Die Perspektiven des Opfers
"Die Zahl rechtsextremer Taten ist laut Statistiken gesunken", titelte am 04. Januar 2003 die Frankfurter Rundschau. Die Länderinnenminister hatten für das Jahr 2002 durchgehend rückläufige Zahlen rechtsextremer Straf- und Gewalttaten gemeldet. In Brandenburg erkannte Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) einen Rückgang von 23% im Vergleich zum Vorjahr. Nur wenige Wochen später, am 13. Februar 2003, war in der gleichen Zeitung zu lesen: "Die Zahl rechtsextremer Straftaten ist im vergangenen Jahr erneut gestiegen." Zahlreiche Nachmeldungen hatten ergeben, dass rechtsextreme Gewalt- und Propagandadelikte überall zugenommen hatten. In Brandenburg verzeichneten die Behörden nun einen Anstieg von 8%.
Alltagsrassismus und Vollstreckergewalt
Die Täter sind, so die Brandenburger Justizministerin Barbara Richstein in ihrer Rede auf der Tagung "Opferschutz bei rechtsextremistischen und fremdenfeindlichen Straftaten" am 15. Februar 2003 in Potsdam, "fast ausschließlich junge Männer unter 25 Jahren". Und diese jungen Männer sind in einem Kontext sozialisiert, in dem das Vorurteil gegen Fremde eine gesellschaftliche Norm bildet: 42% von 1001 befragten Ostdeutschen sind der Auffassung, die Bundesrepublik sei "durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet", so ein Ergebnis der im April 2002 veröffentlichten Studie "Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland" der Freien Universität Berlin und der Universität Leipzig. In diesem gesellschaftlichen Umfeld fühlen sich die Schläger hinreichend legitimiert, das vermeintlich "gesunde Volksempfinden" zu vollstrecken.
Kollektive Viktimisierung
Doch nicht nur das unmittelbare soziale Umfeld eines Betroffenen wird bei einem Angriff in Mitleidenschaft gezogen. In aller Regel ist die Intention der Angriffe nämlich nicht, ein bestimmtes Individuum zu treffen. Vielmehr richten sie sich gegen tatsächliche oder vom Täter vorgestellte Kollektive, die als "unwert" oder "undeutsch" angesehen werden. Die Angreifer üben mit ihrer Tat nicht nur einen direkten Einfluss auf die angegriffene Person aus, sondern auf eine ganze Gruppe von Menschen. Daher ist bei rechtsextremer Gewalt von einer stellvertretenden Viktimisierung von Opfergruppen auszugehen. Das spiegelt sich in der Beratungsarbeit der Opferperspektive wieder, wenn einzelne Angriffe Auslöser dafür sind, dass zahlreiche potentielle Opfer beraten werden müssen.
Bei Opfern rassistisch motivierter Angriffe sind die Folgen der Gewalt oft besonders stark, weil der Angriff die erlebte gesellschaftliche Ausgrenzung und alltäglicher Diskriminierung zu bestätigen scheint. Asylsuchende, die von Gutscheinverpflegung und Heimunterbringung betroffen sind und durch Arbeitsverbote und Aufenthaltsbeschränkungen in soziale Isolation gezwungen werden, neigen dazu, sich als Opfer der deutschen Verhältnisse zu empfinden. Auf Grund negativer Vorerfahrungen mit staatlichen Behörden werden viele Angriffe nicht zur Anzeige gebracht. Das gilt noch stärker, wenn sich der Angriff außerhalb des als Aufenthaltsort zugewiesenen Landkreises ereignet, weil so eine Verletzung der Residenzpflicht offenbar würde.
Über 50 Prozent der von der Opferperspektive recherchierten Opfer sind deutsche Staatsbürger, die allermeisten davon "nicht-rechte Jugendliche". Jugendliche, die sich dem rechten Lebensstil nicht anpassen, werden bedroht und verdrängt. Jugendclubs, die sich nicht zumindest "neutral" verhalten, werden attackiert. Schüler, die offen demokratische oder linke Ansichten vertreten, gelten als "Zekken". Dieser Kampf wird auf fast jedem Schulhof, in vielen Jugendclubs, auf Tankstellen und Marktplätzen geführt. Gewalt und die Drohung mit Gewalt sind die zentralen Mittel zur Etablierung und Aufrechterhaltung rechter Hegemonie. Berücksichtigt man diesen Hintergrund, so sind vergitterte Jugendclubs nicht Ausdruck von Verrohung und Gewalt unter Jugendlichen, sondern schlicht eines demokratischen Abwehrkampfes. An vielen Orten in Brandenburg ist der rechtsextreme Mainstream bereits alternativlos. Wer keinen Ärger will, passt sich an.
