Der RAV in der Nach-Holtfort-Epoche

Wolfgang Kaleck Unter dem Motto "Linke Anwaltschaft von der APO bis heute" versammelten sich 1986 in Berlin RAV-Kolleginnen und Kollegen zum 2. Republikanischen Anwaltstag. Der Gründungsvorsitzende des RAV, Werner Holtfort, formulierte dort folgendes Ziel für eine linke Anwaltschaft:

"Es kann aber unter der Ägide des Grundgesetzes unsere Gesellschaft nur unter dem Schutze einer wirklich freien, unabhängigen Advokatur zu einem besseren Recht und überhaupt zu einem freieren, sozial gerechteren, menschlicheren Zusammenleben fortschreiten! "

Dieses Ziel könne nur erreicht werden in einem Bündnis aller "progressiven, liberalen, ‚linken' Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, ob sie nun aus der früheren APO kommen, sich zur Neuen Linken rechnen oder aus sozialdemokratischer, liberaler, christlicher oder einfach humaner Sicht radikal für Menschenrechte eintreten".

Holfort zog den Schluss: "Für uns heißt das: Bis zur wirklichen politischen Emanzipation aller Bürgerinnen und Bürger, vor allem auch bis zur Herstellung der Waffengleichheit im Gerichtssaal und gerechterer Verfahrensordnungen, sind die Interessen der genannten politischen Richtungen bei uns identisch."

Das aktuelle Verzeichnis der seit Jahren etwa gleichbleibend 800 RAV-Mitglieder und die personelle Zusammensetzung der heutigen Versammlung würden Werner Holtfort in diesem Sinne sicherlich freuen: denn die Stärke des RAV war und bleibt die Heterogenität der in ihm Organisierten. Sicherlich ist nicht (mehr) jedes Mitglied aktiv. Es wäre auch schöner, wenn die Regionen, die zu Beginn des Organisierungsprozesses so präsent waren, wieder eine größere Rolle spielten. Doch das Lamento über mangelnde Beteiligung der Kolleginnen und Kollegen lässt sich mittlerweile auch schon zwanzig Jahre zurückverfolgen und gehört fast zu den Grundkonstanten nicht nur unseres Vereins. Die personelle Kontinuität scheint also gewahrt. Das politische Spektrum des Vereins umfasst immer noch die unterschiedlichen linken und fortschrittlichen Strömungen, wobei die Unterschiede und der Streit um die richtige Auffassung nicht mehr ganz so ausgeprägt sind wie vor zwanzig Jahren.

Wie steht es aber um das von Holtfort formulierte Ziel, den Kampf um eine Freie Advokatur und ein demokratisches Recht?

Eine Frage, die sicher genauerer Untersuchungen bedürfte, eine Frage, die in ihrer Abstraktheit heute weder im RAV und noch bei den anderen Anwalts- und den Bürgerrechtsorganisationen intensiv diskutiert wird. Zur Freien Advokatur sei nur kurz angemerkt, dass einer der dringendsten Anlässe für den Zusammenschluss linker Anwältinnen und Anwälte in den 70er Jahren, die existenzielle Bedrohung durch Strafverfahren, strafprozessuale Maßnahmen gegen Verteidigerinnen und Verteidiger und Ehrengerichtsverfahren, entfallen ist. Heute muten uns nur noch wenige zu, als Organe der Rechtspflege für den Erhalt der Rechtsordnung und notfalls auch im Interesse des großen Ganzen gegen unsere Mandanten zu agieren. Wir sind - wie Holtfort formulierte - bereits vor fast vierzig Jahren aus der gemeinsamen Rechtsfront von Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten ausgeschieden. Diese Rechtsfront - so wie sie noch in den 70ern funktionierte - mit vielen alten Nazi-Juristen in wichtigen Funktionen in Justiz, Bürokratie und Wissenschaft existiert so im übrigen nicht mehr. Fortschrittliche Juristinnen und Juristen sind in allen gesellschaftlichen Positionen anzutreffen. Unvorstellbar für uns heute auch die Wucht, mit der unser großer Bruder, der DAV seinerzeit die neugegründeten Organisationen der Strafverteidigervereinigungen und den RAV angriff, die sich auch als bewusstes Gegenmodell zu der großen deutschen Anwaltsorganisation verstanden.

