Unterbindung und Einschränkung anwaltlicher Tätigkeiten bei dem Versammlungsgeschehen am Wochenende in Leipzig nach den Urteilen im "Antifa-Ost"-Prozess
Im Rahmen der Proteste gegen die Verurteilung von Antifaschist*innen vorletzte Woche und gegen die Einschränkung der Versammlungsfreiheit in Leipzig kam es als Reaktion hierauf verschiedentlich zu freiheitsentziehenden Maßnahmen durch die Sächsische Polizei. Insbesondere setzte die Polizei am Samstag, den 03.06.2023 etwa 1.000 ehemalige Teilnehmer*innen einer Versammlung in einem sogenannten „Leipziger Kessel“ am Alexis-Schumann-Platz fest.
»Der RAV verurteilt das Vorgehen der Polizei aufs Schärfste. Rechtswidrig wurde den Betroffenen der Zugang zu vor Ort anwesenden Anwält*innen verweigert. Dass der sächsische Innenminister das fehlerhafte Vorgehen der Polizei beim „Leipziger Kessel“ deckt und Aufklärung verweigert, ist Ausdruck eines völlig verschobenen Diskurses, der autoritäre und rechte Strömungen weiter befeuert.«, so Rechtsanwalt Dr. Peer Stolle, Vorsitzender des RAV.
Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 6 III c der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie § 137 Abs. 1 der Strafprozessordnung garantieren allen Beschuldigten in Strafverfahren, sich in jeder Lage des Verfahrens von einem/einer Anwält*in verteidigen zu lassen. Mehreren im RAV organisierten Rechtsanwält*innen wurde trotz dieses grundlegenden Anspruchs der Betroffenen auf rechtlichen Beistand beim Leipziger Kessel der Kontakt mit sich darin befindenden Personen verweigert - und das, obwohl die Polizei bereits um 19:00 Uhr per Durchsage die Betroffenen als Beschuldigte in einem Strafverfahren über ihr Recht, sich anwaltlichen Beistand zu suchen, informierte.
So wurde schon zu Beginn dieses „Leipziger Kessels" einer Kollegin das Gespräch oder auch nur die räumliche Annäherung an im Kessel befindliche Personen - notwendig zur ersten Kontaktaufnahme - verwehrt, obwohl zunächst Rufe nach Beistand zu vernehmen waren. Selbst eine Nachfrage bei den Betroffenen durch Polizeibeamt*innen, ob sie Kontakt mit der anwesenden Anwältin wünschten, wurde durch die Polizei ausgeschlossen.
Weitere Versuche von Kolleg*innen, den Betroffenen Beistand zu leisten, wurden über die folgenden Stunden hinweg trotz Insistierens der Anwält*innen durch die Polizei verhindert. Erst gegen Mitternacht durften einige wenige Kolleg*innen in den abgesperrten Bereich und dort mit einzelnen minderjährigen Betroffenen sprechen. Dass diese, sich bereits seit Stunden im Kessel befindenden Jugendlichen in der Menge der Personen vor Ort durch die Anwält*innen gesucht werden konnten, wurde durch die Polizei vorher ebenso abgelehnt, wie der Vorschlag, dass dann die Beamt*innen die betreffenden Minderjährigen ausfindig machen könnten. Eine "bevorzugte Abarbeitung von Minderjährigen" war hier nicht zu erkennen.
