Besser arbeiten als Anwält*in
Eine Aussteigerin und ein Wiederholungstäter berichten
Anya Lean und Ulrich von Klinggräff im Gespräch mit Lotte Laloire
»Beine wie Blei«, »immer dünneres Fell«, viel Verantwortung, wenig Geld. Rechtsanwält*in zu sein ist anstrengend. RAV-Mitglieder Anya Lean und Ulrich von Klinggräff haben zwei sehr unterschiedliche Wege gewählt, damit umzugehen. Beim Brunch mit InfoBrief-Redakteurin Lotte Laloire haben sie darüber geplaudert. Dabei ging es auch um Visionen für bessere Arbeitsbedingungen und darum, was die linke Szene tun könnte, um ihren Anwält*innen das Leben etwas leichter zu machen.
Lotte: Viele Anwält*innen leiden unter Zeitmangel und Dauerstress. Trotzdem sagte ein Kollege von Euch kürzlich, dass ihn der Beruf manchmal langweile. Wie passt das zusammen?
Anya: Stimmt, wenn man Kolleg*innen fragt, wie es ihnen geht, sagen alle immer: »Ach, viel zu viel alles!« So ging es mir auch. Ich hatte das Gefühl, ich war wie ein Kaninchen, das nur in die Richtung rennt, in die es gerade gescheucht wird. Das war einer der Gründe, warum ich – jedenfalls für eine Weile – nicht mehr als Anwältin arbeiten wollte. Ich habe mich stattdessen entschieden, erst einmal in einem anderen Bereich zu arbeiten, nämlich bei der Antidiskriminierungsstelle des Berliner Senats.
Ulrich: Das kann ich schwer nachvollziehen. Jedes Verfahren ist doch anders, die Mandant*innen, die Vorwürfe. Im Gerichtssaal erwartet einen immer etwas Neues. Man trifft auf Personen, die man nicht kennt, muss erst einmal eine kommunikative Beziehung herstellen, die sich für die Mandant*innen positiv auswirkt. Das finde ich auch nach vielen Jahren als Anwalt immer noch sehr spannend. Ich glaube, man braucht dafür ein ausgeprägtes Interesse an menschlichen Themen.
Lotte: Was macht den Beruf so anstrengend?
Ulrich: Ich finde vor allem diese ständige Verantwortung für andere. Nicht in jedem amtsgerichtlichen Verfahren, aber in Großverfahren, in denen es um Jahre Knast geht. Dabei besteht unser Alltag nicht aus spektakulären Verfahren, die aus den Medien bekannt sind. Oft haben wir zum Beispiel einen Mandanten, der drogenabhängig ist, unter laufender Bewährung steht und nun wieder für 20 Euro etwas bei Karstadt geklaut hat. Da ist dann die Frage: Kippt deswegen die Bewährung? Das wird nicht skandalisiert, das interessiert niemanden. Oft werden gesellschaftliche Probleme völlig unsinnig allein auf dem Feld des Strafrechts abgehandelt. Aber für die Person ist das wahnsinnig dramatisch, weil es um Knast oder nicht Knast geht. Als Anwältin oder Anwalt hat man eine ungeheure Verantwortung für diese Person. Manchmal wird mir das zu viel. Je älter ich werde, desto dünner wird mein Fell, ich werde nicht abgeklärter, ich werde empfindlicher.
Anya: Ja, man gibt sehr viel Energie für einen Menschen. Dabei denke ich, man könnte auf der strukturellen Ebene mehr politische Veränderungen anstoßen und eine ganz andere Reichweite erzielen.
Lotte: Große Gerichtsverfahren können doch auch eine gesellschaftliche Debatte und politische Veränderungen anstoßen. Mandant*innen, die Ihr vertretet, stehen ja oft stellvertretend für eine bestimmte Gruppe, oder?
Anya: Oberste Rechtsprechung kann wichtige Veränderungen anstoßen. Im Asylrecht war es zum Beispiel früher total schwierig für eine Person, die homosexuell ist und in ihrem Herkunftsland dafür verfolgt wird, dies im Asylverfahren geltend zu machen. Inzwischen sind die rechtlichen Rahmenbedingungen viel klarer, wie im Fall eines Schutzgesuchs, wie eine zulässige Prüfung aussehen kann, ohne dass das Recht auf Privat- und Intimsphäre der antragstellenden Person verletzt wird und sie nicht zusätzlich gefährdet wird. Diese Urteile werden von mutigen Kläger*innen und engagierten Anwält*innen erstritten.