Nein, die wirkliche Bedrohung für die Freie Advokatur kommt heute aus einer ganz anderen Ecke: es sind die sich verschärfenden wirtschaftlichen Bedingungen vor allem für die kleinen Kanzleien und Einzelanwälte, für die vielen Idealisten in den Reihen der Anwaltschaft, die als Sozial- oder StadtteilanwältInnen, als Mietrechts-, Sozialrechts- oder FlüchtingsanwältInnen arbeiten. Angesicht der drastischen sozialen Kürzungen, die dem von uns vertretenen gesellschaftlichen Klientel gerade verordnet werden, und angesichts der zunehmenden Konkurrenzsituation innerhalb der Anwaltschaft muss man kein Prophet zu sein, um trotz der vorübergehenden Segnungen des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes eine veränderte Anwaltslandschaft und ein verändertes Berufsbild für die nächste Zukunft vorherzusagen. Allerdings sollte man die in den 80er Jahren geführte Diskussion um die "Anwaltsschwemme" nicht vergessen. Schon seinerzeit nahm Udo Reifner, ebenfalls auf dem bereits zitierten 2. Republikanischen Anwaltstag 1986, sehr dezidiert Stellung. "Die Verarmungstendenzen bei einem Teil der Anwaltschaft sowie die Schwierigkeiten für Berufsanfänger" entsprächen "allgemeinen Tendenzen in der Gesellschaft, von denen sich die Anwaltschaft immer weniger abkoppeln und abschotten kann". Er warnte vor einer Abschottung der Anwaltschaft nach außen und der inneren Formierung über Numerus Clausus und Auslese. Im übrigen schlug er zur Lösung des damaligen Problems der Anwaltschaft neben dem Verlassen des Ghettos des Rechtsberatungsgesetzes und des Standesrechts der Anwaltschaft vor, "die im Dienstleistungsbereich üblich gewordenen Fortschritte der erhöhten Produktivität durch Nutzung neuer Technologien, durch Kooperation und Gemeinschaftsnutzung mitzumachen" und betriebswirtschaftlicher zu arbeiten. Der erstaunlich aktuelle Debattenbeitrag legt gerade hinsichtlich der letzteren Vorschläge den Finger auf einen wunden Punkt : der Einsatz neuer Technologien mag mittlerweile selbst bei ehemaligen Maschinenstürmern durchgesetzt sein, aber wie viele von uns Idealisten haben ihr Büro nach rationalen arbeitsorganisatorischen oder betriebswirtschaftlichen Kriterien eingerichtet ?

Kommen wir zu dem vielleicht spannenderen Ziel, dem Kampf um das demokratische Recht. Die Kämpferinnen und Kämpfer für Demokratie und Menschenrechte scheinen heute gesellschaftlich allgemein anerkannt zu sein. Ehemalige und aktuelle RAV- Mitglieder bekleiden prominente Funktionen in Bundes- und Landesregierungen und in den Parlamenten. Selbst das ehemalige Enfant Terrible aus dem Sozialistischen Anwaltskollektiv, Christian Ströbele, kommt auch in etablierten Medien bei allen sich bietenden Gelegenheiten zu Wort. Es war und ist weder der beruflichen noch der politischen Karriere abträglich, in einer linken Anwaltsorganisation mitgearbeitet zu haben und mitzuarbeiten. In all den Jahren nach 1968 wurde eine nicht zu unterschätzende Infrastruktur von Organisationen, Vereinen, Stiftungen, Zeitungen, Veranstaltungen und eine mehr oder weniger funktionierende Infrastruktur aufgebaut - das linke Netzwerk hat gut funktioniert. Die kritische Anwaltschaft hat sich etabliert.

Die meisten der gesellschaftlichen Missstände allerdings, die in all den Jahren kritisiert und bekämpft wurden, bestehen heute noch:

- angefangen von der zunehmenden sozialen Ungerechtigkeit durch neoliberale Wirtschaftspolitik,
- über die unerträgliche Diskriminierung von Flüchtlingen und Nichtdeutschen und die faktische Abschaffung des Asylrechts,
- die immer noch trostlosen Verhältnisse in vielen deutschen Gefängnissen,
- die weitere Einschränkung von Rechten der Verteidigung,
- der Fortbestand politischer Justiz, zuletzt eingesetzt gegen Globalisierungskritikerinnen
- bis zur Zunahme von Überwachung durch Polizei und Geheimdienste und im privaten Bereich

ist selbst der Einsatz deutschen Militärs - zuweilen unter Bruch geltenden Völkerrechts- zur Normalität geworden. Fast alle der genannten Probleme stellen sich zudem nicht nur innerhalb der deutschen Grenzen, sondern im europäischen Rahmen noch drastischer. Wenn man dann noch den Blick außerhalb der Festung Europa wendet, realisiert man, das wir trotz der konstatierten Probleme immer noch auf einer Insel des Wohlstandes und der Rechtstaatlichkeit leben: Menschenrechtsverletzungen, wo man nur hinschaut.

Es wäre anmaßend, angesichts einer solchen - zugegebenermaßen verkürzten- Zustandsbeschreibung davon zu sprechen, die linke Anwaltschaft, kritische JuristInnen im allgemeinen und der RAV im besonderen verfügten über größeren gesellschaftlichen Einfluss oder gar zu behaupten, wir seien auf dem Weg zur Verwirklichung von Demokratie und Menschenrechten wesentlich vorangeschritten.

