Sie sind hier: RAV > PublikationenMitteilungen

RAV bestürzt über Freispruch nach Kopfschuss auf kurdischen Anwalt Tahir Elçi

Pressemitteilung, 12. Juni 2024

Der RAV ist bestürzt über die schlampigen Ermittlungen und den heutigen Freispruch der angeklagten Polizisten nach dem Tod des kurdischen Anwalts Tahir Elçi, der 2015 vor laufender Kamera mit einem Kopfschuss mutmaßlich von der Polizei getötet worden war. Als Teil einer Delegation von 16 Anwaltsorganisationen aus ganz Europa hatte der RAV den Prozess vor dem Strafgericht der kurdischen Stadt Diyarbakır/Amed im Südosten der Türkei beobachtet.

„Das ist ein besonders bedrückender Fall von Straflosigkeit“, sagt Miriam Frieding vom RAV. Sie ist Rechtsanwältin aus Berlin und Teil der Delegation. „Auch wenn der Freispruch der Polizei uns wenig überrascht, ist er dramatisch. Unserem Kollegen, seiner Familie sowie der gesamten Bevölkerung in der Türkei wurde damit jede Gerechtigkeit verwehrt“, so die Rechtsanwältin. Für sie zeigt das Urteil einmal mehr, dass die Justiz im autoritären Regime unter Recep Tayyip Erdogan nicht unabhängig und unparteiisch ist.

Der getötete Tahir Elçi war ein international geschätzter Menschenrechtsanwalt, Präsident der Anwaltskammer von Diyarbakır und bekannt, weil er vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mehrere Fälle zur Zwangsräumung kurdischer Dörfer, dem Verschwindenlassen von Personen, Hinrichtungen im Schnellverfahren sowie Folter und Misshandlungen staatliche Kräfte geführt hatte. Der 1966 in Cizre geborene Kurde setzte sich für Frieden ein und forderte: „Wir sagen, der Krieg, die Kämpfe, die Waffen, die Einsätze sollen fernbleiben von hier.“

Er war am 28. November 2015 in Diyarbakır getötet worden. Zu diesem Zeitpunkt war er 49 Jahre alt. Erst nach einem Gutachten der unabhängigen NGO Forensic Architecture aus London (im Auftrag der Anwaltskammer Diyarbakır) kam es zu einer Anklage. Die Expert*innen haben den Fall rekonstruiert (siehe dieser Bericht) und in diesem Video nachgestellt. Durch die 3D-Rekonstruktion von Bauplänen, Video- und Satellitenaufnahmen kamen sie zu folgendem Schluss:

Kurz vor dem Tod von Elçi habe es in der Nähe einen bewaffneten Überfall der PKK-Jugendorganisation gegeben, bei dem zwei Polizisten getötet wurden. Die Täter flohen ausgerechnet in die Nebenstraße, in der Anwalt Elçi gerade eine Pressekonferenz abgab, in der er sich für Frieden in den kurdischen Gebieten ausgesprochen hatte. Es liefen zahlreiche Kameras. Als die Täter dort vorbeirannten, eröffneten Zivilpolizisten das Feuer. Getroffen wurde – durch einen Schuss von hinten in den Kopf – nur eine Person: Tahir Elçi.

Vor diesem Hintergrund halten die Expert*innen es für wahrscheinlich, dass Elçi durch eine Kugel von einem der drei Polizisten getötet worden sein könnte. Einen Untersuchungsausschuss dazu hatten AKP und MHP abgelehnt. Angeklagt wurden schließlich drei Polizisten wegen fahrlässiger Tötung. Die Anklage hatte eine Haftstrafe von mindestens zwei und maximal sechs Jahren gefordert.

„Gesehen haben wir allerdings ein Verfahren, das – 5 Jahre verspätet begonnen hat – und mit riesigen Mängeln behaftet war“, kritisiert Frieding. „Hier wurden die Grundprinzipien des Strafverfahrens missachtet.“ Die Beobachterin fürchtet, das Urteil könnte abschreckend auf andere gefährdete Anwält*innen wirken.

Doch der Kampf um Gerechtigkeit ist mit dem heutigen Urteil nicht vorbei. Es soll Berufung eingelegt werden. „Die internationale juristische Gemeinschaft ist verpflichtet, diesen Fall weiterzuverfolgen und unsere Kolleg*innen in der Türkei zu unterstützen. Der Kampf gegen Straflosigkeit und für Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit muss weitergehen - so lange wie nötig.“

Neben dem Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) drücken unter anderem folgende Organisationen ihre Bestürzung über das Verfahren und ihre Solidarität mit den Betroffenen aus: aus Italien Rechtsanwaltskammer Bologna, Rechtsanwaltskammer Turin, Rechtsanwaltskammer Pisa, aus Frankreich Rechtsanwaltskammer Paris, Rechtsanwaltskammer Lyon, Rechtsanwaltskammer Senlis, Rechtsanwaltskammer Nantes, aus den Niederlanden Rechtsanwaltskammer Amsterdam, Rechtsanwaltskammer Rotterdam, aus Spanien Rechtsanwaltskammer Madrid, aus Deutschland Rechtsanwaltskammer Berlin sowie International Observatory for Lawyers in Danger, Union of Italian Penal Chambers, Defense Sand Frontières avocats solidaires, Conference des Baronnierd de France, Human rights Committee of the council of bars and Law Societies of Europe, Layers for Lawyers, European bar federation, Avocats Européens Democrates, Observatory for the Protection HRDs.

Mehr Informationen zu dem Fall finden sich auch in dieser gemeinsamen Erklärung von den folgenden Organisationen: Human Rights in Practice; Indian Association of Lawyers; Bruxelles Bar Association (Ordre des avocats du Barreau de Bruxelles); Democratic Lawyers Association of Bangladesh (DLAB); Legal Centre Lesvos Monitoring Committee on Attacks on Lawyers; International Association of People’s Lawyers; International Association of People’s Lawyers-Australian Branch; Rennes Bar Association (Ordre des Avocats du Barreau de Rennes, France); Rotterdam Bar Association (the Netherlands); Observatory Endangered Lawyers – Italian Union of Criminal Chambers (Osservatorio Avvocati Minacciati, UCPI); Seine-Saint Denis Bar Association (France); Nantes Bar Association (France); Turin Bar Association (Italy)