaft und als Individuen damit umgehen wollen. Wir haben uns deshalb umgehört unter den Kolleg*innen und Erfahrungsberichte gesammelt. Auszüge davon möchten wir mit euch teilen.

  • »Es begann bei mir noch vor dem ersten Semester, nämlich mit dem Antrag zu Leistungen nach dem BaföG. Die Sachbearbeiterin wollte meinen Antrag auf Ausbildungshilfe nicht annehmen und schickte mich weg, da das Bundesland XY ›solche Mädchen wie dich nicht gebrauchen kann. Als junges Mädchen könntest du doch eine solide Ausbildung zur Rechtsanwaltsgehilfin machen‹. Als kleiner Disclaimer: Es fehlte ein Formblatt eines Elternteils, das im Ausland lebte. Diese Diskriminierung bezog sich wohl sowohl auf meine Herkunft als auch auf mein Geschlecht«.
  • »Im ersten Semester teilten bereits viele Professoren im Rahmen der Vorlesungen mit, dass sich bald die Zahl der Student*innen um mehr als die Hälfte reduzieren werde. Ein Professor, der ziemlich streng war, bezog sich dabei auf ›diejenigen unter euch, die hier sitzen, um sich einen guten Ehemann zu angeln‹«.
  • »Als Junganwältin in meinem ersten Berufsjahr sollte ich für meinen Arbeitgeber eines Tages einen Termin vor dem Arbeitsgericht wahrnehmen. Ich hatte mich mit dem Arbeitsrecht zu dem Zeitpunkt nicht beschäftigt und kannte mich nicht damit aus. Meine Bedenken teilte ich meinem Arbeitgeber mit. Dieser winkte meine Bedenken weg und teilte mir lachend mit, dass er bereits mit dem Richter darüber gesprochen habe. Er habe dem Richter bereits gesagt, er werde eine junge Kollegin schicken. Diese kenne sich zwar nicht im Arbeitsrecht aus, dafür sähe sie aber gut aus. Auf meine Reaktion hierauf war mein Arbeitgeber sichtlich irritiert. Er schien nicht so richtig zu verstehen, weshalb ich mich über diesen Satz geärgert habe. Er bestand darauf, dass er mir doch ein Kompliment gemacht habe«.
  • »Ich bin Rechtsanwältin. Eines Abends saß ich um ca. 18.30 Uhr in der Kanzlei, als das Telefon klingelte. Ich ging an das Kanzleitelefon und hatte eine aufgebrachte Frau am Telefon, die allem Anschein nach ganz dringend Hilfe brauchte. Die Frau wollte sehr dringend einen Rechtsanwalt sprechen. Ich bat sie also, mir den Sachverhalt mal eben schnell zu schildern. Die Frau am Telefon weigerte sich mit den Worten: ›Der Sachverhalt ist viel zu kompliziert für eine Vorzimmerdame wie Sie‹«.
  • »Der Kanzleiinhaber und somit mein damaliger Chef meinte irgendwann beiläufig, er habe mich wegen meiner blonden Haare eingestellt. Als er die auf dem Bewerbungsfoto gesehen habe, habe es bei ihm ›ausgesetzt‹. Für mich war das mit einem Gefühl verbunden, nicht wegen meiner Leistungen in Studium und Referendariat oder sonstiger objektiver Merkmale ausgewählt worden zu sein, sondern allein deswegen, weil ich eine Frau mit blonden Haaren bin. Zum damaligen Zeitpunkt hatte ich für derartige Kommentare leider noch nicht die passenden Antworten parat und hatte auch nicht die Möglichkeit, die Kanzlei zu wechseln. Später im Arbeitsverhältnis ist die besagte Person dazu übergegangen, meine Figur zu kommentieren. Zum Beispiel äußerte er, man könne am Beben der Erde erkennen, dass ich nahe sei. Andere anwesende Personen haben – wie ich leider auch – darüber nur gelacht. Es gab noch weitere derartige Äußerungen, auch anzüglicher Natur, an die ich mich allerdings nicht mehr genau erinnern kann und will«.
  • »Ein Partner einer Kanzlei sagte mal zu mir: »Sehen Sie, wenn Sie bei uns anfangen, dann können Sie sogar Kinder bekommen. Das ist ja nicht selbstverständlich überall«. Diskriminierend fand ich daran, dass er mir als Frau automatisch einen Kinderwunsch unterstellte und anscheinend auch davon ausging, dass ich dann die Elternzeit nehmen werde. Zu einem männlichen Kollegen hätte er das sicher nicht gesagt. Gewünscht hätte ich mir, dass er zu allen Personen sagt: ›Wir sind ein familienfreundliches Unternehmen, selbstverständlich können Sie bei uns Elternzeit nehmen‹.
