Zum Gedenken an den Widerstand der Deserteure

Wolfgang Kaleck Der Text bezieht sich auf eine Rede auf der stillen Kundgebung zum Gedenken an Deserteure und Kriegsdienstverweigerer der Wehrmacht am Dienstag, den 20. Juli 2004 in der "Gedenkstätte Deutscher Widerstand", im Bendlerblock - Ehrung und Kranzniederlegung mit Ludwig Baumann, Vorsitzender der Bundesvereinigung der Opfer der NS-Militärjustiz. Es ist eine Geschichte, der Deserteure und Kriegsdienstverweigerer der Wehrmacht zu gedenken und es ist eine andere Geschichte, dies am 20. Juli 2004, dem 60. Jahrestag des gescheiterten Attentates auf Hitler, in der Gedenkstätte des Deutschen Widerstandes, zwischen der offiziellen Veranstaltung der Bundesregierung und dem Bundeswehrgelöbnis zu tun.

Die Geschichte der Deserteure und Betroffenen der Militärjustiz zu erzählen wäre schon genug: Angefangen von den 30.000 Todesurteilen der Militärjustiz, den geschätzten 20.000 tatsächlich Hingerichteten bis zu den Folterungen, der Lagerhaft und dem Dienst in den Strafbatallionen. Wer sich die Einzelschicksale der wenigen Überlebenden durchliest, merkt schnell, dass sie nicht über einen Kamm zu scheren sind, wie Mario Kröger, Lorenz Schreimel, August Weiss, Peter Schilling und Kurt Baumgardt, um nur einige zu nennen. Sie kamen aus der Arbeitbewegung, aus katholischen Milieus oder aus Junkerfamilien, waren zum Teil politisch engagiert, einige auch nach dem Krieg, andere nicht. Diese Männer bilden einen vollständigen Kontrast zu den fanatisierten und Hitler zujubelnden Massen, den in Reih und Glied marschierenden, die Tod und Vernichtung über ganz Europa und darüber hinaus brachten. Sie sind Menschen geblieben, haben sich ihr Gewissen bewahrt, ihren natürlichen Lebenserhaltungstrieb und ihre natürliche Abwehr davor, andere, oft wehrlose, Menschen zu töten.

Doch nach dem Kriege wurde es ihnen nicht gedankt. Durch die erlittene Behandlung traumatisiert und oft physisch angeschlagen, mussten sich die meisten am Rande der Nachkriegsgesellschaft durchschlagen. Entschädigungen für die erlittene Haft, Anrechnung der Haftzeiten auf die Rente und strafrechtliche Rehabilitierung wurden ihnen oft von denselben furchtbaren Juristen verweigert, die wenige Jahre zuvor noch im Hitler-Justizapparat gedient hatten. Viele verschwiegen ihre Geschichte gegenüber Familie und Freunden, weil es den Millionen von Tätern, Mitläufern und denen, die zu Unrecht geschwiegen hatten, unerträglich war, wenn jemand vor ihnen stand, der die gelebte Möglichkeit verkörperte, dass es auch anders ging und ihnen den Spiegel vorhielt "auch ihr hättet anders gekonnt". Stattdessen strickten die Eliten und ihre Soldaten weiter an der Legende von der sauberen Wehrmacht, schwadronierten von dem Staat und der Ordnung, denen als zeitlosen Erscheinungen auch in schwersten Zeiten zu dienen sei und davon, dass Fahnenflucht auch zu anderen Zeiten und in anderen Ländern hart bestraft worden sei.

Das Gedenken an die "anderen Soldaten", die Befehle und den Dienst verweigerten, wurde zunächst nur von wenigen Schriftstellern, wie z.B. Heinrich Böll, hochgehalten. Es dauerte bis zur Friedensbewegung Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre, bis lokale Gruppierungen zur Schaffung von Deserteursdenkmälern und engagierte wissenschaftliche Forschungen, den Boden für politische Initiativen schufen, die Entschädigung und Rehabilitierung für Deserteure und Kriegsdienstverweigerer zum Ziel hatten. Doch es dauerte bis in das Jahr 2002, als viel zu spät für die allermeisten Überlebenden der Bundestag beschloss, alle Deserteure zu rehabilitieren.

So schön es ist, dass fast 60 Jahre nach Kriegsende diese Verfolgten des Naziregimes zumindest teilweise ihr Recht erhielten - wenn auch keine Entschädigung vorgesehen war - so unerträglich ist der Rückblick auf diese fast 60-jährige Skandalgeschichte, in der vor allem Rechtssprechung und Rechtswissenschaft eine bedeutende Rolle spielen. Keiner der Blutrichter wurde für seine Mordtaten in Robe juristisch zur Verantwortung gezogen. Sie durften nach dem Krieg auf ihren hochdotierten Richter- und Ministerialratsstühlen, in den Justitiaren von Großunternehmen und auf ihren Lehrstühlen Platz nehmen. Bis zu ihrem Tod konnten sie sich in der Öffentlichkeit in eigener Sache stets an prominenter Stelle äußern. Ein besonders abstoßendes Beispiel ist der ehemalige Kriegsrichter und Kommentator des Militärstrafgesetzbuches von 1944, Erich Schwinge, der nach dem Krieg als Ordinarius für Strafrecht nicht nur Rektor der Marburger Universität werden durfte: in der Festschrift zu seinem 70. Geburtstag schrieb die gesammelte bundesdeutsche Strafrechtselite .