Lotte: Ist das Verantwortungsgefühl der Grund, dass Du trotzdem weitermachst, Ulrich?
Ulrich: Ich kann ganz banal sagen: Ich lebe davon. Das hört sich jetzt sehr verknappt an, weil ich den Beruf schon toll finde. Das soll auch gar nicht zu kurz kommen!
Anya: Als ich noch Anwältin war, habe ich immer wieder versucht, mir zu vergegenwärtigen: »Die Verantwortung bleibt bei meinen Mandant*innen. Wir haben eine Geschäftsbeziehung, und ich übernehme nicht die Verantwortung für ihr Leben.« Das musste ich mir immer wieder sagen, wie so ein Mantra. Der Widerspruch ist, dass ich mich einerseits stark abgrenzen musste, um professionelle Distanz zu wahren, die andererseits gut ist für die Fallbearbeitung. Da komme ich als Mensch aber dann nicht mehr so vor. Und das war manchmal gar nicht schön.
Ulrich: [nickt zustimmend].
Lotte: Das klingt nach einer heftigen Gratwanderung: Einerseits braucht man für diesen Beruf ein ausgeprägtes Interesse an Menschen, andererseits muss man sich permanent abgrenzen. Erinnert Ihr Euch denn an einen Fall, bei dem Euch das Abgrenzen besonders schwerfiel?
Anya: Ich hatte Mandant*innen, denen wäre ich als Mensch eigentlich gerne nähergekommen. Aber erstens war dafür gar keine Zeit in meiner engen Taktung, und zweitens hätte mich das auch zu sehr persönlich verstrickt. Das löst in mir ungute Dynamiken aus, zum Beispiel, dass ich dann denke, ich muss noch viel mehr machen, weil ich die so gerne mag. Oder dass ich Schuldgefühle hatte, wenn ich auf eine E-Mail nicht antworten konnte, sodass ich mich dann gar nicht mehr melden wollte. Sowas steht einer guten und professionellen Bearbeitung eines Mandats entgegen.
Ulrich: Deswegen gibt es auch die Grundregel, dass man keine Jura-Studierenden und keine Freunde oder Freundinnen vertritt. Denn da ist die Belastung natürlich viel, viel größer.
Lotte: Habt Ihr das trotzdem mal gemacht in Eurer Laufbahn? Eine kleine Ausnahme?
Ulrich: Ja, am Anfang, als sich ganz klassisch Freund*innen mit einer dummen Verkehrssache an mich gewandt haben. Das würde ich aber heute nicht mehr machen.
Anya:[zieht eine Augenbraue hoch]: Echt nicht?
Ulrich: Nee, Du?
Anya: Als Asyl- und Aufenthaltsrechts-Anwältin hatte ich nicht so viele Freund*innen, die meine Hilfe brauchten. Verkehrsrecht hätte ich aus anderen Gründen nicht gemacht [lacht] – weil ich‘s nicht kann.
Ulrich: Natürlich gibt es Fälle, in denen mir Mandant*innen ans Herz gewachsen sind. Da war zum Beispiel mal ein Linker aus der Türkei, der mich als Mensch sehr beeindruckt hat. Der war so kraftvoll und hat gesprudelt vor politischem Tatendrang! Der wurde innerhalb von drei Tagen zweimal in Abschiebehaft genommen. Glücklicherweise habe ich ihn jeweils wieder rausgekriegt. Aber da hatte ich schlimme schlaflose Nächte, in denen ich mich gefragt habe: »Was tue ich bei der nächsten Vorführung?« Oder: »Ist er, wenn ich morgen aufwache, womöglich schon in der Türkei?« Als er entlassen wurde und wir im Auto saßen, hat er nicht etwa über die schrecklichen Tage im Abschiebegewahrsam erzählt, sondern sofort angefangen, mir zu erklären, warum er X oder Y für einen ganz schlimmen Trotzkisten hält [lacht].
Lotte: Und wie bist Du mit solchen Situationen klargekommen?
Ulrich: Gar nicht. Ich habe irgendwann aufgehört mit Migrationsrecht. Ich habe es nicht mehr ertragen. Ich habe das 15 Jahre lang gemacht – dann ging es einfach nicht mehr.
