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Entwurf des sog. Chancen-Aufenthaltsrechts (Ch-AR)
Offener Brief

Brief an Bundesministerin Faeser und Staatsministerin Alabali-Radovan, AG Migrationsrecht Süd im RAV, 31.10.2022

Nürnberg/München, 31.10.2022

Offener Brief an

Bundesministerin des Innern und für Heimat,
Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, zugleich Beauftragte für Antirassismus und die zuständigen Ausschüsse des Bundestags

Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrte Frau Bundesministerin Faeser,
sehr geehrte Frau Staatsministerin Alabali-Radovan,

derzeit diskutieren Sie im Bundestag bzw. in den Ausschüssen den Entwurf des sog. Chancen-Aufenthaltsrechts (Ch-AR). Dieser soll insbesondere Langzeitgeduldeten eine Perspektive bieten und es Menschen mit bisher ungeklärter Identität ermöglichen, erst einen sicheren Status zu erhalten, um dann ihre Identität zu klären.

Im Rahmen der Verbändebeteiligung haben die Anwaltsverbände RAV und DAV bereits angemerkt, dass der Text zur geplanten Regelung zwar in die richtige Richtung weist, aber an entscheidenden Stellen nicht nachvollziehbare Einschränkungen enthält (wie z.B. die Stichtagsregelung 01.01.2022 oder die Beschränkung auf Duldungsinhaber*innen).

In einer Stellungnahme zum Entwurf des Chancen-Aufenthaltsrechts vom 30.09.2022 bezog sich auch die bayerische SPD-Landtagsfraktion auf diese Kritik. Sie äußert darin die Besorgnis, dass aufgrund der »restriktiven Asylpolitik, die sich in rigidem Vollzug durch Ausländerbehörden widerspiegelt«, ohne Normenklarheit und exakte Formulierungen das Chancen-Bleiberecht in Bayern kaum Verbesserungen brächte.

Mit diesem Offenen Brief wollen wir als bayerische Rechtsanwält*innen im Migrationsrecht diese Besorgnis teilen und mit unserer beruflichen Erfahrung inhaltlich unterfüttern. Wir schließen uns ausdrücklich den Forderungen aus der Stellungnahme (s.u.) nach einer Nachbesserung des Gesetzes an.

Die folgende Faktensammlung dazu wurde auf den Bayerischen Migrationsrechtlichen Tagen vom 7. bis 9. Oktober 2022 in Berching erarbeitet. Auf dieser jährlich stattfindenden Tagung diskutieren regelmäßig über 30 Rechtsanwält*innen vor allem aus Bayern aktuelle Entwicklungen im Asyl- und Migrationsrecht und schulen sich gegenseitig in der praktischen Rechtsanwendung.

Die Erfahrungen der Jurist*innen mit bayerischen Behörden zeigen:

  • Bereits in der Vergangenheit wurden Bleiberechtsregelungen (sog. Altfallregelungen der IMK nach § 104a AufenthG) durch die bayerischen Behörden unterlaufen.
    So ist hier beispielhaft § 25 Abs. 5 AufenthG zu nennen. Schon diese Norm sollte Kettenduldungen verhindern und Langzeitgeduldeten eine Perspektive ermöglichen. Der Aufenthalt ›soll‹ nach 18 Monaten der Duldung erteilt werden. Da es sich durch den Wortlaut eben um keinen Anspruch handelt, üben Behörden Ermessen aus. In Bayern führt das aber dazu, dass der § 25 Abs. 5 AufenthG faktisch leerläuft, da nach Erfahrung der Anwaltschaft die Ausländerbehörden das Ermessen meist lediglich zulasten der Antragstellenden ausüben.
  • Jahrelang (aufgrund von Passlosigkeit) Geduldete bekommen plötzlich – und erstmals – Aufforderungen zur Botschaftsvorsprache. Diese behördliche Aufforderung deuten bayerische Gerichte bereits als einen staatlichen Vorbereitungsvorgang zur Abschiebung. Mit der Argumentation, dass nunmehr ja die Abschiebung betrieben würde, werden dann Duldungen zunächst nicht verlängert.
  • Häufig wird bei Asylantragstellenden nach negativem Abschluss des Asylverfahrens nur eine sogenannte Grenzübertrittsbescheinigung (GÜB) ausgestellt, obwohl nach dem Gesetz eine Duldung zu erteilen wäre. Entsprechende Berichte gibt es aus nahezu allen Regierungsbezirken.
 