Er selbst schrieb noch 1993 in der Juristenzeitung, die alle Juristen lesen, der Neuen Juristischen Wochenschrift, eine Anmerkung zum ersten bahnbrechendem Urteil des Bundessozialgerichts, das Hinterbliebenen eines Deserteurs eine Rente gewährt. So schrieb er in scheinbar wissenschaftlichem Gewand, dass das Gericht pauschalierend Tausende mit einem Stigma versehen und ihr Wirken allgemein in den Verdacht verbrecherischen Tuns rückt - und meinte damit sich selbst und die anderen ehemaligen Wehrmachtsrichter und ihre militärischen Beisitzer der Spruchkörper, welche an Todesurteilen beteiligt waren. Der ehemalige Blutrichter und nunmehr ordentliche Strafrechtsprofessor schließt mit der Feststellung, dass das Urteil des BSG aus dem Jahre 1991 nicht im Einklang mit dem stehe, was man als richterliche Verantwortung bezeichne.

Schwinge verstarb 1994. Der prominenteste der furchtbaren Juristen, Hans Filbinger, durfte sich jüngst, im Herbst 2003, zu seinem 90. Geburtstag aller Ehren, vor allem seiner Parteifreunde aus der CDU, erfreuen. Er wurde vor wenigen Wochen als Wahlmann in die Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten entsandt. Auf seiner Homepage lässt er sich allen Ernstes mit Dreyfus vergleichen und von dem Auftragsjournalisten Günter Gillessen einen Rechtfertigungsartikel schreiben, der behauptet, dass das Militärstrafrecht der Wehrmacht kein Geschöpf des NS-Staates, sondern das im Kern unveränderte deutsche Militärstrafrecht von 1872 gewesen sei und dem international üblichen entsprach und deshalb nicht als Nazirecht abgetan werden könnte.
Es ist bezeichnend, dass die Bundeswehr heute, wie jedes Jahr von kritischer Öffentlichkeit abgeschirmt, mit einem militärischen Ritual dem Widerstand gegen Hitler, der gemeinhin mit den Attentätern des 20. Juli 1944 in eins gesetzt wird, gedenkt und dabei die "anderen Soldaten" nicht erwähnt werden. Denn - ohne in platte Vergleiche abzugleiten - Kriegsdienst verweigern mag in Deutschland heute einfach sein, weil weniger deutsche Soldaten gebraucht werden.

Trotzdem: Die Bundeswehr akzeptiert bis heute nicht, dass Soldaten den Anspruch des Soldatengesetzes und Wehrstrafgesetzes ernst nehmen und nach sorgfältiger Prüfung rechtswidrige Befehle nicht befolgen. So heißt es in einem Urteil des Truppendienstgerichts Nord vom Februar 2004 zur Befehlsverweigerung eines Offiziers im Irak-Krieg:
"Vorsätzlicher Ungehorsam von Befehlen stellt stets ein sehr ernst zu nehmendes Dienstvergehen dar, da eine Armee ohne das Prinzip von Befehl und Gehorsam nicht bestehen kann. Die Gehorsamspflicht gehört daher zu den zentralen Pflichten eines jeden Soldaten. Fehlt die Bereitschaft zum Gehorsam, kann die Funktionsfähigkeit einer Armee gelähmt oder zumindest in Frage gestellt werden. Dies gilt erst recht, wenn ein Vorgesetzter, der zu beispielhaftem Verhalten verpflichtet ist, vorsätzlich Befehlen nicht nachkommt. Er untergräbt auf diese Weise seine Autorität und schädigt sein dienstliches Ansehen erheblich. So wichtig ist es für Streitkräfte in einem Rechtsstaat ist, dass ihre Soldaten ihnen erteilte Befehle gegebenenfalls auf Verbindlichkeit prüfen, so schädlich ist es für Streitkräfte, wenn Soldaten rechtmäßige Befehle nicht befolgen."

Dies sind die Ausführungen eines Truppendienstgerichts im Jahr 2004 zur Verweigerung eines Offiziers an der Beteiligung an einem, nach fast einhelliger Einschätzung bezüglich Kriegsgrundes als auch Kriegsführung, völkerrechtswidrigen Krieg.

Doch über die Bundeswehr reden wir ein anderes Mal. Der Wehrmachtsdeserteur Peter Schilling sieht sich in einem Interview nicht als hilfsloses Opfer, sondern als Handelnder. Für ihn bedeutet Desertation, aktive Weigerung, den Herrschaftsanspruch des NS-Regimes anzuerkennen. Die Würdigung seines Handelns will er nicht "irgendwelchen sogenannten Obrigkeiten" übertragen. Sein Wunsch soll respektiert werden, die Dichterin Ingeborg Bachmann zu seiner und aller Deserteure und Kriegsdienstverweigerer zu ehren zitiert werden. Die Uniform des Tages ist die Geduld, die Auszeichnung der armselige Stern der Hoffnung über dem Herzen ... Er wird verliehen für die Flucht vor den Fahnen für die Tapferkeit vor dem Freund für den Verrat unwürdiger Geheimnisse und die Nichtachtung jeglichen Befehls.