Anya, Lotte:[seufzen].
Lotte: Wie war das bei Dir, Anya?
Anya: Ähnlich. Besonders Mandant*innen, die mir ein bisschen ähnlich sind, die politisch denken, ein ähnliches Schicksal haben, habe ich mich besonders nah gefühlt.
Ulrich: Gab es Mandant*innen von dir, die zu Freundinnen oder Freunden wurden, Anya?
Anya: Das habe ich nicht zugelassen.
Ulrich: Das ist bei mir genauso. Es gibt da immer eine Distanz, die bleibt einfach.
Anya: Die Rolle der Anwältin nach Beendigung des Mandats abzulegen, finde ich schwierig. Zum Beispiel gibt es eine Familie, die ich vertreten habe. Wir haben ein gutes Ergebnis am Verwaltungsgericht erreicht. Danach haben sie mich zum Essen eingeladen, wollten Kontakt halten. Aber ich habe gemerkt, das passt mir eigentlich nicht so, obwohl ich sie wirklich sehr nett und sympathisch fand.
Ulrich: Also ich finde bei politischen Mandant*innen die Frage schwierig: Was bist du? Bist du Anwalt oder bist du Genosse? Oder beides? Da finde ich es so wahnsinnig wichtig, darauf zu beharren, ich bin in erster Linie Anwalt. Und diese Zuschreibung »Genosse« finde ich in dem Arbeitszusammenhang problematisch. Natürlich bin ich ein politischer Verteidiger und habe da auch meine Art, im Gerichtssaal zu agieren, oft auch mit großer Sympathie für die Anliegen der Mandant*innen. Aber ich finde, wenn sich da die Ebenen verschieben und ich als Teil der Szene angesprochen werde, ist das problematisch, allein schon, weil ich ja für das, was ich tue, bezahlt werde.
Lotte: Wie oft passiert diese Zuschreibung?
Ulrich: Das passiert in politisch aufgeladenen Verfahren häufig. Nicht bei kleineren Widerstand-Verfahren, aber bei allem mit einer größeren öffentlichen Wahrnehmung oder wenn es ein politisches Umfeld gibt. Da wird manchmal mit einer Selbstverständlichkeit erwartet, dass man bis spät abends in irgendwelchen riesen Plena oder sonstigen Runden noch gemeinsam die Prozessstrategie diskutiert. Dinge, die ein bürgerlicher Anwalt nie tun würde, es sei denn, er würde dafür bezahlt. Ich bin ja grundsätzlich zu dieser zusätzlichen Arbeit bereit, aber sie bringt mich manchmal auch an meine Grenzen.
Natürlich liebe ich politische Mandate, aber manchmal bin ich auch froh, wenn ich ganz »normale« Strafverfahren habe, weil sie für mich weniger anstrengend sind. Man wird in den politischen Verfahren ja sehr kritisch beobachtet, teilweise auch sehr misstrauisch. Das hat natürlich eine besondere Anspannung zur Folge.
Wünsche an die linke Szene
Lotte: Was könnten Aktivist*innen denn besser machen, damit die Arbeit für ihre Anwält*innen angenehmer wird?
Ulrich: Ich möchte da nicht generalisieren. Ich finde die Auseinandersetzungen, die in den politischen Verfahren dazu gehören, sehr spannend. Manchmal passen die politische Anspruchshaltung und die Zahlungsbereitschaft nicht ganz zusammen. Das ist zum Glück nicht bei allen so, viele haben auch Verständnis dafür, dass eine solidarische Verteidigung etwas kostet.
Anya: Die Erfahrung habe ich auch im Migrationsrecht gemacht. Dass ich meine Rechnungen dann manchmal auch noch verteidigen musste, hat mich frustriert, gerade wenn es eine Unterstützungs-Gruppe im Hintergrund gab. Aber zum Glück habe ich diese Erfahrung nur sehr selten gemacht. Manchmal war ich auch überfordert von den vielen Fragen aus der Hintergrundgruppe zu einem Fall. Mir war es dann wichtig, dass es eine Ansprechperson gibt, die den Kontakt zu mir hält. Ich denke aber, es ist Aufgabe von Anwält*innen, diesen Rahmen zu setzen.