Wir haben in der Nach-Holtfort- Ära in unserem Verein, also spätestens in den 90er Jahren aufgehört, klassische Rechtspolitik zu betreiben, also uns an den bestehenden Machtstrukturen abzuarbeiten. Wir haben uns zunehmend an den nicht mehr ganz so neuen sozialen Bewegungen orientiert und deren Politikmodell übernommen. Die Öffentlichkeit, auch die alternative und linke Öffentlichkeit, ist mittlerweile so fragmentiert, dass unsere Aktivitäten gesellschaftlich nicht mehr so wahrgenommen, wie es zu Beginn der Vereinsarbeit war, als ein Artikel in zentralen Organen der Gegenöffentlichkeit der Frankfurter Rundschau oder in der "taz" von der Mehrheit der Linken und Alternativen rezipiert wurde.

In einzelnen regionalen und thematischen Nischen konnte der RAV in den vergangenen Jahren seine Stärken entfalten. Vorbildhaft für die Vereinsarbeit insgesamt könnte hier die Arbeit vieler norddeutscher Kolleginnen und Kollegen im Rahmen des Anti- Atomwiderstandes im Wendland sein. Dort gelingt es, spezielle juristische Kompetenz mit rechtspolitischen Aktivitäten wie die Anmeldung der Auftaktkundgebung gegen die Castortransporte und die kritische Beobachtung der Polizei im Bündnis mit den regionalen Initiativen zu verbinden. Auch die Vertretung von Mandanten im Ausländer- und Asylrecht, der Aufbau von Netzwerken von Anwältinnen und Menschenrechtsorganisationen und der rechtspolitische Einsatz gegen die Diskriminierung und die fast völlige Rechtlosstellung von Flüchtlingen ist seit Jahrzehnten ein Schwerpunkt der Vereinsarbeit. Viele von uns sind beruflich und politisch im Kampf gegen Rechtsradikalismus und Rassismus aktiv. Dabei ist es zu merkwürdig anmutenden Frontenverschiebungen gekommen: immer häufiger appellieren die einstigen Gegner und Kritiker staatlicher Macht an eben dieselbe, um Organisations- und Demonstrationsverbote und Strafverfolgung gegen rechte Straftäter und ihre Organisationen durchzusetzen.

Alles in allem sind alle aufgezählten Aktivitäten wichtige Arbeiten, die geleistet werden müssen. Aber es sind leider Rückzugsgefechte - Fortschritte, gar Visionen in Richtung einer gerechteren neuen Weltordnung, sind kaum zu erkennen.

Bestenfalls schaffen wir es im Verbund mit anderen Juristen - und Bürgerrechtsorganisationen bestimmte Gesetzesprojekte wie die Schily-Pakete nach dem 11.9.2001 zu skandalisieren. Doch trotz einer erstaunlich schnellen Reaktion eines breiten Bündnisses konnten wir die Gesetzesvorhaben nur wenig beeinflussen. Dies gilt umso mehr, wenn man an die ganz und gar nicht der Terrorismusbekämpfung dienenden europäischen Maßnahmen wie den Europäischen Haftbefehl denkt. Wir freuen uns, mit anderen deutschen Bürgerrechtsorganisationen wie der Humanistischen Union in Projekten wie dem alljährlich erscheinenden Grundrechtereport mitarbeiten und uns mit diesen mittlerweile regelmäßig zu treffen und austauschen zu können. Vielleicht ist diese Kooperation ein Schritt, um den - teilweise nur antiquiert zu nennenden - Flickenteppich der Organisationen zu überwinden und eine wirklich schlagkräftige Bürgerrechtsorganisation unter Einschluss fortschrittlicher JuristInnenorganisationen zu schaffen.

Die mittlerweile 17jährige Mitarbeit im Rahmen der Europäischen Anwälte (EDA) belegt ebenfalls, was kleine und engagierte Organisationen bewirken können. Als wir vor wenigen Jahren auf einem weitgehend unbeachteten Kolloquium in Amsterdam die Europäische Polizeibehörde Europol kritisierten, mutete dies noch avantgardistisch an - hatten doch die wenigsten Juristen Europa als Bezugsrahmen politischer Arbeit überhaupt entdeckt. Schon kurz darauf fanden wir uns neben Vertretern der Landesjustizverwaltungen, des niederländischen Parlamentes, neben Wissenschaftlern und selbst Bundesanwälten, die wie wir den Aufbau der europäischen Exekutive kritisierten, wieder. Wir sind seit den polizeilichen Maßnahmen gegen Globalisierungskritikerinnen in Göteborg und Genua im Sommer 2001 in Netzwerken europäischer Anwältinnen und Verteidigerinnen, u.a. dem "European Legal Team" vertreten. Frühzeitig beschäftigten wir uns mit dem Europäischen Haftbefehl und den Terrorismusbekämpfungsmaßnahmen im europäischen Raum. Mit unserer Kritik am Aufbau des Europäischen Strafprozessrechtes und unserem Vorschlag zum Aufbau eines europaweiten Netzwerkes von Strafverteidigern stoßen wir bei vielen europäischen Kolleginnen auf Interesse.

