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Prozessauftakt im Ermittlungskomplex »NSU 2.0«

Gemeinsame Pressemitteilung von RAV, VDJ und Strafverteidigerorganisationen, 15.2.2022

RAV, VDJ und Strafverteidigervereinigungen kritisieren hessische Ermittlungsbehörden:
Die Verstrickung der hessischen Polizei in die Drohserie wird nicht aufgeklärt.

Am 16. Februar 2022 beginnt vor dem Landgericht Frankfurt/M. der Prozess gegen den 54-jährigen Alexander M., der von 2018 bis 2021 eine Vielzahl von Drohschreiben u.a. mit volksverhetzendem Inhalt unter dem Kürzel »NSU 2.0« an Menschen versandt haben soll, die sich als Politiker*innen, Anwält*innen und Künstler*innen klar gegen Rassismus und Antisemitismus positioniert haben.

Erste Adressatin dieser Schreiben war unsere Kollegin, die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, die im Verfahren gegen die rechtsextreme Terrorzelle NSU Angehörige der Mordopfer in der Nebenklage vertreten hatte. Zu ihren Mandant*innen gehörten darüber hinaus mutmaßliche Islamisten, die sie in Straf-, Ausweisungs- und Abschiebeverfahren anwaltlich vertrat.

Unsere Kollegin und ihre Familie wurden in rund 20 Schreiben über Monate hinweg aufgrund ihrer anwaltlichen Tätigkeit mit dem Tod bedroht, und zwar unter Nennung persönlicher Daten, die nicht öffentlich zugänglich sind. Sie musste daher umfangreiche Sicherungsmaßnahmen an ihrem Haus vornehmen und war gezwungen, zeitweise Polizeischutz in Anspruch zu nehmen.

Polizei in Frankfurt/Main und »NSU 2.0«

Im Rahmen der Ermittlungen stellte sich heraus, dass ca. eine Stunde vor dem Versenden des ersten Drohfaxes am 2. August 2018 die persönlichen Daten und die Privatadresse von Frau Başay-Yıldız und ihrer gesamten Familie in mehreren polizeilichen Datenbanken auf dem 1. Polizeirevier Frankfurt/M abgefragt worden waren. Ihre abgerufene Meldeadresse wurde zudem am Abend desselben Tages im Internet veröffentlicht. Der Weg der Drohschreiben führt damit ganz offensichtlich auch über das 1. Polizeirevier in Frankfurt. Auch in zwei weiteren Fällen waren persönliche Daten von Empfänger*innen der Drohschreiben von hessischen Polizeicomputern aus abgefragt worden.

Die Ermittlungsverfahren gegen die Polizeibeamt*innen laufen bis heute, allerdings sehr schleppend.

Staatsanwaltschaftliche Ermittlungslücken

Mit der Anklage gegen Alexander M. hat die Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main die Frage, wie Alexander M. an die persönlichen Daten unserer Kollegin gekommen ist, nicht beantwortet. »Die Verbindung zwischen der Abfrage der persönlichen Daten unserer Kollegin über einen Polizeicomputer und dem Verschicken von Drohschreiben stellt eine ernsthafte Gefährdung für unsere Kollegin und ihre Familie dar«, erklärt die stellvertretende Vorsitzende des RAV, Rechtsanwältin Nedelmann. »Wenn der Staat hier nicht aufklärt, sondern sich weiterhin weigert, konsequent auch gegen Beschuldigte aus polizeilichen Kreisen zu ermitteln, dann haben wir ein verfassungsrechtliches Problem.«

Mit besonderer Sorge beobachten die Anwaltsvereinigungen, dass der hessische Innenminister Beuth die Anklage als Anlass genommen hat, die Polizei als entlastet zu sehen. So teilte das hessische Innenministerium der Deutschen Presse-Agentur auf Anfrage im Oktober 2021 mit: »Hessische Polizistinnen und Polizisten waren zu keinem Zeitpunkt Absender oder Tatbeteiligte der NSU-2.0-Drohmails-Serie«.(1)

»Nur wenn auch die Frage einer möglichen Verstrickung hessischer Polizeibehörden aufgeklärt ist, kann der Ermittlungskomplex NSU 2.0 abgeschlossen werden«, erklärt Rechtsanwältin Gilsbach aus dem Vorstand des RAV. Die VDJ, die Strafverteidigervereinigungen und der RAV werden daher das Verfahren mit großer Aufmerksamkeit beobachten.
 

  • Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV e.V.)
  • Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ e.V.)
  • Organisationsbüro der Strafverteidigervereinigungen


(1) Vgl. Die Welt v. 28.10.2021, »Beuth: Polizisten bei ›NSU 2.0‹ zu keinem Zeitpunkt Mittäter«, https://www.welt.de/regionales/hessen/article234701792/Beuth-Polizisten-bei-NSU-2-0-zu-keinem-Zeitpunkt-Mittaeter.html

Pressekontakt:
Rechtsanwältin Franziska Nedelmann, Tel.: 030.41 72 35 55

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