Ulrich: Ja. Und zum Glück gibt es Anti-Repressionsstrukturen wie die Rote Hilfe oder den Ermittlungsausschuss, die wissen, wie es läuft. Die machen oft eine gute Erstberatung, die organisieren eine Vermittlung an Kolleg*innen und bauen vernünftige Kommunikationsstrukturen auf.
Lotte: Was habt Ihr noch für Wünsche an die linke Szene?
Ulrich: Ich wünsche mir ein größeres Verständnis für die verschiedenen Rollen: Bin ich in einem Verfahren Anwalt oder unterstützender Aktivist? Als Anwalt habe ich allein die Interessen der Mandant*innen zu vertreten und nicht die einer bestimmten Gruppe oder Szene. Wenn diese Interessen auseinanderfallen – und das passiert oft genug – kann es übel werden. In einem meiner Fälle ging es um Vorwürfe wie schwerer Landfriedensbruch, tätlicher Angriff usw. Der Mandant war erheblich vorbelastet, die Beweislage schlecht. Es war klar: Ihm droht eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Es gab eine kräftige Kampagne der Szene, alle waren kämpferisch und forderten »Freiheit für…!« Am Tag vor der Hauptverhandlung hat er sich unter dem extremen Druck der drohenden Strafe entschieden, ein Geständnis abzulegen.
Lotte: Das kam in der Szene sicher nicht gut an.
Ulrich: Genau. Das Umfeld wusste nichts davon, weil das ja unmittelbar vor der Verhandlung entschieden wurde. Als der Mandant das Gericht betreten hat, ist er zunächst vom Publikum gefeiert worden wie ein Popstar, gereckte Fäuste, Sprechchöre usw. Dann hat er sich hingestellt und vor Gericht ein reumütiges Geständnis abgelegt. Den Leuten im Publikum ist natürlich erstmal das Gesicht runtergefallen, es war muchsmäuschen still. Als Anwalt bin ich danach beschimpft worden, »Ihr habt uns verraten!« usw. Dabei hat er nur deswegen noch eine Bewährungsstrafe bekommen. Das war haarscharf.
Anya:[lacht].
Ulrich: Ach ja, das gehört dazu.
Lotte: Die Szene könnte sich auch bei Dir bedanken, dass Du einen von ihnen gerettet hast, der in Freiheit bleibt und so weiter politisch arbeiten kann.
Ulrich: In erster Linie war das für den Mandanten schlimm. Das zeigt einfach: Es kann sehr toll sein, wenn es eine solidarische Begleitung eines Verfahrens gibt. Das kann die Mandant*innen ungemein bestärken und ihnen viel Kraft geben, auch den Knast durchzustehen. Für viele ist es dann ja auch so, dass die Frage, wie hoch sie verurteilt werden, zweitrangig ist, weil sie sagen: Ich möchte vor allem mit geradem Rücken durch das Verfahren gehen. Wenn sie das sagen, ist ja alles super. Aber wenn sie sagen, »Ich will hier nicht den Märtyrer spielen«, dann muss man auch damit einen vernünftigen Umgang finden. Und da kommen mir die Szene-Strukturen zum Teil etwas verhärtet vor.
Anya: Ich kann mir schon vorstellen, dass es nicht leicht ist, wenn du eine Person die ganze Zeit – mit einer bestimmten Vorstellung – unterstützt hast, dass du dann überrascht bist. Aber ich finde wichtig, als Anwält*in Empathie und Verständnis für eine sehr persönliche Entscheidung der angeklagten Person zu zeigen.
Ulrich: Ich kann das auch verstehen, wenn man als Aktivist*in gegen Repression kämpft und dann entschuldigt sich plötzlich einer von meinen Leuten bei der Polizei. Das ist natürlich erst mal schwierig. Aber da muss man eben gucken, in welcher Rolle sich der*die Betroffene gerade befindet. Da sollte die Szene verstehen, was für ein Druck mit der Untersuchungshaft auf den Angeklagten lastet, gerade auch bei jungen Leuten, die nicht hafterfahren sind.
Lotte: Habt Ihr schon mal Mandate abgebrochen wegen zu hoher Ansprüche der Szene, aus emotionalen Gründen oder anderen?
Anya: Nein, ich habe dann versucht, mir Unterstützung zu suchen und die Distanz wiederherzustellen, die ich brauchte, um das Mandat gut zu bearbeiten.
