Zeit der Aufklärung

Wolf Dieter Vogel
Durch die Öffnung der Archive könnten vermutlich viele Fragen zur Todesnacht von Stammheim beantwortet werden.
Die Wahrheit steht bereits um 8.58 Uhr fest: Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Gudrun Ensslin haben sich im Stammheimer Hochsicherheitstrakt das Leben genommen. Eine knappe Stunde nach dem die RAF-Gefangenen in ihren Zellen tot aufgefunden werden, lässt der baden-württembergische Justizminister Traugott Bender diese Information über dpa verbreiten. Um 14 Uhr erklärt Bundespressesprecher Klaus Bölling, dass die „Mitglieder einer terroristischen Vereinigung“ das „Mittel der Selbstzerstörung eingesetzt haben“. Zu diesem Zeitpunkt hat noch kein einziger Gutachter die Gelegenheit bekommen, die Toten in Augenschein zu nehmen. Die Sachverständigen werden aus „polizeilichen Gründen“ erst gegen 17 Uhr zu den Leichen vorgelassen.
Schon der Verlauf dieses 18. Oktobers 1977 ist beispielhaft für die Hartnäckigkeit, mit der deutsche Ermittlungsbehörden, Gerichte, parlamentarische Institutionen und Regierungsparteien von nun an jeden Versuch vereiteln, die tatsächlichen Ereignisse dieser Nacht in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim (JVA) ans Tageslicht zu bringen. Ein Untersuchungsausschuss des baden-württembergischen Landtags veröffentlicht seinen Abschlussbericht ohne die Ergebnisse der kriminaltechnischen Untersuchungen abzuwarten. Die Möglichkeit eines Mordes steht erst gar nicht zur Diskussion. Am 18. April 1978 stellt die Staatsanwaltschaft Stuttgart ein Todesermittlungsverfahren ein, weil „eine strafrechtlich relevante Beteiligung Dritter nicht vorliegt“. Mit der selben Antwort enden parlamentarische Anfragen, juristische Beschwerden und Versuche von Anwälten, den Widersprüchen der Selbstmordversion auf den Grund zu gehen.
Bis heute ist nicht geklärt, wie die Schusswaffen in die Zellen im 7. Stock kamen, mit denen sich Baader und Raspe erschossen haben sollen. 1980 verurteilt das Oberlandesgericht Stuttgart (OLG) die Verteidiger Arndt Müller und Armin Newerla zu mehrjährigen Haftstrafen. Versteckt in Hohlräumen, die in Anwaltsordner geschnitten waren, soll Müller während des Verfahrens gegen die Gefangenen im Stammheimer Mehrzweckgebäude die Waffen den Angeklagten weitergegeben haben. Dank ungenauer Kontrollen habe Müller als Verteidiger die Akten den Kontrollbeamten nicht aushändigen müssen.
Das OLG stützt sein Urteil einzig auf die Aussagen des Kronzeugen Volker Speitel, der am 2. Oktober 1977 festgenommen wird. Der ehemalige Mitarbeiter des Stuttgarter Anwaltsbüro Croissant/ Newerla/ Müller will die Ordner selbst präpariert haben. Während die Bundesanwaltschaft (BAW) darauf verzichtet, diese „gesicherten Erkenntnisse“ durch ausführliche Befragung von JVA-Mitarbeitern zu verifizieren, lässt die Verteidigung 34 Kontrollbeamte laden. 30 dieser Zeugen sind sich sicher, dass sie die Ordner immer genau durchgeblättert haben. Nur einer räumt Ungenauigkeit ein. „Speitels Transportversion“ sei damit zusammengebrochen, resümierte Newerla-Verteidiger Gernot Werschag.