Doch spätestens hier kehrt sich unser unbestreitbarer Vorteil, unser Individualismus in einen Nachteil um. Bis jetzt hat die Organisationsvielfalt auf europäischer Ebene den Aufbau auch nur einer einzigen effektiven und professionellen Strafverteidigervertretung - um nur von diesen zu reden - verhindert.

So nett wir es uns also in all den Jahren eingerichtet haben, der Wind wird uns und vor allem denjenigen, die wir vertreten, in den nächsten Jahren aus verschiedenen Richtungen um die Ohren blasen. Wer mehr will, als nur Fußnoten zu dieser Entwicklung beizutragen, sollte sich gemeinsam mit uns und all den anderen hinsetzen und das Holtfortsche Projekt weiterentwickeln. Es gibt in dieser Gesellschaft gerade für uns kritische Anwältinnen und Anwälte noch genügend Freiräume. Wir sollten daher unsere Funktion als Scharnier zwischen unseren Mandanten, den sozialen Bewegungen, denjenigen, die das Ziel gesellschaftlicher Veränderungen noch nicht aufgegeben haben, einerseits und zwischen Justiz und Bürokratie andererseits sowie schließlich der Öffentlichkeit oder den Öffentlichkeiten ausbauen. Wir sollten unsere privilegierten Zugänge zu Informationen und Ressourcen und unsere gesellschaftliche Position nutzen und unsere nationale Beschränktheit aufgeben, um als Teil des europäischen und des Weltbürgertums daran mitzuwirken, dass Bürger- und Menschenrechte von der nationalen - da gibt es Arbeit genug- sondern auch auf der internationale Ebene verwirklicht, das heißt erkämpft werden. Es wäre schön, wenn wir uns in die aktuellen Diskussionen um die Weiterentwicklung des Völkerrechts einschalten und für die Durchsetzung des Rechts als Medium für die Lösung gewalttätiger inner- und zwischenstaatlicher Konflikte streiten würden. Das internationale Recht muss zum Recht aller Individuen auf universelle Menschen- und Bürgerrechte werden.

Wie notwendig unser Engagement ist, zeigt die aktuelle weltweite Folterdiskussion. In Deutschland wollen hohe Polizeifunktionäre, Teile der Rechtswissenschaft und der Öffentlichkeit das absolute Folterverbot aufweichen, obwohl es nach nationalem und vor allem internationalem Recht bindend ist. Als Anlass genügt ihnen ein abscheulicher Fall gemeiner Schwerkriminalität. Einmal mehr wollen sie übersehen, dass die Relativierung des Folterverbots stets in rechtsfreien Räumen münden muss wie sie zuletzt im irakischen Gefängnis Abu Ghraib zu besichtigen waren. In den USA argumentieren seit dem 11. September 2001 Juristen, dass der Zweck der Terrorismusbekämpfung (fast) alle Mittel erlaube. Auf den Kriegsschauplätzen wie Afghanistan, Guantànamo und im Irak werden die USA ihren Gegnern immer ähnlicher. Wenn wir also der Propagierung von Folter und der weltweiten Folterpraxis nicht wirksam entgegentreten, nehmen wir barbarische Zustände auch in den Teilen der Welt in Kauf, die sich bis heute als Hort der Zivilisation und Demokratie begreifen.

Welch wichtige Rolle Anwältinnen und Anwälte in diesem weltweiten Kampf spielen können, beweist das Beispiel Guantánamo : Setzten sich Anfang 2002 nur wenige Bürgerrechtler und vor allem Todeskandidaten-Verteidiger gegen die Zustände in dem US-Lager ein, haben sich mittlerweile ein Großteil der Weltöffentlichkeit, Rechtsanwälte weltweit, einschließlich einiger Großkanzleien, diesem Kampf angeschlossen. Die Entscheidung des US-Supreme-Court am 28. Juni 2004 in der Sache Rasul gegen Bush, nach der Guantánamo-Häftlinge Zugang zur US-Justiz haben sollen, könnte somit ein Meilenstein bei der Re-Installation rechtlicher Maßstäbe in rechtsfreien Räumen werden. Es liegt an uns, der Misshandlung von Menschen auf Guantánamo und anderswo ein Ende zu bereiten.