Lotte: Wie genau hast Du das gemacht?
Anya: Wir hatten in der Kanzlei die Möglichkeit, uns gegenseitig kollegial zu beraten. Und eigentlich finde ich auch Fallsupervision mit einer externen Beratung hilfreich, das haben wir auch manchmal in Anspruch genommen.
Lotte: Machst Du das auch, Ulrich?
Ulrich[schüttelt den Kopf]: Supervision haben wir nie gemacht. Aber wir sprechen in der Bürogemeinschaft natürlich auch viel untereinander und versuchen, uns gegenseitig aufzufangen.
Anya: Hast Du dafür keine Zeit?
Ulrich: Ja. Keine Zeit, Termine, Stress. Ich finde übrigens, auch in unseren linken Anwält*innenstrukturen können wir noch besser darin werden, diese Belastungen, die uns alle betreffen, solidarisch aufzufangen. Das Thema brennt doch allen unter den Nägeln. Bei dem RAV-Treffen zu dem Thema in Berlin waren ja so viele Leute wie sonst nie bei einem Regionaltreffen!
Lotte: Wie viele Mandate muss man eigentlich pro Jahr übernehmen, damit es sich trägt?
Ulrich: Wenn du Immobilienrecht machst, reicht eventuell ein Mandat.
Anya, Lotte:[lachen].
Ulrich: Wenn du Aufenthalts- und Asylrecht machst, würde ich sagen 250 in einem Jahr. Oder?
Anya: Ehrlich gesagt haben wir mehr gemacht.
Ulrich: Das ist ja heftig.
Ulrich: Und das in einem Rechtsgebiet, in dem du ganz viel schreiben musst. Die Verfahren ziehen sich oft über Jahre. Da hast du vielleicht eine Duldung für deine Mandantin erreicht, dann läuft die ab und dann geht es wieder los.
Lotte: Was wirft das ab, wenn man 250 Fälle im Jahr macht?
Anya: Also ich verdiene jetzt mehr als damals als Anwältin. Ich gebe mal ein Beispiel: Wenn du im Migrationsrecht mit einer Mandantin Klage gegen einen Bescheid einlegst, die Klage begründest und mit ihr zum Gericht gehst, kriegst du insgesamt etwa 1000 Euro. Das Verfahren zieht sich im Zweifel über vier Jahre. Zwischendurch hat sie noch einige Fragen oder die Lebensumstände verändern sich, dann musst du die Klagebegründung natürlich anpassen. Das ist zu viel Zeit für zu wenig Geld.
Lotte: Das dürfte viele überraschen, die meisten Leute denken ja, Anwält*innen verdienten gut.
Anya: Stimmt. Mit dem Beruf ist ja auch ein hoher gesellschaftlicher Status verbunden. Eine befreundete Anwältin wurde mal gefragt: Wieso hast Du eigentlich kein Auto, Du bist doch Anwältin? [lacht].
Ulrich: Es gibt in diesem Bereich durchaus Kollegen und Kolleginnen, die ordentlich verdienen. Diejenigen, die sich zum Beispiel auf Geschäftsleute konzentrieren. Im Asylrecht, also Verwaltungsrecht, kannst du zwar Prozesskostenhilfe beantragen. Im Strafrecht kriegst du für jeden Verhandlungstag eine Gebühr, im Verwaltungsrecht ist das nur eine Gebühr, egal, ob es zehn Verhandlungstage sind oder nur einer. Das heißt, wenn du dich engagierst und richtig reinhängst, wird das ökonomisch bestraft.
Lotte: Wow.
Ulrich[nach einer längeren Pause]: Im Strafrecht sind die Gebühren etwas höher. Die Pflichtverteidigergebühren sind aber auch nicht gut, insbesondere, wenn du ein Büro mit Angestellten zu finanzieren hast. Das ist schwierig.
Lotte: Welche Unterschiede seht Ihr noch zwischen den Arbeitsbedingungen im Migrations- und im Strafrecht?
Ulrich: Nach meiner Erfahrung ist der Umgang unter Kolleg*innen im Migrationsrecht solidarischer.
Lotte: Hat das Mackertum im Strafrecht etwas mit dem Geschlecht der Anwält*innen zu tun?
