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Covid-19 in der Türkei: Keine Zeit verlieren!
Warum inhaftierte Anwält*innen sofort freigelassen werden müssen

Gemeinsame Pressemitteilung europäischer Jurist*innenvereinigungen, 7.4.20

Die Europäische Vereinigung der Juristinnen und Juristen für Demokratie und Menschenrechte (EJDM) und die Europäischen Demokratischen Anwält*innen (AED-EDL) sind europäische Anwaltsorganisationen mit Mitgliedern in über 20 europäischen Ländern, darunter die Türkei. Beide Organisationen beobachten seit vielen Jahren Gerichtsverfahren in der Türkei, insbesondere die Massenprozesse gegen Anwält*innen ihrer zwei Mitgliedsorganisationen ÇHD (Çağdaş Hukukçular Derneği, Progressive Anwaltsorganisation) und ÖHD (Özgürlükçü Hukukçular Derneği, Anwält*innen für Freiheit). Die Stiftung ›Tag des bedrohten Anwalts‹ hat sich zum Ziel gesetzt, die ungehinderte Ausübung des Anwaltsberufs überall auf der Welt zu fördern, die unter repressiven Regierungen Mandate zur Verteidigung oder Unterstützung von Klienten annehmen, deren Menschenrechte auf dem Spiel stehen.

Derzeit sind sieben Anwält*innen des ÇHD in Haft (Selçuk Kozağaçlı, Behiç Aşçı, Engin Gökoğlu, Aytaç Ünsal, Aycan Çiçek, Barkın Timtik, Oya Aslan, Ebru Timtik); Selçuk Kozağaçlı ist der Präsident des ÇHD, ein Menschenrechtsanwalt, der mehrere Menschenrechtspreise erhalten hat, darunter den Hans-Litten-Preis der ›Vereinigung Demokratischer Jurist*innen‹ (VDJ). Weitere drei Anwält*innen gehören der Anwaltsorganisation ÖHD an, Doğukan Ünlü, Halil İbrahim Vargül, Semra Özbingöl Çelik.

Die weltweite Ausbreitung der Covid-19-Epidemie macht nicht vor den Gefängnistoren halt. Im Gegenteil, die Überfüllung der Gefängnisse erhöht das Risiko der Ausbreitung unter den Gefangenen und dem Personal. Die türkische Regierung hat daher zu Recht beschlossen, fast ein Drittel der mehr als 300.000 Gefangenen aus dem Gefängnis zu entlassen oder unter Hausarrest zu stellen. Von dieser Maßnahme sind jedoch diejenigen ausgeschlossen, die beschuldigt werden, eine terroristische Organisation zu unterstützen, ihr anzugehören oder sie anzuführen. Diese Entscheidung betrifft auch Rechtsanwält*innen, die in Ausübung ihrer beruflichen Pflichten angebliche Terror-Unterstützer vor Gericht vertreten haben.

Die Anwält*innen begannen am 3. Februar 2020 einen Hungerstreik aus Protest gegen die langen Gefängnisstrafen, die gegen sie wegen Terrorismusvorwürfen verhängt wurden. Nach dem 30. Tag des Hungerstreiks wurde dieser durch vier Anwält*innen unterbrochen. Durch die weiteren vier inhaftierten Kolleginnen und Kollegen, alle Mitglieder des ÇHD, wird er fortgesetzt (Ebru Timtik, Barkın Timtik, Oya Aslan, Aytaç Ünsal). Sie fordern ein faires Verfahren und Gerechtigkeit für sich selbst und ihre Mandanten. Alle Anwält*innen wurden bei einer Polizeiaktion im September 2018 verhaftet. Zwei der Anwält*innen haben angekündigt, am 5. April, dem ›Tag der Anwält*innen‹ in der Türkei, mit den Hungerstreik notfalls bis zu ihrem Tod fortzufahren.

Im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie haben Anwält*innen in aller Welt und Menschenrechtsvertreter internationaler Organisationen wiederholt an alle Regierungen appelliert, Gefangenen so weit wie möglich freizulassen.

  • Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte hat die Regierungen und die zuständigen Behörden dringend aufgefordert, sich schnell um eine Verringerung der Zahl der Inhaftierten zu bemühen.
  • 32 türkische Anwaltskammern forderten am 19. März 2020, dass die türkische Regierung geeignete Maßnahmen ergreift, um das Leben der Gefangenen vor der sich ausbreitenden C-19-Epidemie zu schützen und sie freizulassen. Die Anwaltskammern erwähnten ausdrücklich Anwält*innen, die aus politischen Gründen inhaftiert wurden.
  • In der vergangenen Woche folgten mehr als 70 Anwält*innen aus der ganzen Welt dem Aufruf der ›Internationalen Vereinigung Demokratischer Juristen‹ (IVDJ), der beiden europäischen Anwaltsverbände EJDM, AED-EDL und der Haldane Society of Socialist Lawyers (England) zu einer Videokonferenz aus Solidarität mit den aus politischen Gründen in der Türkei inhaftierten Anwält*innen, mit Beiträgen von Ayşe Bingöl vom Turkey Human Rights Litigation Support Project (Türkei), Barbara Spinelli von Giuristi Democratici (Italien) und Şerife Ceren Uysal von der Progressive Lawyers Alliance (ÇHD). Die teilnehmenden Anwält*innen forderten einstimmig die sofortige Freilassung der in der Türkei inhaftierten Anwält*innen.
     

Die türkische Regierung sollte Folgendes berücksichtigen

  • Obwohl die offizielle Zahl der Opfer von Covid-19 in der Türkei immer noch relativ niedrig ist, ist die Türkei das Land mit dem schnellsten Anstieg der Opferzahlen.
  • Das Leben der inhaftierten Anwält*innen, darunter acht Anwält*innen des ÇHD und drei Anwält*innen des ÖHD, ist durch die sich ausbreitende Covid-19-Pandemie und die Haftbedingungen in der Türkei akut bedroht.
  • Durch den Hungerstreik von Ebru Timtik gegen ihre ungerechtfertigte Verurteilung, der bereits seit 90 Tagen (bei 3 von ihnen über 60 Tage) andauert, ist ihr Organismus geschwächt und das Risiko des Todes im Falle einer Infektion deutlich erhöht. Dies gilt auch für die beiden anderen Anwält*innen, die angekündigt haben, ab dem 5. April mit dem Todesfasten zu beginnen.
  • Viele Beobachter der Prozesse gegen die Anwält*innen von ÇHD und ÖHD kamen zu dem Schluss, dass die Vorwürfe jeglicher sachlichen Grundlage entbehren und auf einer falschen Beweiswürdigung beruhen. Sie äußerten ernste Zweifel an der Einhaltung der Regeln der EMRK zu fairen Verfahren und der Unabhängigkeit der Gerichte.
  • Selbst das zuständige türkische Gericht hatte zunächst keine Bedenken, die Angeklagten während des laufenden Verfahrens aus der Haft zu entlassen. Erst nach einem fragwürdigen Richterwechsel wurde die Haft wieder angeordnet. Dies kann keine Rechtfertigung dafür sein, das Leben der Anwält*innen durch die Haft zu gefährden.
  • Die betroffenen Anwält*innen sind noch nicht rechtskräftig verurteilt worden. Alle haben gegen ihre Verurteilung Rechtsmittel eingelegt. Solange das Verfahren läuft, dürfen sie nicht so behandelt werden, als sei ihre Schuld endgültig festgestellt worden.
     

Unter diesen Umständen ist die sofortige Freilassung der inhaftierten Anwält*innen für die Regierung zwingend geboten, wenn sie nicht für schwere Gesundheitsschäden oder gar den Tod der Inhaftierten verantwortlich sein will.

European Association of Lawyers for Democracy and World Human Rights (ELDH),
Thomas Schmidt (lawyer), Secretary General, Platanenstrasse 13, D-40233 Düsseldorf, Germany
Phone : +49 (211) 444 001, Mobile: +49 (172) 6810888, Email: thomas.schmidt@eldh.eu, Web: www.eldh.eu

Day of the Endangered Lawyer Foundation, Hans Gaasbeek, International coordinator,
Nieuwe Gracht 5a, NL-2011 NB Haarlem, The Netherlands
Phone: +31 (023) 531 86 57, Email: hgaasbeek@gaasbeekengaasbeek.nl, Web: http://dayoftheendangeredlawyer.eu/

European Democratic Lawyers Federation (AED-EDL), Robert Sabata Gripekoven,
Col·legiat 20381 ICAB C/ Provença, 332, 3er, 08037 Barcelona, Spain,
Phone/Fax: +34 (93) 457 83 58, Mòbil: +34 (619) 30 43 77, Email: robertsabata@icab.cat, Web: http://www.aeud.org/

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