Dazu erklärt Rechtsanwalt Mark Feilitzsch aus Dresden:
»Den etwa 1.000 Menschen im Leipziger Kessel wurde erklärt, dass sie Beschuldigte in einem Strafverfahren seien und das Recht hätten, einen Verteidiger hinzuzuziehen. Tatsächlich hat die Polizei jedoch genau das verhindert. Es ist zunehmend zu beobachten, dass im Zusammenhang mit politischen Protesten die anwaltliche Berufsausübung und damit der Zugang der Betroffenen zu rechtlichen Beistand behindert wird. Wenn – wie nun dieses Wochenende in Leipzig - viele Betroffene von den Nachmittagsstunden bis in den frühen Morgen ohne jeden Zugang zu anwaltlichem Beistand bleiben mussten, ist das mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbaren.«
Aber nicht nur den Rechtsanwält*innen wurde der Zugang zu den Betroffenen verwehrt. Auch den am Polizeikessel erschienenen und nachfragenden Eltern wurden ihre Kinder stundenlang vorenthalten. Selbst bei den anschließenden Maßnahmen der Belehrung der Minderjährigen, der Beschlagnahme von deren Telefonen, Durchsuchung und Identitätsfeststellung wurde den Eltern kein Anwesenheitsrecht eingeräumt. Die durch das stundenlange Festhalten eingeschüchterten und erschöpften Jugendlichen wurden aufgefordert, an polizeilichen Maßnahmen mitzuwirken und z.B. die PIN ihrer beschlagnahmten Telefone herauszugeben.
Dazu erklärt Rechtsanwältin Rita Belter aus Leipzig:
»Das Verhalten der Einsatzbeamt*innen verletzte in willkürlicher Weise die Rechte der Betroffenen und die der Sorgeberechtigten. Nun werden sich die Gerichte mit einer Vielzahl von Erlebnissen und der Feststellung deren Rechtswidrigkeit auseinandersetzen müssen.«
Eine weitere freiheitsentziehende Maßnahme wurde am 03.06.2023 vor dem Amtsgericht Leipzig vollzogen. Dort wurden ca. 20 - 25 Personen plötzlich von Polizeikräften zusammengedrängt und mit der Begründung, anlasslose Identitätsfeststellungen im Kontrollbereich vornehmen zu wollen, über zwei Stunden festgehalten. Die Identitätsfeststellung wurde - obwohl mehrfach angemahnt - erst 90 Minuten nach Kesselung begonnen. Zusätzlich erhielten alle dort Anwesenden einen grundlosen Platzverweis. Betroffen von diesen Maßnahmen war auch eine Rechtsanwältin, die unmittelbar nach der Haftvorführung ihres Mandanten bei dem Verlassen des Leipziger Amtsgerichts von den Polizeibeamt*innen mit in diesen Kessel gedrängt wurde und der ein Platzverweis nicht nur für das Gericht, sondern auch für den Ort ihrer Kanzlei ausgesprochen wurde.
Verschiedentliche Versuche, eine Begründung für die nicht nachvollziehbaren Maßnahmen zu erhalten, scheiterten. Widersprüche wurden nicht aufgenommen.
Auch mit diesem Vorfall werden sich die Gerichte beschäftigen müssen: Die betroffene Kollegin erhebt nun Klage zum Verwaltungsgericht gegen diesen schweren Eingriff in ihre Berufsausübungsfreiheit.
Ebenfalls wurde am darauf folgenden Sonntag jede Versammlung an der Gefangenensammelstelle an der Hauptwache der Polizei in Leipzig mit Verweis auf die Allgemeinverfügung ('Versammlungsverbot') unterbunden. Als am Sonntag wartende Eltern, Angehörige und Freund*innen der (teilweise vorläufig) Festgenommenen an der Dimitroffstrasse auf die Entlassung der Festgenommenen aus dem "Leipziger Kessel" warteten und versuchten, eine Versammlung anzumelden, wurden sie ebenfalls durch die Polizei gekesselt und Identitätsfeststellungsmaßnahmen unterzogen.
Wir fordern die umfassende und lückenlose Aufklärung der offensichtlich rechtswidrigen Repressionsmaßnahmen, die Leipzig am Wochenende des 2. bis 4. Juni 2023 in einen grundrechtsfreien Raum verwandelt haben, sowie die Feststellung der Verantwortlichen für das widerrechtliche Vorgehen.
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Interviewanfragen können über die Geschäftsstelle vermittelt werden:
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