Ulrich: Ja, auch. Das hängt stark mit dem Bild von Strafverteidiger*innen zusammen. Einige von ihnen haben ja sowas wie einen Lonely-Fighter-Status und so gebärden sie sich zum Teil auch. Da spielen Eitelkeiten eine große Rolle. Das sind natürlich überwiegend die Männer. Es hat aber auch mit der Ausgestaltung des Berufes zu tun, zum Beispiel, dass man ständig im Gerichtssaal vor einem Publikum spricht. Da steht man wie auf einer Bühne. Es geht auf jeden Fall sehr viel darum, wie man sich in der Öffentlichkeit präsentiert.
Unser Verhalten spiegelt oft auch wider, was die Mandant*innen an uns herantragen. Wir sprechen hier zwar viel über die linke Szene, aber das ist ja nicht unser täglich Brot. Selbst ich, der als Szene-Anwalt wahrgenommen wird, habe nur zu 20-25 Prozent politische Verfahren. Viele meiner Mandant*innen kommen aus krachend patriarchalen Strukturen. Und erwarten dann auch von mir so ein Mackergehabe.
Anya: Und die Konkurrenz im Strafrecht ist höher als im Migrationsrecht.
Lotte: Gibt es zu wenig Kriminelle?
Anya: Das Verhältnis von Angebot und Nachfrage ist auf jeden Fall anders als im Migrationsrecht.
Visionen für bessere Arbeit
Lotte: Was könnte denn im RAV und unter linken Anwält*innen noch getan werden, um gemeinsam dafür zu sorgen, dass die Arbeit einfacher wird?
Anya: Ich fordere eine Vier-Tage-Woche für Anwält*innen.
Ulrich[lacht]: Vier? Ein Traum! Ich bin ja schon froh, wenn ich jedes zweite Wochenende mal frei habe. Wichtig ist eine solidarische Vernetzung. Der Kongress, den wir 2023 in Leipzig organisiert haben, hat dazu beigetragen, die Vereinzelung etwas aufzuheben. Dazu möchte ich beim nächsten Kongress 2025 auch noch mehr machen.
Anya: Und vielleicht auf einer noch kleineren Ebene: Als ich mit dem Beruf angefangen habe, wurde ich erst mal Einzelanwältin.
Ulrich: Warst Du nicht gleich in einem Büro mit anderen Kolleg*innen?
Anya: Doch, aber wir waren wirtschaftlich einzeln verantwortlich. Das habe ich ein paar Jahre gemacht und dann habe ich mit anderen Kolleg*innen eine Sozietät gegründet. Das war eine richtig gute Entscheidung. Wir haben gemeinsam gewirtschaftet und uns bedarfsorientiert ausgezahlt. Und wir haben alle das gleiche Rechtsgebiet gemacht und Mandate teilweise gemeinsam oder abwechselnd bearbeitet. So konnten wir unsere Produktivität und die Qualität unserer Arbeit steigern, ohne uns noch mehr verausgaben zu müssen.
Lotte: Hat dann nicht jede*r noch mehr Verfahren an der Backe?
Anya: Nein, aber meine Kollegin konnte zum Beispiel unkompliziert meinen Gerichtstermin oder Anhörungstermin beim Bundesamt übernehmen, wenn ich krank war. Oder es konnten Kolleg*innen für strategisch besonders wichtige Verfahren, zum Beispiel eine Verfassungsbeschwerde, zeitweise von anderen Aufgaben freigestellt werden. Wir hatten hierfür in jeder Akte einen Vermerk zum aktuellen Stand. Diese Einbindung in eine Struktur hat mich emotional unglaublich erleichtert.
Ulrich: Das finde ich super.
Anya: Ein anderes Modell ist, in einer gemeinsam wirtschaftenden Sozietät unterschiedliche Rechtsgebiete abzudecken und Rechtsgebiete quer zu finanzieren, in denen es schwer ist, kostendeckend gute Arbeit zu machen.
Ulrich: Bei uns ist es so, dass wir alle den gleichen Bürobeitrag zahlen, obwohl wir unterschiedlich viel Arbeit für die Zentrale produzieren. Die entstehenden Kosten werden aber von allen Anwält*innen gemeinsam getragen. Das sind immerhin so kleine solidarische Strukturen.
Lotte: Wie gut hat das mit der Austauschbarkeit denn bei Euch geklappt, Anya?