  • »Ich erlebe oft in meinem Berufsalltag Diskriminierung von meinen Mandanten. Diese stellen Beratungsgespräche und Vorgehensweisen gerne in Frage und bedienen sich stattdessen einer kostspieligen Zweitmeinung eines männlichen Anwaltskollegen. Klar, der Kollege, der mindestens das Doppelte an Beratungsgebühr verlangt, muss es schließlich besser wissen. Vor allem männliche Mandanten halten sich nicht an schriftlich fixierte – im Übrigen sehr faire – Honorar- und Zahlungsvereinbarungen; sagen im Nachhinein sie hätten diese falsch verstanden oder feilschen nachträglich um jeden Euro. Mein Wort – insbesondere zum Thema Vergütung – eröffnet stets den Basar. Der Blick zu meinen männlichen Kollegen offenbart mir, dass diese weniger mit diesen Problemen zu kämpfen haben. Anders als bei mir wird deren ›Ansage‹ in aller Regel ernst genommen, akzeptiert, respektiert! – nicht in Frage gestellt«.
  • »Einen Anwaltskollegen habe ich einmal bei einer gemeinsamen Begehung eines mangelbehafteten Badezimmers sachlich auf die offensichtlichen – für jeden Laien erkennbaren – Fehler bei Verlegen der Badfliesen und Installation der sanitären Anlagen durch dessen Mandantin aufmerksam gemacht. Anstatt auf diese optischen Täuschungen, die die Kacheln beim näheren Hinsehen auslösten, einzugehen, bezog er sich in Anwesenheit unser beider Mandanten auf meine für ihn offenkundigen Sachkenntnismängel und Unwissenheit. Er leitete die Sätze immer wieder mit ›Meine liebe junge Kollegin‹ ein«.
  • »Ein Mandant kam in mein Büro, um mir zu offenbaren, dass er sich an einen für Baurecht spezialisierten Anwalt gewendet habe, um eine Zweitmeinung zu meiner Arbeit einzuholen. Der Kollege teilte meinem Mandanten in einem vollends ausgearbeiteten schriftlichen Gutachten mit, dass ich aus fachlicher und juristischer Sicht perfekte Arbeit geleistet habe. Ich merkte, wie mein Mandant Gewissensbisse bekam. Er habe dies nur auf Anraten seines Bruders gemacht und würde den Fall definitiv mit mir durchziehen – jetzt, da er ja bestätigt bekommen hatte, dass ich fachlich nicht verkehrt liege. Das war mir dann aber zu viel. Ich ›überzeugte‹ daher meinen Mandanten zu dem bereits konsultierten Fachanwalt zu wechseln, da unser ›Gegner ziemlich zäh sei und offensichtlich ein Frauenproblem habe‹ und führte einige Wochen später mit dem übernehmenden Kollegen ein sehr nettes Telefonat bei Mandatsübergabe«.
  • »Ich bin Fachanwältin für Strafrecht. Oft habe ich Mandanten, die nicht viel zahlen können, aber sehr umfangreiche Betreuung verlangen. Einer dieser Mandanten erzählte mir, dass er nun eine heftige Anklage erwarte, also eine, wo man eine Beiordnung bekommen könnte. Aber dafür würde er sich lieber einen richtigen Anwalt suchen«.
  • »Ich hatte nur telefonischen Kontakt mit einem Kollegen, der die gleiche Mandantschaft in einem parallelen Verfahren vertrat. Ich schlug vor, bei einem Treffen zwischen der Gegenseite und mir einen Deal zu vereinbaren. Seine Antwort: ›Versuchen Sie das ruhig. Sie klingen ganz nett, wenn Sie auch so aussehen, klappt das ja vielleicht‹«.
  • »Ich schule einen Betriebsrat in seinen Rechten nach dem Betriebsverfassungsgesetz. Die Schulung findet in einem Hotel statt. Wir nutzen einen Tagungsraum und das Hotel sorgt dreimal am Tag für ein Buffet mit Essen und Getränken. Ich komme im Hotel an und begrüße die Betriebsrät*innen. In diesem Moment kommt ein junger Kellner herein. Ich frage ihn, wann das Essen aufgetragen wird, damit wir die Pausenzeiten abstimmen können. Er sagt mir: ›Damit warten wir bis der Chef kommt‹. Mit dem ›Chef‹ meint er offensichtlich den ›Chef-Herren-Rechtsanwalt‹ und nicht mich. ›Ich bin hier die Chefin‹, erkläre ich ihm. ›Und jetzt sagen Sie mir die Essenszeiten‹. Er schaut mich schockiert und peinlich berührt an und druckst los«.