Die Arbeit der Opferperspektive
Zu Beginn der Beratungsgespräche stehen immer die konkrete Tat und die Lage vor Ort im Mittelpunkt. Dabei zeigt sich immer wieder, dass es für die Betroffenen oft eine sehr große Bedeutung hat, dass sich jemand von außerhalb für ihr Problem interessiert. Wie sich das konkrete Unterstützungsangebot gestaltet, richtet sich dann vor allem nach den Bedürfnissen der Betroffenen.
Hilfe und Begleitung
Darüber hinaus bietet ein Strafprozess häufig eine gute Gelegenheit, die Sicht der Opfer über die Medien zu verbreiten, ein Anliegen, welches viele der Opfer haben. Der Umgang mit Medienvertretern gestaltet sich jedoch häufig kompliziert. Der Einzelne ist in aller Regel überfordert, insbesondere dann, wenn gleichzeitig eine Konfrontation mit den Tätern im Gerichtssaal bevorsteht. Je nach Fall und je nach den Bedürfnissen der Betroffenen schlägt die Opferperspektive eine Strategie zum Umgang mit Medienvertretern vor. Diese kann eine offensive Öffentlichkeitsarbeit und die direkte Ansprache von Medienvertretern bedeuten, sie kann jedoch auch daraus bestehen, die Opfer vor der medialen Öffentlichkeit abzuschirmen.
Ein weiteres Feld der Unterstützung ist die Hilfe zum Verlassen eines Ortes, wenn sich die Opfer weiterhin in Gefahr sehen. Dies spielt insbesondere bei Flüchtlingen eine große Rolle, die über die Residenzpflicht an einen Landkreis gebunden sind. Bei Betroffenen, die posttraumatische Belastungsstörungen aufweisen, bemüht sich die Opferperspektive, einen Kontakt zu Einrichtungen herzustellen, in der entsprechend geschulte Psychologen zur Verfügung stehen. Solche Einrichtungen existieren in Berlin, Frankfurt (Oder) und Potsdam. Auch hier gestaltet sich die Vermittlung entsprechender Hilfe an Asylsuchende aufgrund der staatlichen Sondergesetzgebung (Asylbewerberleistungsgesetz) immer wieder als besonders komplizierte und zeitintensive Angelegenheit.
Elemente einer demokratischen Strategie
Die Beratung und praktische Unterstützung der Opfer soll die Folgen der Angriffe für die Opfer erträglicher machen und der Einschüchterung und Demütigung entgegenwirken. Darüber hinaus wird angestrebt, im Prozess der Unterstützung lokale Netzwerke zu bilden, die für Opfer und potentielle Opfergruppen eine gewisse Schutzfunktion einnehmen können.
Die Teilnahme der Opferperspektive, zum Teil mit den Betroffenen, an lokalen Bündnissen führt zu einer Konfrontation mit der Perspektive der Opfer. Dadurch werden Stadtverwaltungen, politische Funktionsträger und andere aktivierbare Potentiale der Zivilgesellschaft dazu gedrängt, sich ernsthaft mit dem Problem auseinander zu setzen.
Die Angriffe werden in den Zusammenhang der institutionellen und nichtinstitutionellen Diskriminierung und Ausgrenzung gestellt. So kann die rechtsextremistische und rassistische Gewalt in ihrem gesellschaftlichen Kontext begriffen werden. Die relativierenden und negierenden Diskurse werden kritisiert. Dazu gehören die Einordnung des Angriffs in ein Panorama der Bedrohung der Gesellschaft durch Extremisten von links und rechts, die Klassifizierung der Gewalt als "jugendspezifisch" oder als "Randgruppenphänomen", die Diskurse vom "alkoholisierten Einzeltäter" und vom "Modernisierungsverlierer".
Durch die Intervention der Opferperspektive in lokale Bündnisse können Entsolidarisierungsprozesse mit den Tätern und ihrem Umfeld gefördert werden. Nötig ist hier nicht Verständnis für die Probleme des Täters, sondern ein Entzug jeglichen Respekts. Die Täter müssen durch soziale Nachteile für ihr Leben erfahren, dass rechtsextremistische und rassistische Gewalt in keiner Weise legitim ist.
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