Wer bringt Kissinger vor Gericht?

Wolfgang Kaleck Schon in den 1970ern und 80ern wurde Henry Kissinger von einzelnen Intellek-tuellen in Amerika und Europa als das bezeichnet, was er ist: ein Kriegsverbrecher. Diese Bewertung galt zumeist seiner Tätigkeit als Sicherheitsberater des US-Präsidenten Nixon bei den völkerrechtswidrigen Flächenbombardements in Laos und Kambodscha sowie beim Putsch gegen den demokratisch gewählten chilenischen Präsidenten Salvador Allende. Eine politische und moralische Bewertung. Nur wenige gebrauchten den Begriff „Kriegsverbrecher“ im juristischen Sinne, und noch seltener dachte jemand daran, dass Henry Kissinger und seinen Mittätern der Prozess gemacht gehöre. Einer dieser wenigen war General Telford Taylor, einst US-Chefankläger bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen. Taylor erklärte 1971, wenn der Maßstab von Nürnberg allgemein angewendet würde, also auch auf US-amerikanische Staatsmänner und Beamte, die den Vietnam-Krieg ersonnen hätten, dann bestünde die sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie das gleiche Ende nehmen wie der oberste Militärführer des japanischen Kaisers, General Yamashtia Tomoyuki, der mit dem Tod durch den Strang gestraft wurde. Wie zum Hohn wurde Kissinger 1973 mit dem Friedensnobelpreis belohnt. Bis heute ist er auf allen größeren internationalen Gesellschaften ein gern gesehener Gast.
In den weltweiten Debatten um den künftigen Internationalen Strafgerichtshof und insbesondere in der Diskussion um den Fall Pinochet fiel der Name Kissinger in den letzten Jahren immer häufiger. Der spanische Ermittlungsrichter Balthasar Garzon beschränkte sich bei seinen Untersuchungen der Verbrechen der chilenischen und argentinischen Militärdiktatoren nicht auf die Handlanger. Gegenstand der Ermittlungen wurde auch die sogenannte „Operacion Condor“, eine Verschwörung damaliger Militärdiktaturen im Süden Lateinamerikas (Argentinien, Chile, Brasilien, Uruguay, Paraguay, Bolivien). Unter Führung der USA hatten sie ihr gemeinsames Vorgehen gegen Regimegegner verabredet, das zumeist in Folterhaft und Tod der Oppositionellen endete. Im Zuge dieser Ermittlungen bemüht sich Garzon seit Jahren vergeblich um eine Zeugenaussage von Kissinger. Auch der französische Untersuchungsrichter Roger Le Loire versuchte, Kissinger als Zeugen vor Gericht zu zitieren. Er ließ ihm eine Terminsladung in ein Pariser Hotel zustellen, doch Kissinger entzog sich seiner Zeugenpflicht durch Flucht aus dem Hotel und aus Paris.
Und es sollte noch dicker kommen für den ehemaligen Sicherheitsberater und Außenminister der USA: Am 11. September 2001, dem 28. Jahrestag des Militärputsches in Chile, erhoben Opfer der „Operacion Condor“ gemeinsam mit der Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchu Strafanzeige gegen Henry Kissinger und andere, nämlich auch gegen den Ex-CIA-Direktor Helms, den CIA-Chef Wolters sowie die ehemaligen Diktatoren von Argentinien, Bolivien und Chile. Bisher gelang es Kissinger auch in diesem Verfahren, sich den Vorladungen zu entziehen, und er ließ die von Richter Guzman auf den Weg gebrachten Fragen unbeantwortet.
Noch näher auf die Pelle rückten ihm die Söhne des 1970 umgebrachten Generals René Schneider, des einstigen Oberbefehlshabers der chilenischen Amee. Schneider stand nach der Wahl des Sozialisten Allende zum Präsidenten des Landes den Interessen der USA und einer reaktionären, auf den Putsch hinarbeitenden Fraktion des chilenischen Militärs im Wege, so dass seine Entführung und später seine Ermordung beschlossen wurde. Aus mittlerweile veröffentlichten Dokumenten des US- Justizministeriums geht hervor, dass Kissinger wie andere US-Verantwortliche in die Pläne eingeweiht war, dass er Ratschläge gab, dass die Waffen aus den USA kamen und dass später 35 000 Dollar an einen der Mörder gezahlt wurden. Parallel zu diesen Bemühungen, Kissinger als Zeugen oder als Beschuldigten vor Gericht zu laden, widmete sich vor allem der Publizist Christopher Hitchens dem Fall Kissinger (s. Norman Paech: „Die Akte Kissinger“, Ossietzky 18/2001).
Hitchens veröffentlichte zunächst in Harpers Magazin einen langen Artikel „The Trials of Henry Kissinger“. Unter dem Titel „Die Akte Kissinger“ erschien das Buch auch in Deutschland. Vor allem zum Indochina-Krieg, zur völkerrechtswidrigen Okkupation Osttimors durch Indonesien 1975 sowie zu den gleich nach der Wahl Allendes einsetzenden, drei Jahre lang verfolgten Plänen, den Präsidenten wegzuputschen, zitierte Hitchens Dokumente, an denen ein Staatsanwalt schwerlich vorbeigehen kann. Herausragend sind die Beweise für massenhafte Kriegsverbrechen der USA und ihrer damaligen politischen und militärischen Führerschaft im Bombenkrieg gegen die bis dahin neutralen Staaten Laos und Kambodscha.
Das Buch animierte die international renommierten Filmregisseure Alex Gibney und Eugene Jarecki zu dem mittlerweile preisgekrönten Dokumentarfilm „The Trials of Henry Kissinger“. Der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) zeigte dieser Tage im Berliner Haus der Demokratie und Menschenrechte eine Vorabfassung. Im November lief der Film in dem Fernsehsender Arte. Die Regisseure bereiten auch eine 120 minütige Kinofas-sung für die USA vor. In Interviews wandten sie sich gegen die Ansicht der derzeitigen US-Machthaber, dass internationales Recht nicht auf Bürger ihres Landes anzuwenden sei.
Spätestens mit dem Projekt „Kissinger-Watch“ wurde deutlich, dass es sich bei der Beschäftigung mit Kissinger nicht um ein verspätetes persönliches Racheprojekt ehemaliger Vietnamkriegsgegner und enttäuschten 68er an einem verdienten Staatsmann handelt. „Kissinger-Watch“ ist eine Koproduktion deutscher, kanadischer, US-amerikanischer, chilenischer und osttimoresischer Menschenrechtsgruppen. Seit Ende 2001 veröffentlichte „Kissinger-Watch“  in mittlerweile neun Rundbriefen Dokumente und Artikel, die die strafrechtlichen Vorwürfe gegen Kissinger weiter untermauern; man erfährt dort auch, was engagierte Juristen unternehmen, um den Zeugen und Beschuldigten Kissinger endlich vor Gericht zu bekommen.

Dieser Text erschien auch in der Zeitschrift Ossietzky, Heft 18/2002