  • »Ich sitze im Anwaltszimmer des Arbeitsgerichts Hamburg. Sonst ist niemand da. Ich studiere die Akte, der Gerichtstermin fängt demnächst an. […] Ein älterer Herr kommt rein, über dem Arm trägt er eine Robe. Ich identifiziere ihn als ehrenamtlichen Richter. Er geht routiniert zum Schrank neben der Tür. Als er mich sieht, hellt sich sein Gesicht auf und er fragt mich erfreut: ›Was machen Sie denn hier? Machen Sie hier ein Praktikum?‹ ›Nein‹, sage ich. Er schaut mich verwirrt an, die Situation lässt sich für ihn nicht so leicht aufklären. Was könnte eine Frau mit Anzugsjacke und Akte vor der Nase in einem Anwaltszimmer wohl sein? Ich bin gnädig und beende das Berufe-Raten. Er wünscht mir viel Erfolg für meinen Prozess«.
  • »Es ist der Gütetermin vor dem Arbeitsrichter X. Mein Mandant war nicht persönlich geladen, deshalb bin nur ich bei dem Termin. Auf der Gegenseite sitzen der Geschäftsführer der Firma und der Rechtsanwalt. Der Richter begrüßt den Kollegen freundlich mit Namen, schaut dann kurz zu mir… – ›und Sie sind?‹ Ich darf noch antworten, und das war`s dann mit der Aufmerksamkeit für meine Person, zu schweigen von meinen Rechtsansichten. Der Richter richtet sich ausschließlich an den Kollegen und dessen Mandanten. Ich muss mir das Wort erkämpfen. Später erfahre ich, dass dieser Richter auch andere Kolleginnen komplett ignoriert«.
  • »[Ich vertrete einen Mandanten mit Migrationsgeschichte in einem Gewaltschutzverfahren als Antragsgegner]. Der zuständige Richter machte aus meiner Sicht zu Beginn der Verhandlung einen genervten Eindruck. Noch bevor die Beteiligten zur Sache angehört wurden, sprach er sich für die Antragstellerin aus und erklärte, wie schlimm es sein könne, von einer körperlich überlegenen Person bedroht zu werden. Dann gab der Vorsitzende sinngemäß folgende Äußerung von sich: Eine Frau, die einen solchen Mann vertritt, sollte selbst einmal eine vergleichbare Situation erfahren«.
  • »Ich bin Fachanwältin für Strafrecht und habe eine Kollegin für einen Gerichtstermin vertreten. Auch sie ist Fachanwältin. Ein paar Tage nach diesem ersten Gerichtstermin ruft mich der Mandant an. Er habe mit Jemandem von der Roten Hilfe gesprochen, einem ›Experten‹. Dieser habe auch Erfahrungen mit Gerichtsprozessen. Ich solle mich bitte noch diese Woche mit ihm treffen, um von seinem Expertenwissen zu profitieren«.
  • »Als ich von dem Thema ›Diskriminierung von Rechtsanwältinnen im Berufsalltag‹ hörte, blitzten die Gedanken und Geschichten rund um diese Problematik nur so auf mich ein. Ich denke, es ergeht vielen meiner Kolleginnen so. Mittlerweile habe ich gelernt, die Diskriminierungen humorvoll zu nehmen, zu übersehen, zu überhören und im Ergebnis mein eigenes ›Ding‹ durchzuziehen. Ich nehme diese offene Art der Diskriminierung im Berufsalltag schon gar nicht mehr wahr; es verletzt mich nicht. Aber seitdem ich mich mit diesem Thema aufgrund dieser aktuellen Anfrage wieder näher beschäftigt habe, ist mir wieder bewusstgeworden, wie sehr der Berufsalltag mit diskriminierenden Situationen gespickt ist und dass dies doch im vermeintlich aufgeklärten Heute ziemlich traurig ist. […] Die Diskriminierung fing allerdings bereits im Studium an, zog sich über das Referendariat hindurch und endet nun im Berufsalltag. Heute bin ich gefestigt. Ich bezweifle, dass eine junge Studentin dies in der Anfangszeit von sich behaupten kann«.


Rückmeldungen bitte an: derblindefleck@rav.de

Nele Kliemt, Betül Gülşen und Linh Steffen sind Rechtsanwältinnen in Berlin und RAV-Mitglieder.


(1) anwaltsblatt.anwaltverein.de/de/anwaeltinnen-anwaelte/anwaltspraxis/zukunft-der-anwaltschaft-ist-weiblich-dennoch-benachteiligung-von-frauen
(2) https://www.lto.de/recht/juristen/b/brak-zahlen-anwaltschaft-zulassung-syndikus-frauenanteil/