Anya: So ganz haben wir das nicht geschafft. Wir hätten eine Person zum Beispiel gerne für 2 Wochen freigestellt, dann haben wir aber gemerkt, die andere Person kann Gerichtstermin X oder Y aus Zeitgründen gar nicht übernehmen oder die Klagebegründung schreiben. Dann hat die Freistellung nur für 2 Tage geklappt. Letztendlich waren unsere Kapazitäten zu gering, um diese Träume umzusetzen.
Lotte: War das der Grund, dass Du aufgehört hast, als Anwältin zu arbeiten?
Anya: Ich habe einfach gemerkt, als ich morgens mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren bin, dass meine Beine schwer wie Blei sind. Irgendwas in meinem Körper wollte nicht. Es hat mir zu wenig Freude bereitet. Und dann wurde mir klar: Ich brauche eine Veränderung. Und ich hatte auch Lust, mich in einem anderen beruflichen Kontext auszuprobieren. Es wäre super, wenn Anwält*innen zwischendurch mal ein Sabbatical machen könnten.
Lotte: Geht das nicht?
Ulrich: Die meisten von uns sind ja selbstständig. Da kannst du nicht einfach mal ein Jahr lang abhauen, du trägst ja finanzielle Verantwortung, hast Büroräume, Angestellte. Dadurch hängst du ganz schnell in einer ökonomischen Mühle. Das war bei mir auch so. Ich habe die ersten drei bis vier Jahre rote Zahlen geschrieben und bis vor zehn Jahren eigentlich immer Schulden gehabt.
Anya: Ich hatte, wie so viele von uns, direkt nach dem Referendariat mit der Arbeit als Anwältin begonnen. Da kam einfach der Berufseinstieg mit der Gründung der Selbständigkeit zusammen. Für mich war das nicht die beste Entscheidung. Ich hätte mich lieber noch drei, vier Jahre ausprobieren sollen, bevor ich eine Selbstständigkeit beginne.
Lotte: Und war es die richtige Entscheidung, dass Du die Tätigkeit als Anwältin vorerst an den Nagel gehängt hast, Anya?
Anya: Ja. Ich finde es komisch, das ganze Berufsleben das Gleiche zu tun. Ich habe auch Freundinnen, die Arbeitnehmerinnen sind, bei denen ist es total üblich, nach ein paar Jahren irgendwas anderes zu machen. Und ich wollte auch mehr von meinen Kindern haben.
Ulrich: Als meine Kinder klein waren, hätte ich mir auch mehr Zeit gewünscht. Ich saß immer bis zur letzten Minute im Büro, die Uhr hat getickt, gleich macht der Kinderladen zu, dann steckt man im Verkehr, denkt »Oh Gott, ich komme zu spät«, die Erzieherin wartet nur auf dich. So gehetzt durch den Alltag zu gehen, das fand ich wirklich schlimm!
Lotte: Ulrich, Du machst trotzdem immer weiter. Ist Anwalt für Dich der tollste Beruf der Welt?
Ulrich: Der Beruf als Migrationsrechtsanwalt definitiv nicht, da sind die Belastungen groß und die rechtlichen Vorgaben oft mies. Ich bewundere die Kolleg*innen, die diese wichtige Arbeit trotzdem machen, sehr. Aber den Beruf des Strafverteidigers finde ich mit Einschränkungen schon gut. Ich finde es immer noch spannend, so nah an politischen Auseinandersetzungen zu sein. Ein Kollege von mir hatte an seiner Bürotür mal stehen »Anwalt der Arbeiterklasse«. Das ist etwas aus der Mode gekommen, aber darum geht es doch!
Lotte: Ihr Lieben, herzlichen Dank für diese interessanten Einblicke!
Ulrich von Klinggräff war früher Buchhändler. Seit 1996 arbeitet er als Strafverteidiger. Er lebt in Berlin, ist RAV-Mitglied und engagiert sich unter anderem in der Redaktion des InfoBriefs.
Anya Lean war früher Anwältin für Migrationsrecht. Seit 2023 arbeitet sie bei der Antidiskriminierungsstelle des Berliner Senats. Sie ist Mitglied des RAV und aktiv in der Redaktion des InfoBriefs.
Das Gespräch führte Lotte Laloire. Sie ist als Pressereferentin beim RAV angestellt und arbeitet als freie Journalistin in Berlin.