Die Archive öffnen!

25 Jahre Deutscher Herbst. Der Wahrheit eine Chance! Seit dem die Rote Armee Fraktion (RAF) im März 1998 ihre Auflösung bekannt gab, ist der bewaffnete Kampf in der Bundesrepublik Deutschland Geschichte. Viele Fragen aus jener Zeit sind bis heute ungeklärt. Während die Ermittlungsbehörden nach wie vor daran arbeiten, das Wirken der RAF aufzuklären, bleiben große Teile ihres Wirkens im Dunkeln. Zum 25. Mal jährt sich dieser Tage der Deutsche Herbst - und mit ihm die Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1977, in der in Stammheim die RAF-Mitglieder Jan Carl Raspe, Gudrun Ensslin und Andreas Baader starben und nach der Irmgard Möller schwer verletzt in ihrer Zelle erwachte. Bis heute weiß die Öffentlichkeit nicht, was in jener Nacht geschehen ist. Die offizielle Version, der zufolge sich die in Stammheim inhaftierten RAF-Gefangenen selbst umgebracht bzw. umzubringen versucht haben, wird zwar mittlerweile auch von einigen ehemaligen Mitgliedern der RAF gestützt. Sie können sich dabei aber nur auf Wissen vom Hörensagen stützen und auf Vermutungen. Irmgard Möller, die die Nacht überlebt hat, bestreitet nachdrücklich, dass sie sich selbst die Stiche in die Brust zugefügt hat. Ihr zufolge hat es auch keine Absprachen der Inhaftierten gegeben, sich im Fall eines Scheiterns der Geiselnahmen selbst zu töten.

Immer wieder wird öffentlich behauptet, dass die gefangenen RAF-Mitglieder getötet worden seien. Es soll im Verlauf des Deutschen Herbstes im Krisenstab der Bundesregierung Gespräche über eine Tötung der Gefangenen und andere "exotische Lösungen" gegeben haben. Die zuständigen Minister für Innen und Recht aus Baden-Württemberg haben seinerzeit eingeräumt, dass die Gefangenen aus der RAF lange Zeit in ihren Stammheimer Zellen abgehört worden sind. Wir denken, dass es Zeit ist, zu klären, wie die Gefangenen zu Tode kamen. Die Beantwortung dieser und anderer Fragen aus dem Deutschen Herbst erscheint uns historisch wichtig. Wir denken aber auch, dass ihre Beantwortung politisch relevant ist. Auch vor dem Hintergrund der aktuellen Maßnahmen gegen den internationalen Terrorismus könnten daraus Schlüsse gezogen werden, was in einem demokratisch verfassten Staatswesen wie der Bundesrepublik in einer Krisensituation möglich ist oder inwieweit die politischen Kontrollmechanismen auch in einer solchen Lage noch wirken. Für die Aufklärung der damaligen Ereignisse ist es unverzichtbar, die staatlichen Archive zu öffnen. Die Protokolle der abgehörten Gespräche in der JVA Stammheim müssen ebenso zugänglich gemacht werden wie die Protokolle der Krisenstabssitzungen und die die RAF betreffenden Akten aus den Beständen des BND und des Bundesamtes für Verfassungsschutz aus dieser Zeit. Der Verweis auf das Bundesarchivgesetz, das eine Veröffentlichungspflicht nach 30 Jahren vorsieht, geht fehl. Denn erstens erlaubt das Gesetz den aktenführenden Stellen, die Bestände selbst früher zu veröffentlichen. Zum anderen werden Bestände der deutschen Geheimdienste und andere als Verschlusssache qualifizierten Akten auch nach 30 Jahren nicht zur Veröffentlichung freigegeben. Die Bestände des Bundesarchivs in Koblenz über RAF und die staatlichen Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung aus den Jahren bis 1971 sind deswegen äußerst lückenhaft. Durch diese Praxis wird nicht nur die Aufarbeitung historisch wichtiger zeitgeschichtlicher Ereignisse verhindert. Es wird auch eine öffentliche Kontrolle von wesentlichen Staatsaktivitäten verhindert. Wir fordern die rot-grüne Bundesregierung und insbesondere Bundesinnenminister Otto Schily, der nach dem 18. Oktober 1977 nachdrücklich bezweifelte, dass seine Mandantin Gudrun Ensslin Selbstmord begangen habe, auf, darauf hin zu wirken, dass alle Akten, die zur Aufklärung der Ereignisse des Deutschen Herbstes beitragen können, umgehend veröffentlicht und zur Auswertung freigegeben werden.
Erstunterzeichner: Klaus Behnken (Journalist), Karin Beindorff (Deutschlandfunk), Ivo Bozic (Journalist, Jungle World), Prof. Kathrin Braun (Universität Hannover), Redaktion BSZ (Bochumer Stadt- und StudentInnen-zeitung), Prof. Dr. Theresia Degener (EFH Bochum), Axel Diederich (ID-Archiv, Amsterdam), Klaus Dreyer (Journalist), Christiane Ensslin, Matthias Gärtner (MdL Sachsen-Anhalt), Aenne Glienke, Dr. Rolf Gössner (Rechtsanwalt und Autor), Dorothee Gremliza (Konkret Literatur Verlag), Prof. Peter Grottian (FU Berlin), RA Dieter Hummel (Bundesvorstand Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen), Ulla Jelpke (PDS), Klaus Jünschke, Jung-demokratInnen/Junge Linke Berlin, Jusos Berlin, RA Wolfgang Kaleck (Bundesvor-sitzender des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins), Wolfgang Kessler (Redakteur), Angela Marquardt (PDS), Claus Peymann (Intendant des Berliner Ensembles), Volker Ratzmann (Rechtsanwalt und Mitglied des Abgeordnetenhauses Berlin), Peter Rosien (Journalist), Ilka Schröder (Mitglied des Europaparlaments), Dr. Stefan Schuster-Teupke (Physiker), Dr. Thomas Seiterich-Kreuzkamp (Journalist), Martin Sölle (Der andere Buchladen), Andrea Teupke (Jour-nalistin), Oliver Tolmein (Journalist), Wolf-Dieter Vogel (Journalist), Prof. Wolfgang Wippermann (FU Berlin), Udo Wolter (Autor und Dokumentar) Unterschriften mit Name, Adresse und Funk-tion bitte an folgende Email-Adresse:
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