Dies ist ein eklatanter Verstoß gegen geltendes Recht. Das AufenthG sieht einen abgeschlossenen Katalog von Aufenthaltstiteln vor. Die Grenzübertrittsbescheinigung (GÜB) gehört nicht dazu. Sie ist ein gesetzlich nicht geregelter Sonderstatus, der in Bayern systematisch rechtswidrig erteilt wird. Das Chancen-Aufenthaltsrecht setzt vorherige Duldungszeiten voraus. Diese werden in Bayern systematisch nicht erreicht, da immer wieder GÜB erteilt werden und somit der erforderliche Duldungszeitraum unterbrochen und im Ergebnis dann nicht erreicht wird, obwohl die Menschen rein zeitlich die vorausgesetzten Aufenthaltszeiten erfüllen.

Auch bei Menschen aus dem Irak – für die es seit 20 Jahren einen faktischen Abschiebestopp gibt – werden nunmehr GÜB statt Duldungen erteilt.
In einigen Fällen werden Duldungen widerrufen, obwohl sich an der Nicht-Durchführbarkeit der Abschiebung seit Monaten nichts geändert hat.

Andere Kolleg*innen berichten, dass Mandant*innen in Oberfranken gleich gar keine Ausweisdokumente (Duldungen oder GÜB) mehr ausgestellt werden.
Die Verweigerung oder der Entzug von Duldungen hat zur Folge, dass Betroffene aus dem Ch-AR in der derzeitigen Fassung herausfallen – und das nur aufgrund einseitiger Handlungen der Behörden.

Kurz: In sehr vielen Fällen ist es willkürlich und rechtswidrig, dass Personen nur eine GÜB, statt einer Duldung erhalten.

Immense Zunahme von Ausweisungsverfahren bei Langzeitgeduldeten einzig aufgrund aufenthaltsrechtlicher Verstöße

In vielen der Fälle ist ein sachlicher Grund, die Ausweisung gerade jetzt zu verfügen, nicht erkennbar. Hier vermutet die Anwaltschaft keinen Zufall, denn eine Ausweisung verhindert die spätere Erteilung eines Aufenthaltstitels. Auch hier führt das Handeln bayerischer Ausländerbehörden dazu, dass das Ch-AR in weiten Teilen zukünftig leerlaufen wird.
Ziel des Ch-AR ist auch die Identitätsklärung. Durch die Ausweisung wird dies verhindert, da Betroffene erst recht nicht bei der Identitätsklärung mitwirken werden, wenn ihnen eine Aufenthaltsperspektive verwehrt wird.

Auffallende Häufung von Strafanzeigen im Jahr 2022 wegen fehlender Pässe

In den Strafverfahren beobachten unsere Mitglieder, dass die von Staatsanwaltschaften geforderten Strafhöhen steigen und inzwischen nicht selten auch bei erstmaligen Verstößen Strafen von bis zu 120 Tagessätzen aufgerufen werden (die der Gewährung eines Aufenthaltstitels entgegenstehen).
Wurden Strafverfahren eingestellt oder ergingen Strafen unter den ›magischen Grenzen‹ von 50/90 Tagessätzen, so reagierten die Ausländerbehörden nicht selten umgehend mit Ausweisungsbescheiden.

Auch kam es bereits zu Versuchen von Abschiebungen von Menschen, die künftig vom Ch-AR profitiert hätten – am bekanntesten ist sicherlich der Fall eines Iraners aus Passau, der von der Ausländerbehörde unter Vorspiegelung falscher Tatsachen vorgeladen wurde, um ihn dann in Abschiebehaft zu nehmen. Der Abschiebungsversuch wurde erst nach massivem öffentlichen Druck abgebrochen.

Der beschriebene Aktionismus der Ausländerbehörden ist besonders vor dem Hintergrund bemerkenswert, dass dieselben Behörden seit langem vorgeben, überlastet zu sein, wenn es um die Erteilung von Aufenthaltstiteln geht.

Die genannten Maßnahmen der Behörden lesen wir vor diesem Hintergrund als gezielte Versuche, die Betroffenen aus den Tatbestandsvoraussetzungen des geplanten § 104c AufenthG zu drängen und so die Bleiberechtsregelung bereits vor deren Erlass zu unterminieren.
Andere Bundesländer haben Vorgriffsregelungen auf das Ch-AR erlassen – Bayern versucht im Gegenteil, den Anwendungsbereich des Ch-AR bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes so gering wie möglich zu halten.