Die mit dem OLG-Urteil festgeschriebene Version des Transportweges ignoriert die Verhältnisse dieser Zeit, dem Sommer 1977: Die RAF greift im Rahmen ihrer „Offensive 77“ führende „Vertreter von Staat und Kapital“ an, Stammheim gilt als sicherstes Gefängnis Deutschlands, die Zellen werden ständig durchsucht, das Stuttgarter Anwaltsbüro wird als legaler Stützpunkt der Guerilla denunziert, wegen des Vorwurfs der RAF-Unterstützung muss Croissant ins französische Exil flüchten. In dieser Situation sollen ausgerechnet dessen Bürokollegen ungestört Waffen durch Schleusen schmuggeln, an denen schon der harmlose Versuch von Prozessbesuchern scheitert, eine Zigarette ins Gebäude zu bringen?
Wie aber kommen dann die Waffen in die Zellen, die nach dem 18. Oktober dort gefunden werden? Die BAW spart sich die Mühe, nach Alternativen zu suchen. Nach einem vorläufigen Bericht der Landesregierung vom Dezember 1977 kommen jedoch verschiedene Personen unkontrolliert in die JVA, unter ihnen Polizeibeamte, „Angehörige des Bundesgrenzschutzes und der amerikanischen Militärpolizei“, sowie „im einzelnen festgelegte“ Personen, „die regelmäßig in die JVA kommen und deren Zuverlässigkeit überprüft wurde“. Außer Frage steht, dass Beamte des Bundesnachrichtendienstes (BND) im 7. Stock ein und aus gehen. Was genau treiben sie im Stammheimer Knast?
Doch selbst dann, wenn die Waffen mit Hilfe der Anwälte in den Trakt gelangt sein sollten, müsste diesem Wunder das nächste folgen. Noch am 5./6. September, nach dem die RAF den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer entführt, werden die Zellen der Gefangenen peinlichst genau durchsucht.
Baader soll die Pistole, die später neben seiner Leiche gefunden wird, in einem Plattenspieler aufbewahrt haben. Zwischen Juni und Oktober wird er aber dreimal verlegt, zuletzt am 4. Oktober. Kann er den Plattenspieler durch die mit jeder Verlegung verbundenen Kontrollen schleusen? Im Rahmen der Kontaktsperre-Verfügung, die den Gefangenen praktisch jeden Kontakt zur Außenwelt und untereinander untersagt, werden nach dem 6. September alle elektrischen Geräte penibel untersucht, der Plattenspieler geht durch die Hände von Beamten des Landeskriminalamtes und wird ihm erst zwei Wochen später wieder ausgehändigt.
Noch seltsamer verhält es sich mit jenem Wandversteck, in dem Raspe seine Waffe aufbewahrt haben soll. Raspe ist vom 25. Juni bis zum 4. Oktober in Zelle 718 untergebracht, danach wird er in die Zelle 716 verlegt, wo er nach der Todesnacht aufgefunden wird. Dort entdecken die Beamten ein „mutmaßliches Versteck in der Fensterwand“, in dem Raspe die Waffe gelagert haben soll. Der Gefangene kennt weder den Zellenverlegungsplan, noch war er je zuvor in dieser Zelle. Diese stand seit dem 26. Juni leer, oder, wie Karl-Heinz Weidenhammer, der Autor des Buches „Mord oder Selbstmord“ präziser ausdrückt: Sie war „nicht von Gefangenen aus der RAF belegt“. Wer aber kennt den Zellenplan und weiß, dass Raspe am 4. Oktober in die Zelle 716 verlegt wird? Wer hat sich sonst in diesem Raum aufgehalten?
Weitere offene Fragen folgen mit der Todesnacht. Die Pulverdampfkonzentration an der Einschussstelle in Baaders Nacken widerspricht der anfänglichen Annahme, er habe sich mit aufgesetzter Waffe erschossen. Nachdem die Ermittler dann feststellen, dass er kaum mit einer 17 Zentimeter langen Pistole aus einer Entfernung von 30 bis 40 Zentimeter selbst geschossen haben kann, entwickeln Beamte des BKA eine neue Theorie: Der Gefangene könnte einen Schalldämpfer benutzt haben. Ein Schalldämpfer wird aber in der Zelle nie gefunden.