Frau Reem Alabali-Radovan, in Ihrem Grußwort auf den Hohenheimer Tagen zum Migrationsrecht 2022 wiederholten Sie die guten Absichten der Regierung:
»In der neuen Bundesregierung wollen wir mit verkrusteten Strukturen aufräumen. Wir wollen die Paragraphen im SGB, im Aufenthalts - und im Asylgesetz auf die gesellschaftliche Wirklichkeit ausrichten. Wir wollen den alten Streit, das Mauern und Blockieren in der Integration hinter uns lassen. Wir wollen Deutschland als modernes Einwanderungsland voranbringen«.

Frau Nancy Faeser, in der ersten Lesung zum Ch-AR im Bundestag äußerten Sie:
»Das Chancen-Aufenthaltsrecht ist das Ende der Kettenduldungen und damit auch das Ende der Bürokratie und vor allen Dingen der Unsicherheit, die für die Menschen damit verbunden war. Für die betroffenen Menschen war das eine große Belastung. Aber auch für die Behörden waren Kettenduldungen schwierig, übrigens auch für viele mittelständische Unternehmen, die gut integrierten Menschen gerne eine Perspektive in unserem Land geben wollen. Es ist allerhöchste Zeit, das zu ändern«.

Aufgrund unserer Erfahrungen im bayerischen Migrationsrecht gehen wir davon aus, dass das Ch-AR – wenn es bei den derzeitigen unscharfen Formulierungen, möglichen Einschränkungen und Ermessensspielräumen bleibt – für die allermeisten unserer geduldeten Mandant*innen keine Verbesserungen bringt.

Bayern hat bereits die gesetzlichen Bestimmungen zur Ausbildungsduldung in bundesweit einmaliger Praxis systematisch unterlaufen. Dies darf sich nicht mit dem Ch-AR wiederholen!

Die Bundesregierung muss den Gesetzesentwurf des Ch-AR dringend nachbessern

Aus bayerischer Perspektive werden wir sonst eine Abkehr vom ›Mauern und Blockieren in der Integration‹ nicht erkennen können und auch kein Ende der Kettenduldungen.

Gute Absichten und schöne Formulierungen nutzen unseren Mandant*innen nichts – nur harte (»gerichtsfeste«) Rechtsansprüche.

Mit freundlichen Grüßen

RAV Migrationsrecht Süd
 

Im Einzelnen sind mindestens folgende Änderungen notwendig

  • Der Anwendungsbereich des § 104c AufenthG-E muss auf vollziehbar ausreisepflichtige Personen erweitert werden, statt ihn auf geduldete Personen zu begrenzen;
  • die Stichtagsregelung sollte gestrichen werden oder zumindest auf den Tag des Inkrafttretens des Gesetzes festgelegt werden;
  • die Formulierung des § 104c AufenthG-E muss von »soll erteilt werden« zu »ist zu erteilen« geändert werden, um zu vermeiden, dass bayerische Behörden ihr Ermessen (Aufenthaltserlaubnis »soll« erteilt werden) einseitig zu Ungunsten der Betroffenen ausüben;
  • die Anzahl der Tagessätze muss auf 60/120 Tagessätze als Ausschlusskriterium für das Ch-AR erhöht werden;
  • die Laufzeitbegrenzung muss geöffnet, aber mindestens um zusätzliche zwei Jahre verlängert werden; die Möglichkeit des Hineinwachsens in andere Aufenthaltserlaubnisse, z.B. zur Berufsausbildung oder zur beruflichen Weiterbildung oder zum Zweck eines Studiums muss gegeben sein;
  • die Kriterien zum Passerfordernis müssen zumutbar sein und sollten exemplarisch aufgeführt werden, so beispielsweise hinsichtlich der Sondersteuer in Eritrea und der Verpflichtung zur Wehrpflicht in einigen Ländern, denn diese Fälle dürfen nicht zu einer Unmöglichkeit der Passbeschaffung führen;
  • Es sollte eine Regelung in §§ 25a und 25b AufenthG eingeführt werden, wonach bei Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Identitätsklärung zwingend von diesem Erfordernis abgesehen werden muss;
  • Die vorgesehene Absenkung des Ausweisungsschutzes für Schutzberechtigte ist unionsrechtswidrig und zu streichen;
  • Die Verschärfung der Abschiebungshaft für straffällig gewordene Personen ist abzulehnen.


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