Auch beim Tod der anderen beiden Gefangenen drängen sich Fragen auf. So ist unklar, wie sich Ensslin mit einem Kabel erhängen kann, das sofort reißt, als die Beamten die Leiche abhängen wollen. Eine Gewebeuntersuchung, die nachweisen kann, ob Ensslin schon tot ist, bevor sie in der Schlinge hängt, wird nicht gemacht. Und wie sich Irmgard Möller, die einzige Überlebende der Stammheimer Nacht, mit einem Plastikmesser bis zu sieben Zentimeter tiefe Stiche bis ins Herz und die Lungen versetzt haben soll, können auch die Strafverfolger nicht erklären. Außer einer kleinen Schere wird in ihrer Zelle keine andere „Stichwaffe“ gefunden.
Trotz dieser Widersprüche werden viele Indizien, die ein Fremdverschulden untermauern können, nicht weiterverfolgt: Wer hat Zugang zu jener Feuertreppe, über die man von außen direkt in den 7. Stock kommt? Warum fällt die Überwachungskamera, die auch den Eintritt über diese Treppe kontrolliert, ausgerechnet in dieser Nacht aus, wo sie doch noch kurz zuvor von Siemens-Arbeitern überprüft wird?
Noch immer ist ungewiss, ob die Ge-fangenen in der Nacht über die Erstür-mung der von einem palästinensischen Kommando gekaperte Lufthansamaschine Landshut informiert sind. Das Scheitern dieser Aktion und die damit verbundene Hoffnungslosigkeit gelten den Verteidigern der Selbstmordversion als Motiv für einen kollektiven Suizid. Ob der Tod der RAF-Gefangenen überhaupt mit dem Einsatz in Mogadischu, Somalia, in Verbindung steht, ist aber ohnehin nicht mehr nachweisbar. Da die Gutachter zu spät zu den Leichen vorgelassen werden, kann der Sterbezeitpunkt nicht mehr genau bestimmen werden.
Anders sieht es mit einem Tatmotiv für die möglichen Verantwortlichen eines Mordes aus. Es ist bekannt, dass in den während der Schleyer-Entführung eingerichteten Krisenstäben der Regierung „exotische Lösungen“ diskutiert werden und „das Undenkbare“ gedacht wird. Bereits zwei Tage, nachdem der Arbeitgeberchef in den Händen der RAF ist, wird am 8. September dort die Einführung der Todesstrafe als ein „Modell“ der Lösung des Terrorproblems vorgeschlagen, in zahlreichen Medien wird offen über „Standrecht“ und „kurzen Prozess“ fabuliert. Schon vorher erhält der „Privatdetektiv“ Werner Mauss von der Industrie Gelder, um Spezialaufträge gegen den Terrorismus durchzuführen. Wie diese „Spezialaufträge“ aussehen, ist nicht bekannt.
Warum also sollten nicht Geheimdienste und mit ihnen verbundene Personen – mit oder ohne Auftrag der Regierung – aktiv gewesen sein? Dass diese Behörden in ihrem „Kampf gegen den Terror“ zu dieser Zeit keine Grenzen kennen, hat etwa die Ermordung des Verfassungsschutzspitzels Schmücker im Jahre 1974 gezeigt. Nach wie vor steht also der Mordverdacht im Raum und die staatlichen Institutionen hätten die Möglichkeit, ihn aus dem Weg zu räumen. Durch die Öffnung der Archive. Durch die Veröffentlichung sämtlicher Aufzeichnungen von Gesprächen, die im Rahmen des kleinen und großen Krisenstabes geführt wurden, und aller Ton- und Videoaufnahmen, die im Stammheimer 7. Stock gemacht wurden. Durch die Offenlegung der Akten von BND und BKA.